Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
www.wernerschell.de
Aktuelles
Forum (Beiträge ab 2021)
Archiviertes Forum
Rechtsalmanach
Pflege
Patientenrecht
Sozialmedizin - Telemedizin
Publikationen
Links
Datenschutz
Impressum
Pro Pflege-Selbsthilfenetzwerk
>> Aktivitäten im Überblick! <<
|
Behandlung mit Neuroleptika: Im Rahmen einer Betreuung muß die
Erforderlichkeit und Verhältnismässigkeit der Therapie sorgfältig bedacht werden
Schell, Werner:
Betreuungsrecht & Unterbringungsrecht
Das Recht der volljährigen Personen mit einer psychischen Krankheit oder einer
körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung
208 Seiten. 3. Auflage 1999, ISBN 3-89495-128-1. 28,00 DM.
Brigitte Kunz Verlag, Postfach 2147, 58021 Hagen.
|
Das Landgericht
(LG) Berlin hat sich in einem Beschluß vom 5.11.1992 (Az.: 83 T 423 u. 426/92) mit der
Genehmigungspflicht der Behandlung mit Neuroleptika im Rahmen einer Betreuung befaßt
(Beschluß abgedruckt in BtPRAX 93,66).
Das Verfahren vor dem LG Berlin betraf einen an einer schweren wahnhaften Erkrankung
leidenden Mann, der aufgrund von psychotischen Schüben mit akut fremd- und
selbstgefährdenden Handlungen wiederholt kurzfristig zur stationären Behandlung
untergebracht werden mußte. Sein Betreuer beantragte darüber hinaus die Genehmigung des
Vormundschaftsgerichts (VormG) zur zwangsweisen Behandlung mit Arzneimitteln
"Glianimon", "Atosil" und "Neurocil". Diese Behandlung wurde
zunächst durch das zuständige VormG genehmigt.
Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das LG Berlin für begründet erachtet. Auf der
Grundlage eines neurologisch-psychiatrischen Fachgutachtens stand für das LG fest, daß
der Betroffene nicht fähig ist, eine Einwilligung in die Behandlung selbst wirksam zu
erteilen oder zu verweigern.
Ferner handele es sich bei der von der Nervenklinik vorgeschlagenen Behandlung auch um
eine genehmigungsbedürftige Maßnahme im Sinne von § 1904 Satz 1 Bürgerliches
Gesetzbuch (BGB), weil durch die Behandlung mit diesen hochpotenten Arzneimitteln die
begründete Gefahr bestehe, daß der Betroffene einen schweren oder länger dauernden
gesundheitlichen Schaden erleide. Maßgeblich für diese Einschätzung war die Erkenntnis,
daß eine Reihe von Nebenwirkungen zwar in der Regel reversibel bzw. durch
Zusatzmedikamente vermeidbar, jedoch auch der Eintritt von Dauerfolgen wie einem
sogenannten Parkinsonoid sowie Spätdyskinesien (Bewegungsunruhen) in häufig
irreversibler Form möglich sind. Da in etwa 8 bis 10% der Fälle mit derartigen mehr oder
weniger dauernd bleibenden Schäden zu rechnen ist, bestand nach Auffassung des LG Berlin
die begründete Gefahr eines schweren gesundheitlichen Schadens im Sinne des § 1904 Satz
1 BGB. Die von den Sachverständigen beschriebenen Auswirkungen würden den Betreuten
nicht nur in seiner Lebensführung erheblich beeinträchtigen, sondern ihn auch in seinem
Lebensumfeld und in der Öffentlichkeit zu einer auffälligen Person machen, deren
besondere Lage Neugier, Distanz oder sogar Abwehr hervorrufen könnte. Die beschriebenen
Nebenwirkungen der beabsichtigten Behandlung sind nach Auffassung des LG Berlin so
schwerwiegend, daß sie auch durch den angestrebten Behandlungserfolg nicht mehr
aufgewogen werden können. Die für einen solchen gerichtlichen Eingriff in die Rechte
eines Betreuten maßgebenden Kriterien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit
seien damit durch eine Genehmigung der beantragten Medikation nicht mehr gewahrt. Nach dem
Sachverständigengutachten stehe nämlich fest, daß eine durchgreifende Verbesserung des
Gesundheitszustandes oder gar eine Heilung des Betroffenen dadurch nicht erwartet werden
könne, sondern allenfalls sedierende Wirkung und eine affektive Dämpfung. Für diese
Annahme sprächen auch die Erfahrungen mit den anläßlich früherer Unterbringungen des
Betreuten vorgenommenen intensiven Pharmakotherapien, die stets ergebnislos verlaufen
seien. Die Hoffnung der behandelnden Ärzte, seine Wahnvorstellungen jetzt durch die Gabe
neuroleptischer Arzneimittel korrigieren zu können, sei damit wenig realistisch. Da die
Behandlung dem Betroffenen somit keinerlei gesundheitliche Vorteile bringe, sondern ihn
lediglich dem Risiko dauerhafter Spätfolgen aussetze, entspreche sie nicht seinem Wohl
und könne nicht nach § 1904 Satz 1 BGB genehmigt werden, weil sie im Ergebnis nur die
vom Betroffenen möglicherweise ausgehenden Gefährdungen vermindern solle.
Gleichzeitig hob das LG Berlin die vom VormG erteilte Genehmigung der
bürgerlich-rechtlichen Unterbringung auf, da keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich
waren, daß sich der Betroffene selbst erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügen
würde (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Eine Unterbringung zur Heilbehandlung nach § 1906 Abs.
1 Nr. 2 BGB komme nur in Betracht, wenn die Möglichkeit eines Erfolgs der Heilbehandlung
bestehe. Stehe jedoch fest, daß ein Erfolg nicht zu erzielen sei, dürfe der Betroffene
nicht freiheitsentziehend untergebracht werden. Auch das zur Genehmigung der Unterbringung
durch den Betreuer vorgelegte Gutachten habe hauptsächlich auf die fremdgefährdenden
Handlungen des Betroffenen abgestellt und erwähne die Möglichkeiten einer Heilbehandlung
nicht. Nach den zur voraussichtlichen Erfolglosigkeit der Heilbehandlung getroffenen
Feststellungen sei eine Unterbringung nach § 1906 BGB nicht gerechtfertigt; bei erneuten
Auffälligkeiten des Betreuten in der Zukunft müßte ggf. eine Unterbringung nach dem
PsychKG wegen Fremdgefährdung beantragt werden.
Werner Schell (06/99)
|