Klaus Samer: Pflege muss sich neu besinnen
Der Irrglaube ist ,der Glaube dass die Einführung der Pflegewissenschaft
in Deutschland auf seiten der Pflege zu mehr Entscheidungsvollmacht in pflegerischen
Belangen führt, dies ist definitiv nicht so!
Ein Satz bestimmt nach wie vor den Alltag in der Pflege: "Diagnose und Therapie ist Sache des Arztes"; dies betrifft im Zweifel sämtliche Arten pflegerisch
durchgeführter Anwendungen am Patienten, von der Behandlung des Decubitalgeschwürs über die Prophylaxen bis hin zur Mobilisation von Patienten.
Die möglicherweise durch die Pflegeforschung gestiegene fachliche Kompetenz der Pflegenden gaukelt dem Pflegenden das Recht auf eigene unanfechtbare Entscheidungen nur
vor. Nach wie vor hat alles, was Pflegende aufgrund eigener Kompetenz an Therapie vorschlagen oder anregen, ausschließlich Vorschlagscharakter. Der Arzt kann sich daran
halten, er muß es aber nicht!
Solange es keine eindeutig vom Gesetzgeber geregelte definitiv unanfechtbare pflegerische Entscheidungsfelder gibt, auf denen die Ärzte definitiv nichts zu suchen und zu
entscheiden haben, kann jede pflegerische Entscheidung durch ärztliche Anordnung, egal ob letztere sinnvoll ist oder nicht, gekippt werden.
Als die Pflege sich in Deutschland für ihre Verwissenschaftlichung
entschied, hat sie sich nicht nur auf einen richtigen Weg begeben, sie hat auch in der einseitigen Ausrichtung auf ausschließlich althergebrachte pflegerische Tätigkeiten ein
falsches Signal für die Zukunft des Pflegeberufes gesetzt, indem sie die Zukunft des Berufes auf Basis der jetzt verwissenschaftlichten Vergangenheit definierte und damit zu
zementieren droht!
Wo liegt der Fehler?
Der Fehler ist, daß die durch Berufsverbände repräsentierte Pflege als Gegenstand ihrer berufspolititschen und bildungspolitischen Bemühungen einzig und allein das aufgenommen
hat, was ihr der Satz "Diagnose und Therapie sind Arztsache" freundlicherweise übriggelassen hat, nämlich die Untersuchungen darüber, ob Alkoholeinreibungen sinnvoll
sind oder nicht, oder ob Stecklaken Druckgeschwüre verursachen oder nicht.
Ich möchte an dieser Stelle nicht mißverstanden werden, diese Dinge sind nicht unwichtig. Aber die alleinige Konzentration auf solche Fragen hat nicht nur fatale Folgen
für unser Berufsverständnis, sie greift auch zu kurz.
Wenn wir uns selbst auf die "Erforschung" der o. g. Sachverhalte beschränken, so ist das nichts anderes als die Fortsetzung des überholten alten Selbst- und
Fremverständnisses unseres Berufes, im etwas neueren Gewand. Dies führt zu einer Zementierung des Gewesenen und nicht zu einer Ausrichtung auf die Zukunft.
Was ist die sinnvolle Alternative?
1. Der Gesetzgeber muß dazu gezwungen werden, der Pflege einen klar definierten eigenen Handlungsbereich einzuräumen, in dem definitiv keine andere Berufsgruppe hineinzureden
hat.
2. Der Gesetzgeber muß den Pflegenden die Kompetenzen für "Diagnose und Therapie" in einzelnen Bereichen eindeutig zusprechen und zwar ohne Abstriche, bei
entsprechender fachlicher Qualifikation.
3. Die Pflege muß ihre Selbstbeschränkung aufgeben und endlich akzeptieren, daß sie ein medizinischer Beruf ist. Medizinische Qualifikation und die Befähigung auch zur
medikamentösen Therapie müssen neben dem Erreichen der pflegerischen Kompetenz gleichwertiges Ziel einer reformierten Krankenpflegeausbildung werden. Dies muß auch
erklärtes Ziel der Berufsverbände sein!
4. Die Struktur der Pflege im Gesundheitssystem muß radikal geändert werden. Es muß eine hierarchische Gliederung in der Pflege eingeführt werden, die sich am
Ausbildungsstand der Pflegenden orientiert und die Durchstiegsmöglichkeiten von unten nach oben bietet. Hierzu gehört ein Dreistufensystem:
- Personal mit geringer medizinischer Qualifikation für Routinearbeiten auf Station.
- Personal mit dreijähriger Ausbildung und Weisungsbefugnis gegenüber den unter
Geringerqualifizierten.
- Studierte Krankenpfleger/-schwestern mit umfassenden medizinischen Kenntnissen
(amerikanische Ausbildung) und Entscheidungsmöglichkeiten in sämtlichen medizinischen
Bereichen einschließlich medikamentöser Therapie.
Das muß begleitet werden mit einer eindeutigen unwideruflichen Kompetenzverlagerung von
Teilen ärztlicher Kompetenz und Tätigkeit in den pflegerischen Bereich. Die
Handlungskompetenz muß gesetzgeberisch zugunsten der entsprechend qualifizierten
Pflegekräfte auf Kosten des medizinischen Dienstes verschoben werden, klar definiert und
eindeutig.
Dieses Modell hätte mehrere klare Vorteile.
1. Die Ärzte würden entlastet von Tätigkeiten, die die Pflege aufgrund ihrer neu
erworbenen Qualifikation und des intensiven Patientenkontaktes sowie ihrer Erfahrung
besser und kompetenter ausüben kann.
2. Das Pflegepersonal hätte endlich eindeutige Entscheidungskompetenzen, in die niemand
eingreifen kann und damit ein hohes Maß an beruflicher Zufriedenheit.
3. Die Kosten des Gesundheitssystems ließen sich reduzieren, da nicht jede Tätigkeit von
zum Teil überqualifiziertem Personal ausgeübt würde ,was nicht nur teuer und
ineffizient ist, sondern auch zur Verschwendung menschlicher Ressourcen und Frustrationen
führt.
Es muß auch ein Vorschlagswesen eingeführt werden, was es jedem ermöglicht,
Verbesserungsvorschläge einzubringen und davon auch finanziell zu profitieren.
Ein positives Vorgesetztenwesen muß eingeführt werden, dazu gehört die Überarbeitung
des öffentlichen Dienstrechtes inklusive leistungsgerechter Bezahlung und der Vergabe von
Leitungsfunktionen auf Zeit.
Die Mitarbeiter der Kliniken müssen die Möglichkeit der Einflußnahme auf Entscheidungen
der Pflegedirektionen haben und Ihre Erfahrungen einbringen können.
Das ganze bedingt ein radikales Umdenken, und der Wille zum Abschied vom alten Bild der
Pflege ist notwendig und zwar ohne wenn und aber.
Vieles davon ist nicht neu, aber ich vermisse den klaren Willen, Berufspolitik auch gegen
politische Widerstände durchzusetzen. Die Pflege muß Ihre Interessen genauso effizient
wahrnehmen wie die Ärzteschaft. Wer nur das nimmt was übrigbleibt wird nie etwas anderes
bekommen!
Solange die Pflege sich darauf beschränkt vierseitige Anleitungen zur subkutanen
Injektion zu verfassen, einschließlich der Anweisung, dafür Sorge zu tragen, daß das
Fenster im Patientenzimmer geschlossen werden muß, solange wird sie auch weiterhin sich
selbst ad absurdum führen und ein Schattendasein in der Abhängigkeit der Ärzteschaft
führen.
Der Autor: Klaus Samer, Krankenpfleger auf der Intensivstation für Kardio- und Thoraxchirugie des Klinikum Wuppertal GmbH, Im Funkloch 34, 42119 Wuppertal.
Der Beitrag wurde entnommen der Zeitschrift "Die Schwester/Der Pfleger", Heft 10/99 (mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion).
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