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Unterrichtsreihe zum Thema "Sterbehilfe" Die neue alte Unerträglichkeit menschlichen Lebens aus: K. Dörner, a.a.O., S. 76-79
Einem Drittel der dann noch industriell brauchbaren Volksgemeinschaft werden
zwei Drittel Gemeinschaftsfremde gegenüberstehen. Da alle
pädagogischen Maßnahmen ausgeschöpft sein werden und da,
anders als früher, auch während der NS-Zeit, das Arbeiten als
Beein flussungsmittel ausscheidet, da die Betroffenen im Arbeitsprozeß
nur stören würden, bleibt eigentlich nur übrig, die so
aufgeblähte soziale Frage wie schon früher, zu medizinisieren, zur
Medizinischen Frage zu machen, und das hieß immer schon, zur Frage auf
Leben und Tod. Ist es dann noch verwunderlich, wenn heute zur
Weichenstellung, zur Vorbereitung auf die Lösung dieser kommenden
Probleme, ähnlich wie 1890 und wie in der NS-Zeit, wieder die Ethik des
Rechts auf den eigenen Tod federführend wird? Müssen wir dann
nicht schon zur Selbsterhaltung, zum Überleben von uns Tüchtigen,
wieder den Pannwitz-Blick in uns aktivieren und schärfer unterscheiden,
von welchen der gedachten konzentrischen Kreise des Gesellschafts-Tellers an
menschliches Leben lebensunwert wird? Und wenn ja, dann brauchen wir
hierfür neue Kriterien, die besser an unsere heutigen
gesellschaftlichen Erwartungen angepaßt sind, daher auch eher von uns
Tätern wie auch von den Opfern geglaubt werden können. Zwar gilt
das eher grobe, äußerliche Kriterium der industriellen
Brauchbarkeit immer noch. Auch das etwas feinere Unterscheidungsmerkmal der
bürgerlichen Wohlanständigkeit und Anpassungsfähigkeit ist,
vor allem als Kommunikationsfähigkeit weiterentwickelt, in Kraft. Da
wir aber unsere Wirklichkeit aus immer noch rätselhaften Gründen
seit dem 19. Jahrhundert fortlaufend verinnerlichen und psycho-logisieren ,
geht heute eine Denkfigur besonders gut unter die Haut und kann sogar noch
von den Opfern als Zeichen der Solidarität erlebt werden, die wir aus
dem auch schon älteren Motiv des Mitleids mit den Opfern
weiterentwickelt haben. Dabei kommt auch der Denkzusammenhang zwischen den
beiden Indikationsparagraphen des NS-Sterbehilfegesetzes wieder zum Zuge:
wir stellen uns vor, vor allem wenn wir uns gut, sozial, gesund und
glücklich finden, daß ein schlechter, unsozialer, kranker und
unglücklicher Zustand schon für uns, aber mehr noch für
Andere, die ohnehin schon objektiv in einem der randständigeren
Bereiche des Gesellschafts-Tellers angesiedelt sind und daher nicht so gut
für sich selbst sprechen können, irgendwann eine Grenze erreicht,
jenseits derer menschliches Leben unerträglich und daher lebensunwert
wird, wo daher der Tod als letzte Stufe des Rechtes auf Selbstbestimmung nur
noch als Erlösung und Befreiung begrüßt werden kann. Das
Maß des Leidens und der zu erduldenden Schmerzen, nicht ohne Schuld
des Fortschrittsoptimismus der Mediziner ohnehin nicht mehr zum Wesen des
Menschen, schon gar nicht des Menschen der Zukunft gerechnet, markiert die
Grenze zur Unerträglichkeit des Lebens, die Menschen von Dingen
unterscheidet. Das qualvolle Vegetieren an den Schläuchen von
Intensivstationen gibt heute ein noch suggestiveres Bild dafür als das
qualvolle Vegetieren der geistig Toten in den Anstalten, da wir vermuten,
daß ersteres uns schneller als letzteres passieren kann. Die
Medienwirksamkeit solcher Bilder von der neuen Unerträglichkeit
menschlichen Lebens, abgeleitet vom moralisch hoch bewerteten Mitleid mit
der leidenden Kreatur ist groß - von der Boulevardpresse bis zu den
seriösen links-liberalen Zeitungen. Nach Umfragen sollen 80% der
Bevölkerung für eine so begründete aktive Sterbehilfe sein
zur Rettung des abendländischen Wertes der Würde des Menschen
durch einen würdevollen Tod. Unsere Bevölkerungsmehrheit kann sich
damit aber auch auf eine Entschließung des deutschen Juristentages von
1986 stützen: "Es empfiehlt sich, bei der Tötung auf Verlangen
gesetzlich die Möglichkeit vorzusehen, daß das Gericht von Strafe
absehen kann, wenn die Tötung zur Beendigung eines unerträglichen
Leidenszustandes vorgenommen worden ist." Damit soll mir auch das Risiko der
Selbsttötung abgenommen werden: auch mein Sterben in einer für
mich unerträglichen Situation ist nicht mehr meine Sache, kann mein
Arzt für mich besorgen. Während noch der NS-Reichsjustizminister
sich dagegen wehrte, daß der Justiz das Monopol des Tötens aus
der Hand genommen werden sollte, sind die Mehrheit der Bevölkerung und
auch der Juristen heute für die vereinfachende Lösung, zu der die
NS-Verantwortlichen sich im "Gemein-schaftsfremdengesetz" schließlich
durchgerungen haben, daß nicht nur in objektiv unheilbaren, sondern
schon in subjektiv unerträglichen Leidenszuständen das Töten
als administrative Maßnahme, als Geschäft der laufenden
Verwaltung, durch den Arzt erlaubt sein solle. Und es sind auch heute gerade
die fortschrittlich-liberalen Juristen, die diese Erlaubnis den
konservativ-r ückständigen Kräften, wie etwa der
Bundesärztekammer abringen wollen. Mit der Suggestion zumindest des
Anspruchs der Leidensfreiheit im gesellschaftlichen Tellerzentrum haben wir
Täter-B ürger das Leiden und damit die Unerträglichkeit
menschlichen Lebens in die Randgruppen des Tellerrandes verdrängt, also
dorthin, wo die Menschen ohnehin immer kreatürlicher und dinglicher
werden, und ziehen die Konsequenzen des Mitleids daraus. Auf die Frage:
"Tötung auf wessen Verlangen?" lautet die Antwort: "auf Verlangen der
meinungsbildenden Mehrheiten in unserer Gesellschaft." Der
Bevölkerungswissenschaftler H.W. Jürgens hat daher auch 1985
gemeint, man müsse die Sozialethik so verändern, daß
"Selbstmord aus Verantwortung" möglich wird, gewissermaßen als
Beitrag des Einzelnen zur Kostendämpfung im Sozial- und
Gesundheitswesen. Offenbar bedarf es aber hierzu keines großen
Aufwandes mehr, da eine solche Erwartunghaltung in der Bevölkerung sich
ohnehin ausbreitet. Da unter den genannten Voraussetzungen die
überflüssigsten Kosten in den Heimen entstehen, wäre es da
für uns nicht logisch und ethisch verantwortlich, in die Heime zu gehen
und die dort lebenden Alten, Kranken, Behinderten und Sterbenden zu
vergiften? Hier ist die größte Wahrscheinlichkeit, daß
Menschen auch mal längerfristig verzweifelt sind und ihr Leben
unerträglich finden. Sie würden es doch wollen und tun, wenn sie
nur hinreichend bewußtseinsklar und handlungsfähig wären.
Wie sich in den letzten Jahren schon gezeigt hat, ist dies Verfahren aber
auch im Sinne der Hauspflege als Betreuung im Einzelfall anzuwenden. Die
ambulanten Laienhelfer der "Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben"
und andere Aktivisten wie Hackethal, die die buchstäbliche Speerspitze
für das fortschrittlich-liberale Recht auf Selbstbestimmung gerade im
Tode heute schon bilden, müssen freilich nicht auf die gesetzliche
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens durch aktive Sterbehilfe
warten: die erlaubte Beihilfe zum ebenso erlaubten Suizid dürfte in den
meisten Fällen ausreichen, da der gesellschaftliche Erwartungsdruck
inzwischen hinreichend groß geworden ist. Das haben die letzten
Prozesse gezeigt. Wenn freilich in der letzten Zeit auch solche Verfahren
sich vermehren, in denen Pfleger oder Krankenschwestern alte, kranke oder
behinderte Menschen in Heimen oder Krankenhäusern von ihrem
unerträglichen Leiden erlöst haben, dann sind sie allerdings mit
einer größeren Wahrscheinlichkeit strafrechtlich verurteilt
worden. Denn einmal muß der Unterschied zwischen Ärzten und
Hilfspersonal gewahrt bleiben. Und zum anderen ist das Prinzip der Betreuung
des Einzelfalles streng zu respektieren, wie dies auch die
NS-Ver-antwortlichen , von der Abarbeitung des Überhangs an industriell
Unbrauchbaren abgesehen, im Prinzip gefordert haben. Daß
unabhängig von der Ethik der Sterbehilfe oder Euthanasie im Einzelfall
unsere Gesellschaft bei der gegebenen Entwicklung gezwungen ist, die Sozial-
bzw. Gesundheitskosten nach Möglichkeit auf das eine Drittel der
industriell Brauchbaren zu konzentrieren, diese Kosten für den sozialen
Ballast zu den Randgruppen des gesellschaftlichen Tellerrandes hin aber
auszudünnen, versteht sich. Dennoch ist es nicht ungünstig,
daß der Himmel oder die Natur ein Einsehen hatten und uns ausgerechnet
zum jetzigen Zeitpunkt unserer gesellschaftlichen Entwicklung die Krankheit
Aids geschickt haben: kommen doch hier die Soziale und die Medizinische
Frage, die Fragen der Kosten und der Unheilbarkeit sowie die Frage unserer
Toleranzgrenzen gegenüber Homosexuellen und Drogenabhängigen,
schließlich auch die Frage nach dem Recht, ein Leben unerträglich
und sinnlos zu finden, und damit nach dem Recht auf einen würdigen Tod,
komprimiert auf wenige Menschen so erschütternd und fundamental
zusammen, daß damit auch dem Letzten klar werden muß, daß
trotz aller Bemühungen jede Solidargemeinschaft irgendwo ihr Ende
findet. |