Alexander Frey
Rechtsanwalt
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Bundesministerin für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend
Frau Christine Bergmann
Rochusstr. 8-10
53123 Bonn
München, den 22. Juli 1999
Missstände in Pflegeheimen in der Bundesrepublik Deutschland
Sehr geehrte Frau Ministerin,
bundesweit und im Ausland wird in den Medien immer wieder davon berichtet,
daß pflegebedürftige Bewohner in Heimen in der BRD nicht genug Essen und Getränke
erhalten. Anstatt den Bewohnern Hilfestellung beim Essen und Trinken zu geben, werden sie
künstlich ernährt. Obwohl Heimbewohner mit Hilfe auf die Toilette gehen könnten, werden
Blasenkatheder gesetzt oder Windeln angelegt. Der Mangel an Zeit für das Pflegepersonal
beim Waschen und Drehen der bettlägerigen Bewohner führt zu offenen Wunden und dies zu
Einweisungen in Krankenhäuser. Statt Zuwendung werden Beruhigungsmittel gegeben,
Fixierungen sind an der Tagesordnung. Bewohner kommen oft monatelang nicht an die frische
Luft, Mehrbettzimmer sind die Regel. Laut einer Untersuchung der Landeshauptstadt München
leiden 36 % der Bewohner in Pflegeheimen an Austrocknung. 380.000 freiheitsentziehende
Maßnahmen täglich müssen nach einer Untersuchung von Prof. Thomas Klie
pflegebedürftige Bewohner in der Bundesrepublik Deutschland erleiden (siehe zu den
Mißständen auch die Anlage).
Bei einer Untersuchung über den Gesundheitszustand des Pflegepersonals durch die
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) wurde eine Zunahme
von Kreuz-, Kopf- und Muskelschmerzen, ein Ansteigen der Klagen über Schweregefühl in
den Armen und Beinen, ein vermehrtes Auftreten von Schlafstörungen, Müdigkeit,
depressiven Symptomen, sowie einer Erhöhung der Zahl der gemeldeten Hautkrankheiten
festgestellt.
Die zunehmende Arbeitsbelastung hinterläßt bei Pflegenden das Gefühl, ihren Aufgaben
gegenüber den alten Menschen nicht mehr gerecht zu werden. Mehr als 82 % der Absolventen
von Altenpflegeschulen geben den Beruf innerhalb von 5 Jahren wieder auf. Zwischen 1997
und 1998 ist der Personalstand in den Pflegeheimen zurückgegangen, obwohl gleichzeitig
der Betreuungs- und Pflegebedarf gewachsen ist.
Diese Situation macht Pflegebedürftige wie Pflegende gleichermaßen unzufrieden.
Um auf diesen Zustand aufmerksam zu machen und um Abhilfe zu schaffen, haben sich folgende
Gruppierungen in der Initiative "Aktion gegen Gewalt in der Pflege" (AGP)
zusammengetan: Der Sozialverband Reichsbund e.V., das Kuratorium Deutsche Altershilfe, der
Deutsche Berufsverband für Altenpflege e.V., die Initiative "Handeln statt
Mißhandeln", sowie der Arbeitskreis gegen Menschenrechtsverletzungen, als dessen
Sprecher ich mich an Sie wende. Vielfach haben wir auf die Missstände und die Fälle von
Gewalt gegenüber pflegebedürftigen Menschen in den Altenheimen hingewiesen.
In einer Reihe von Städten und Gemeinden in der BRD haben sich weitere Organisationen aus
dem Bereich des Sozial- und Wohlfahrtswesens, Politiker verschiedener Parteien und
Angehörige von Heimbewohnern zusammengefunden, um gegen die Missstände vorzugehen.
Als Ergebnis wurden unter anderem unabhängige Beschwerdestellen eingerichtet oder
zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt (z.B. in München Mittel i.H.v. 3 Mio. DM aus
der Stadtkasse für das Jahr 1999).
Es hat sich jedoch gezeigt, daß die getroffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um
längerfristig für die bundesweit ca. 500.000 Pflegebedürftigen in Heimen eine
menschenwürdige Pflege zu sichern.
Es ist notwendig, daß eine grundsätzliche Reform des Heimgesetzes und des
Pflegeversicherungsgesetzes erfolgt.
Folgende Änderungen der gesetzlichen Bestimmungen sind unabdingbar:
1. Es ist eine Grundlage zu schaffen, nach der
sichergestellt wird, daß die Gelder der Pflegeversicherung, der selbstzahlenden
Heimbewohner und der öffentlichen Hand auch tatsächlich für die Pflege der Heimbewohner
ausgegeben werden. Gewinne und Rücklagen müssen offengelegt werden.
Der Bayerische Oberste Rechnungshof hat in seinem Jahresbericht 1998
festgestellt, daß Einrichtungen in Bayern zum Teil zwischen 100.000 und 600.000DM Gewinn
machten, sich auf ihren Konten Millionenbeträge befinden und dennoch eine Förderung für
bauliche Maßnahmen in Höhe von 200.000 bis 300.000 DM jährlich verlangt wurde.
Es ist unerträglich, daß sich einzelne Heimbetreiber auf Kosten der Heimbewohner
mit öffentlichen Mitteln bereichern können.
Das 12. Hauptgutachten der Monopol-Kommission der Bundesregierung mit dem Titel
"Marktöffnung umfassend verwirklichen" stellt fest, daß die Stellung der
Wohlfahrtspflege im sozialen Versorgungssystem als "staatlich unterstützte
Kartellbildung" anzusehen ist. Es ist demnach zu überprüfen, inwieweit öffentliche
Mittel den Wohlfahrtsverbänden zur Verfügung gestellt werden können, ohne die
Verwendung zu überprüfen.
Weiter ist zu klären, ob durch den Einsatz von öffentlichen Mitteln nicht europäisches
Kartellrecht, das eine einseitige Bevorzugung von Verbänden gegenüber privaten
Betreibern ablehnt, verletzt ist.
Schließlich muß im einzelnen klargestellt werden, unter welchen finanziellen
Voraussetzungen ein Pflegeheim eröffnet werden darf.
2. Es muß festgelegt werden, daß in
Pflegeeinrichtungen pro 25 pflegebedürftige Bewohner in der Frühschicht mindestens 4, in
der Spätschicht mindestens 3 und in der Nachtschicht mindestens zwei Pflegepersonen
arbeiten.
In jeder Schicht muß mindestens eine Fachkraft anwesend sein.
Es hat sich gezeigt, daß die Zahl der angestellten Pfleger allein kein sicheres Zeichen
für eine menschenwürdige Pflege ist. Zusätzlich muß eine Festlegung erfolgen, wieviele
Pfleger pro Schicht mindestens auf einer Station anwesend sein müssen.
Nur mit dieser Auflage ist sichergestellt, daß in allen Einrichtungen die Voraussetzungen
zur Einhaltung bestimmter Mindeststandards an Pflege gegeben sind. Dies bedeutet, daß die
pflegebedürftigen Bewohner mit Hilfestellung des Personals genug Essen und Trinken
bekommen, auf die Toilette geführt werden, jeden Tag - wenn sie dies wollen - geduscht
werden, mit Hilfestellung an die frische Luft kommen. Nur so hat das Personal die Zeit,
Dokumentationen über die geleistete Pflege und andere Maßnahmen ordnungsgemäß zu
führen, kann die Pflege fachlich kompetent nach den allgemein anerkannten
pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen durchgeführt werden.
Im übrigen muß den Bewohnern von Heimen auf Wunsch ein Einzelzimmer zur Verfügung
gestellt werden.
3. Es sind Pflegestandards festzulegen, die die
notwendigen und abrufbaren Leistungen in Heimen konkret und verbindlich regeln
(Pflegemindeststandards).
Können diese Standards auf Grund von unvorhersehbaren krankheitsbedingten Ausfällen beim
Personal nicht eingehalten werden, sind, z.B. durch ambulante Dienste, aushilfsweise der
Personalstand und somit die Pflegemindeststandards zu sichern.
Im Heimgesetz muß festgelegt sein, daß jeder Heimbewohner gegenüber dem Heimträger das
Recht hat, die Heimkosten zu mindern, wenn gesetzliche Leistungspflichten
(Pflegemindeststandards) oder Leistungen, die im Vertrag zwischen Heim und Bewohner
vereinbart sind, nicht erfüllt werden. Zusätzlich müssen Vertragsstrafen,
Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche festgesetzt werden.
4. Der durchschnittliche Pflegeschlüssel muß
mindestens 1: 1,6 betragen. So wird rechnerisch für jeden einzelnen Bewohner eine Pflege
von täglich durchschnittlich 2 ½ Stunden erreicht.
Dieser Pflegeschlüssel bedeutet, daß 10 Pflegekräfte für 16 pflegebedürftige Bewohner
angestellt sind. Die Pfleger arbeiten allerdings nicht alle zur gleichen Zeit, da 3
Schichten pro Tag an 365 Tagen im Jahr mit diesen 16 Pflegern zu besetzen sind.
Zusätzlich gibt es einen Ausfall von Pflegekräften durch Urlaub, Krankheit, Fortbildung
usw..
Es ist unerträglich, daß einerseits der Medizinische Dienst der Pflegeversicherungen
aufgrund eines Kataloges minutiös die erforderliche Pflege ermittelt (z.B. für die
Pflegestufe II mindestens 180 Minuten Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung
täglich), andererseits in den Pflegeheimen derzeit nicht einmal die Hälfte dieser Zeit
durchschnittlich pro Bewohner geleistet werden kann.
5. Die Fachkraftquote von 60 % (Anteil von
ausgebildeten Alten- und Krankenpflegern am gesamten Pflegepersonal) muß möglichst
schnell von allen Pflegeeinrichtungen umgesetzt werden.
Auf Pflegestationen, in denen der Pflegeaufwand überdurchschnittlich hoch ist, z.B. durch
die Aufnahme von Komapatienten oder überwiegende Belegung mit Pflegebedürftigen der
Pflegestufe III, ist eine deutlich höhere Fachkraftquote und ein Pflegeschlüssel mit
mehr Personal notwendig.
Bei der Berechnung der Fachkraftquote darf nur Personal mit einer 3-jährigen
Ausbildung im Kranken- und Pflegebereich berücksichtigt werden, das zudem auch
tatsächlich im Pflegebereich arbeitet (nicht in der Verwaltung).
Ausländische Mitarbeiter, die ohne deutsche Sprachkenntnisse sind, sind für demenzkranke
oder psychisch kranke Bewohner in besonderem Maße verwirrend. Vor deren Einsatz hat
daher eine Schulung stattzufinden, damit sie die Grundlagen der deutschen Sprache
beherrschen.
Für Heimleiter sind bundesweit Aus- und Weiterbildungsstandards festzulegen.
Möglichst schnell ist die Ausbildung bundesweit zu vereinheitlichen.
6. In einer Änderung des Heimgesetzes und des
Pflegeversicherungsgesetzes muß festgesetzt werden, in welchen Zeitabständen die Heime
von der Heimaufsicht und dem Medizinischen Dienst mindestens kontrolliert werden müssen
(unangemeldet, auch nachts).
Es muß zudem festgelegt werden, welche Qualifikation die Kontrolleure haben sollen
(gerontopsychiatrische, pflegerische, sozialpädagogische oder betriebswirtschaftliche
Qualifikation).
Es hat sich gezeigt, daß Aufsichtsbehörden - insbesondere Heimaufsicht,
Medizinischer Dienst, Gesundheitsbehörden, Gewerbeaufsichtsamt und Sozialhilfeträger -
bei der Aufdeckung und Beseitigung von Mißständen in Heimen bisher kläglich versagen.
Die Heimaufsicht muß verpflichtet werden, mit den Bewohnern und deren Angehörigen
einerseits und mit dem Pflegepersonal und der Heimleitung andererseits, jeweils gesondert
zu sprechen, um sich über die tatsächliche Situation im Pflegeheim kundig zu machen. Auf
Wunsch müssen Aussagen vertraulich behandelt werden.
Die Heimaufsicht und andere Aufsichtsbehörden müssen das Recht haben,
Pflegedokumentationen, Unterlagen über den tatsächlichen Personalstand und Bilanzen
einsehen und überprüfen zu dürfen.
Datenschutzrechtliche Probleme sind abzuklären.
Der Heimaufsicht muß ein im einzelnen festgelegtes Instrument an die Hand
gegeben werden, um den Heimträger zur Beseitigung von Mißständen zwingen zu können:
Neben einem Aufnahmestop für neue Bewohner, der Schließung einzelner Stationen, der
Verhängung von Geldstrafen, muß als letztes Mittel auch die Schließung einer
Einrichtung möglich sein. Die Größe der Einrichtung darf hierbei keine Rolle spielen.
Erfüllt die Heimaufsicht ihre Pflichten nicht, muß ein
Amtshaftungsanspruch des Heimbewohners und seiner Angehörigen festgelegt werden.
Es müssen bundesweit örtliche Beschwerdestellen in Städten und
Gemeinden geschaffen werden. Ihre Rechte gegenüber den Heimen sind zu regeln.
In einer Änderung des Heimgesetzes muß das Personal verpflichtet
werden, herrschende Missstände in Einrichtungen der Heimaufsicht zu melden. Das Personal
muß berechtigt sein, Missstände öffentlich zu machen.
Es muß klargestellt sein, daß sich der Datenschutz nur auf den
Schutz einzelner Heimbewohner und deren Daten bezieht, nicht aber auf im Heim herrschende
Missstände.
Die Aufgaben der verschiedenen Kontrollorgane müssen klar definiert und
aufeinander abgestimmt werden.
Die Erfahrungen der Kontrollorgane müssen in Kommissionen, die sich regelmäßig treffen,
ausgetauscht werden.
7. Der Gesetzgeber muß festlegen, daß Hausverbote in Heimen
grundsätzlich ausgeschlossen sind.
Der Heimträger oder ein Dritter (z.B. der Betreuer eines pflegebedürftigen Bewohners)
dürfen Hausverbote nur aussprechen, wenn nachgewiesen werden kann, daß dadurch eine
konkrete Gefährdung des Heimbewohners eintritt.
Derzeit werden Angehörige von pflegebedürftigen Bewohnern, Freunde, Bekannte, sowie
Vertreter von Interessensverbänden nicht selten mit einem Hausverbot belegt, wenn sie
Kritik an den Zuständen in einer Einrichtung üben. Eine staatliche Regelung und
Kontrolle wird aber auch künftig menschenunwürdige Pflegezustände allein nicht
verhindern. Dies kann nur durch die Eigeninitiative der pflegebedürftigen Bewohner selbst
- deren Rechte in der Reform konkretisiert werden müssen - sowie durch die Unterstützung
der Angehörige, Freunde und Bekannte, die vor Ort sind, geschehen.
Die Verbesserung der Situation in den Pflegeheimen in der Bundesrepublik Deutschland
hängt insgesamt von einer effektiven Kontrolle über die zweckbestimmte Verwendung der
aufgebrachten Mittel und einer Aufstockung des Pflegepersonals ab.
Bei den entstehenden Mehrkosten ist zu berücksichtigen, daß die neu einge-stellten
Pflegekräfte Beiträge an die Sozialversicherung entrichten und Steuern bezahlen.
Gleichzeitig werden durch die Neueinstellungen Sozialversicherungen und Sozialhilfeträger
durch den Wegfall von Arbeitslosigkeit und damit ver-bundenen Leistungen entlastet. Zudem
kann eine verbesserte Situation in den Pflegeheimen den Krankenstand des Pflegepersonals
verringern helfen und damit verbundene Kosten senken.
Nach einer Verbesserung der Rahmenbedingungen können Einlieferungen von
pflegebedürftigen Bewohnern in Krankenhäuser auf Grund von Pflegefehlern (Austrocknung,
offene Wunden) fast immer verhindert werden und damit verbundene erhebliche Mehrkosten
reduziert werden. Rehabilitative Maßnahmen, z.B. Krankengymnastik und
Gedächtnisübungen, könnten zudem teure Grundpflege verringern helfen und den
Betroffenen mehr Lebensqualität geben.
Sehr geehrte Frau Ministerin !
Die Bevölkerung ist empört, daß die Mißhandlung von pflegebedürftigen
Be-wohnern, trotz hoher Kosten für einen Platz in einer Einrichtung und Einzahlungen in
die Pflegekasse, in fast allen Heimen üblich ist.
Ich darf Sie dringend bitten, durch eine fundierte Reform des Heimgesetzes
schnellstens für Abhilfe zu sorgen.
Eine Kopie dieses Schreibens habe ich zur Information an Abgeordnete,
Ver-treter verschiedener Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen, sowie Journalisten, die an
dem Thema interessiert sind, übersandt.
Mit freundlichen Grüßen
gezeichnet
Alexander Frey
Rechtsanwalt,
Sprecher des Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen
Werner Schell (07/99)
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