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Unterrichtsreihe zum Thema "Sterbehilfe"


Interview mit Hans Jonas

Kurzinfo zu Hans Jonas

Teil 1

aus: H. Jonas, Dem bösen Ende näher, Frankfurt 1993, S. 71ff.

MERKEL Ich meine, wir müssen auch die Konsequenzen bedenken, die wir uns in bestimmten Fällen damit einhandeln, daß wir sagen: Sterbenlassen, ja; Töten, nein. Sie haben das Stichwort Dehydration - Austrocknung - gebraucht. Es gibt Fälle schwerstleidender und schwerstbehinderter Neugeborener, bei denen die Ärzte wissen, daß es keine Überlebenschancen gibt. Aber es mag eine gewisse Möglichkeit der Lebensverlängerung um Tage, Wochen, manchmal Monate bestehen, wenn man schwere Operationen durchführt. Dann wird in solchen Fällen - wenn beispielsweise das Kind zudem keinen Darmausgang hat - die Operation unterlassen, und man läßt das Kind sterben, hier dann eben durch Verhungern. Nun sagen manche, unter anderem auch Singer: "Das ist ein grausamer Tod. Ihr haltet euch fern von dem tabuisierten Bereich der aktiven Tötung; dafür gibt es gute Gründe. Aber ihr Ärzte müßt dann sehen, daß für die Reinhaltung dieses Tabus ein grausamer Preis gezahlt werden muß - wenn auch Gott sei Dank nur in Extremfällen. Doch nicht ihr zahlt ihn, sondern das leidende, sterbende Neugeborene." Zugespitzt: Würden Sie sagen, dieser Preis muß in Kauf genommen werden, damit nicht das gefährliche Terrain der erlaubten aktiven Tötung eröffnet wird?

JONAS Ja, meine Antwort ist: ja. Dieser Preis muß in Kauf genommen werden. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber eine auf Mitleid allein gegründete Ethik ist etwas sehr Fragwürdiges. Denn was da an Konsequenzen drinsteckt für die menschliche Einstellung zum Akt des Tötens, zum Mittel des Tötens als eines routinemäßig zu Gebote stehenden Weges, gewisse Notlagen zu beenden, was sich da auftut für eine, um es mal ganz scharf zu sagen, progressive und kumulative Gewöhnung an den Gedanken und die Praxis des Tötens, das ist unabsehbar. Da steht so viel auf dem Spiel, daß das Leiden. des Säuglings dagegen nicht aufkommt.

Man darf sich nicht vom Gesichtspunkt einer Mitleidsethik bestimmen lassen, sondern nur von der Verantwortung für die Folgen, die aus unserer Einstellung resultieren, aus unserer Bereitschaft, unserer Willigkeit zu erwägen, hier und da das Mittel des Tötens zu gebrauchen. Damit soll man und darf man gar nicht anfangen. Das ist meine Einstellung, aber ich habe Verständnis dafür, wenn jemand anders entscheidet.

MERKEL In der juristischen Diskussion wird das gern als das Dammbruch-Argument bezeichnet. Es könnte aber in der Situation eines strikten und ausnahmslosen Verbotes der aktiven Tötung einerseits und einer Legalisierung des Sterbenlassens andererseits einen anderen bedenklichen Gewöhnungseffekt geben, nämlich den Abstumpfungseffekt gegenüber dem Leiden. Halten Sie es für möglich, daß das häufige Zusehenmüssen, wie jemand qualvoll stirbt, einen Gewöhnungseffekt der Erbarmungslosigkeit mit sich bringt, der ebenfalls gefährlich sein könnte?

JONAS Eigentlich spricht die Erfahrung dagegen. Was Sie sagen, klingt ganz plausibel, es könnte so sein. Die allgemeine Erfahrung spricht dagegen. Nicht einmal in den Schlachten des Ersten Weltkrieges war das so: Die Zahl der Opfer war ja ungeheuer groß, und die Kameraden mußten immer wieder sehen, wie andere zerfetzt wurden. Trotzdem ist mir weder aus den Erinnerungen von Soldaten noch aus der Literatur bekannt, daß das zur Abstumpfung geführt hätte. Es ist schon möglich, natürlich, aber die Unempfindlichkeit gegenüber menschlichem Leiden entsteht gewöhnlich nicht aus dem Anblick, sondern aus dem Gar-nicht-Hinschauen. Sowohl das Töten wie das Sterbenlassen haben ihre finstere Seite. Was ist hier das schlimmere, was ist das geringere Übel? Ich würde sagen, die Zumutung eines über eine Woche oder länger sich hinziehenden Todes ist immer noch besser, als mit der Praxis zu beginnen, neugeborene Kinder einfach umzubringen. Das Ganze ist ja ein schreckliches Unglück, es fragt sich nur, was die allgemeine Dimension der Sittlichkeit gebietet, was man unbedingt vermeiden soll und was man noch hinnehmen kann.

Teil 2

aus: Hans Jonas, Dem bösen Ende näher, Frankfurt 1993, S. 74ff.

MERKEL Sie haben gesagt, Herr Jonas, man müßte sich in bestimmten Fällen auch die Frage stellen.- Wieviel dürfen wir dem Neugeborenen auferlegen, wozu dürfen wir es verurteilen? Damit kommen wir in die Nähe dessen, was mit einem schwer vorbelasteten Begriff als "lebensunwert" bezeichnet wird. Zwei Fragen dazu: Können wir die zugrundeliegende sachliche Überlegung: Ist dieses Leben noch irgendwie wünschbar - und zwar für den, der es leben muß - überhaupt vermeiden? Und die zweite Frage: Sollten wir dann nicht wenigstens das schwer desavouierte Wort "lebensunwert" vermeiden?

JONAS Die Vokabel. ja, die muß man wahrscheinlich vermeiden, weil sie eine rationale und abwägende Diskussion beinahe unmöglich macht. Wenn ich die Frage stelle: Wieviel dürfen wir auferlegen, bis zu welchem Grade ein Wesen zum Leben zwingen, wenn es dazu verdammt ist, ein total verkümmertes Leben zu führen, das es sich nie gewählt hätte, dann kommt natürlich der Begriff des "nicht lebenswert" hinein, aber für wen, "nicht lebenswert" für wen? Der Begriff ist belastet, erstens durch seine Vorgeschichte und zweitens durch seine Zweideutigkeit. Sie haben in Ihrem Dossier, glaube ich, auch das Buch von Hoche und Binding, "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", erwähnt und das, was dann später die Nazis daraus gemacht haben. Aber schon bei Hoche und Binding war ein Grundirrtum im Gebrauch dieses Begriffes, denn der Gesichtspunkt, unter dem Wert oder Unwert gemessen wurde, war, wenn ich nicht irre, der der Gesellschaft. Auch wenn die Gesellschaft nicht Rasse genannt wird oder Volksgemeinschaft oder ähnlich, so ist eben doch nicht das Subjekt selber im Mittelpunkt, sondern etwas anderes. Es kann auch der der Staat sein: "Der König braucht Soldaten!" Aber bei "lebensunwert" kann und darf nur gemeint sein: nicht wert zu leben für dieses Wesen selber. Die Gesichtspunkte, es koste soviel, es zu erhalten, und so große Anstrengungen seien nötig, und für welche besseren Sachen könnte man das Geld ausgeben... - sie dürfen keine Rolle spielen.

MERKEL Mich überzeugt das vollständig, was Sie da sagen. Nun wird aber oft folgendes eingewendet: Ob das bevorstehende, nach allen unseren Kriterien grauenvolle Leben des Neugeborenen für dieses Wesen selbst ein noch wünschbares oder nicht mehr wünschbares Leben ist, das können wir niemals wissen. Gibt es denn für Sie Fälle, wo die Frage trotzdem von außen beantwortbar ist, obwohl man sich im strikten Sinne nie in ein anderes Wesen versetzen kann?

JONAS Ja, aber eben auch wieder nur für Extremfälle. Bei dem in dieser Debatte erwähnten Beispiel des Säuglings, der unaufhörlich schreit, ist doch wohl klar, daß dieses Schreien ein Protest gegen die Qualen ist, die er erleidet. Das ist ein klarer Fall. Aber wir haben es ja nicht nur mit solchen Extremfällen zu tun. Sobald sich eugenische Gesichtspunkte einmischen, wird die Sache überaus gefährlich. Man stelle sich vor, man kann durch pränatale Diagnose feststellen, daß das Kind Epileptiker sein wird. Epilepsie ist ein Unglück für das Geschöpf selber und auch für die Umwelt. Machten wir dies zum Kriterium für Abtreibung oder Infantizid, hätten wir keinen Dostojewski gehabt. Das Glück zum Maßstab zu machen ist überhaupt ein sehr bedenklicher Weg - denken Sie daran, was Buber mir über Kafka sagte. Ich habe mich gegen die aktive Tötung ausgesprochen. Ich würde auch sagen, daß man das Sterbenlassen ebenfalls sehr sorgfältig einhegen muß und es nicht dazu ausarten lassen darf, daß schließlich die Wünsche der Eltern, welche Sorte Kind sie haben wollen, mitsprechen. Da gibt es ein Beispiel bei Singer: Eine Mutter ist Trägerin des Gens der Hämophilie, es vererbt sich nur durch den männlichen Nachwuchs. Das Elternpaar hat ein Kind ohne Hämophilie, ein Mädchen. Nun kommt ein Junge zur Welt, und jetzt kommt die Überlegung von Singer: Da die Eltern entschlossen sind, nicht mehr als zwei Kinder zu haben, würde das Lebenlassen dieses Bluterkindes die Möglichkeit ausschließen - die rein statistisch sehr gut ist -, daß das nächste Mal, wenn die Mutter wieder schwanger wird, ein Kind ohne Hämophilie zur Welt kommt.

Also ist im Sinne des Interesses aller Beteiligten, das Bluterkind umzubringen, damit die Frau es von neuem versucht. Singer merkt nicht einmal, daß ein schon vorhandenes Leben natürlich einem erst eventuell möglichen vorgeht. Dies sind unsinnige und leichtfertige Überlegungen, Singer nennt das Präferenz - Utilitarismus, das ist Unsinn. Denn das Recht des schon lebenden Kindes ist natürlich unveräußerlich.

Teil 3

aus: Hans Jonas, Dem bösen Ende näher, Frankfurt 1993, S. 77ff.

MERKEL Singer sagt, daß das Neugeborene an sich kein eigenes Recht habe, denn er bindet das Recht auf Leben nicht an die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, sondern an Personenkriterien. Was Singer aber nach meiner Überzeugung falsch sieht, ist, daß auch eine potentielle menschliche Person, also etwa ein Säugling, ein eigenes, nicht bloß abgeleitetes Recht auf Leben haben muß. Was meinen Sie dazu?

JONAS Sie haben ja die Antwort gegeben. Das Kind ist uns doch anvertraut als etwas, was sich zur Personhaftigkeit unter unserer Obhut entwickeln soll. Ihre Einführung der Potentialität beantwortet die ganze Frage. Selbstverständlich ist das Neugeborene noch keine Person, aber es hat schon alle Anlagen und den Drang dazu. Wenn man beobachet, wie sich das bei Kindern entwickelt, das ist doch das Aufregendste und Großartigste, was man überhaupt sehen kann: daß das Kind wirklich nach den Möglichkeiten des Spracherwerbs greift. Ein ungeheuerlicher Prozeß, was da zwischen erstem und zweitem Lebensjahr vor sich geht, die Syntax wird gemeistert, man stelle sich das vor, in einem so jungen Gehirn! Die Diskussion dieser Frage in Begriffen von Recht scheint mir überhaupt verfehlt zu sein. Wir sorgen für das Neugeborene nicht, weil es Rechtsansprüche an uns hat, sondern weil es ein Existenzrecht hat, das wir achten müssen. Selbstverständlich ist es auch schon ein Rechtssubjekt (zum Beispiel in Erbschaftssachen), das eine Vertretung braucht, solange es sich selber noch nicht vertreten kann. Aber was da allem vorangeht, ist zunächst ein ganz einseitiges Verhältnis der Verantwortung gegenüber einem werdenden Menschen, es ist vor allem Verantwortung und nicht die Respektierung seines Rechtes - die kommt später. Was zuerst da ist, ist etwas viel Elementareres und Fundamentaleres: die wirkliche Sorge um ein uns anvertrautes Leben. Es ist uns als Pflicht auferlegt, leicht gemacht durch die Liebe. Ein Rechtsfall wird es bei gröblicher Mißachtung dieser Pflicht: Dann muß "das Gesetz" zum Schutze des Kindeswohles einschreiten. Dieser Schutz - um noch einmal zur Euthanasie-Frage zurückzukehren -- schließt auch das gesetzliche Verbot der Tötung ein, und dabei sollte es bleiben - trotz der quälenden, humanitär drängenden Grenzfälle. Öffentliches Recht und die viel persönlichere Sittlichkeit können nie zu vollkommener Deckung gebracht werden. Zuletzt und im Äußersten werden wir auf die einsamen Entscheidungen der Liebe zurückgeworfen, die selbst dem Gesetz zu trotzen wagt, aber hoffen darf, daß auch das verletzte Recht so gnädig urteilt, wie es der Bestand der Rechtsordnung erlaubt. Mit diesem ungelösten und unauflöslichen Rest in der Euthanasie-Frage - dem Verzicht also auf eine eindeutig regelnde ethische Antwort - müssen wir uns, so glaube ich, in Demut abfinden.

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