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Unterrichtsreihe zum Thema "Sterbehilfe" Medizinisierung der sozialen Frage aus: K. Dörner, a.a.O., S. 28-31 Diese Verschärfung der Sozialen Frage, die ja nicht nur akzeptiert, sondern als Fortschritt der Emanzipation und der Wissenschaft wahrgenommen wurde, bedurfte aber nicht nur einer formalen, sondern auch einer inhaltlichen Voraussetzung. Damit ist der Wandel des vorherrschenden Umgangsstils mit den Menschengruppen der Sozialen Frage gemeint. Dieser war zu Beginn der Industrialisierung, noch stark der Tradition der ursprünglichen Aufklärung verhaftet, überwiegend ein pädagogischer. Nach dem Anspruch der Aufklärung war jeder Mensch, waren alle Menschen gleichermaßen mit Vernunft begabt, so sehr der äußere Schein hinsichtlich der Leistungsfähigkeit und der bürgerlichen Wohlanständigkeit auch dagegen sprechen mochte. In einem solchen Fall war die Kunst des Pädagogen gefragt, durch geeignete erzieherische Maßnahmen dem Betroffenen zum Gebrauch der ihm eigenen Vernunft zu verhelfen, wobei dies im Zeitalter der Industrialisierung durchaus auch die industrielle Vernunft sein konnte. Der Maßnahmenkatalog konnte von philanthropischer Überzeugungsarbeit über - in heutigen Begriffen - verhaltenstherapeutischen Konzepten bis zur terroristischen Unterwerfung der fehlgeleiteten Sinne und Leidenschaften reichen. In jedem Fall war es ein pädagogisches Vorgehen, womit auch anfangs noch die Philosophen einverstanden sein konnten, etwa wenn das Konzept in England als "moralmanagement" oder in Frankreich als "traitement moral" bezeichnet wurde. Das änderte sich in dem Maße, wie die Medizin zunehmend beanspruchte, die besseren Antworten auf die Soziale Frage zu wissen. Dies wäre nicht besonders folgenschwer gewesen, wenn es noch die Medizin des 18. Jahrhunderts gewesen wäre, die für alle Zustände körperliche, psychische und soziale Ursachen gleichermaßen für möglich gehalten hatte und die ihrerseits auch noch weitgehend in die gesellschaftlich verallgemeinernde Philosophie eingebunden war. Es war aber die Medizin des 19. Jahrhunderts, die eindrucksvoll demonstrieren konnte, daß sie ihren expansiven Siegeszug wissenschaftlicher Fortschritte der Befreiung von dem unnützen philosophischen Ballast und der zunehmenden Beschränkung auf das Paradigma Newtons, also der physikalischen und chemischen Kausalität verdankte. Der Faszination konnte sich kaum jemand entziehen, daß es den Medizinern gelang, immer zahlreichere Regelwidrigkeiten des Menschen und des menschlichen Organismus auf körperliche Ursachen beweisbar zurückführen zu können. Nur so ist es zu verstehen, daß anläßlich der deutschen Revolution von 1848 eine der wenigen revolutionären Forderungen, die auch durchgesetzt wurden, darin bestand, daß die liberalen Mediziner die Ersetzung des Philosophikums durch das Physikum in der medizinischen Ausbildung erreichten. Wenn schon die (wenn auch sich selbst einengende) Medizin diejenige Wissenschaft im 19. Jahrhundert wurde, die die sensationellsten wissenschaftlichen Fortschritte und damit das größte gesellschaftliche Prestige aufzuweisen hatte, warum sollte sie dann auch nicht diejenige Wissenschaft sein, die die Soziale Frage lösen, die Endlösung der Sozialen Frage bewirken könnte? Gegenüber dem liebevoll pflegenden, endlos geduldigen Denkmodell des die Pflanze zur Entfaltung bringenden Gärtners der Pädagogik war das mit schneidenden, vergiftenden und diätetischen Maßnahmen operierende Denkmodell der Medizin, der straffen Reduktion von Wirkungen auf eine Ursache verpflichtet, vermutlich schneller, kostengünstiger und damit effektiver. Entscheidend für den Kampf um die wissenschaftliche Vorherrschaft hinsichtlich der Sozialen Frage war wieder einmal der Bereich der Psychiatrie, was nicht verwundert, da man bei den psychisch Kranken am plausibelsten sowohl psychische als auch soziale als auch körperliche Ursachen unterstellen kann. Kant hatte noch die Irren, weil bei ihnen sich das Problem der menschlichen Freiheit stelle, für die Philosophie und damit für die Pädagogik reklamiert. Letztlich hat er den Kampf verloren. Spätestens um 1860 mochte kaum noch jemand Griesingers Schlachtruf zu widersprechen: "Geisteskrankheiten sind Gehirnkankheiten". Geradezu unschlagbar wurde das medizinische Denkmodell, als es auch noch das aus Biologie übernommene Erklärungsmuster der Erblichkeit in sein Waffenarsenal aufnahm; denn jetzt konnte man mit Hilfe der Erblichshypothese auch bei Regelwidrigkeiten, denen man therapeutisch noch nichts anhaben konnte, durch Verhinderung der Fortpflanzung eugenisch - präventiv und damit für die Gesellschaft kostensparend und segensreich wirken.
Einer der berühmtesten europäischen Ärzte der Wende zum 20. Jahrhundert und mit Sicherheit der bekannteste medizinische
Sozialreformer und Experte für die Soziale Frage war August Forel. Seine liberale Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit
ist repräsentativ für seine Zeit, daher soll er hier für seine gesamteuropäische Generation sprechen: "Durch Recht und Religion
beherrscht und die soziale Hygiene vernachlässigend, verlangt die Medizin von den Ärzten, daß sie selbst das elendeste
Geschöpf so lange am Leben erhalten, als nur möglich. Für einen Geburtshelfer ist es ein Triumph, die Geburt selbst der
traurigsten Wesen zu ermöglichen und sie am Leben zu erhalten. Als Ärzte haben wir leider die Pflicht, das Leben der Idioten,
der Entarteten, der geborenen Verbrecher und der Irrsinnigen so lange wie möglich zu erhalten; wir sind sogar verpflichtet, viele
derselben, die sich selbst töten möchten, daran zu hindem." Dieser Text, der von fast jedem der führenden Psychiater der
NS-Zeit stammen könnte und der auch heute wieder von besonders fortschrittlich-liberalen Medizinern gedacht oder
geschrieben werden kann, verrät die Verwandtschaft von Sterilisierung und Euthanasie als medizinische Lösungsvorschläge für
die Soziale Frage der industriell unangepaßten Menschen. Zum andern bezeichnet Forel hier seine beiden Hauptgegner, nämlich
die konservativen Institutionen der Kirche und der Justiz. Beide veralteten, rückschrittlichen Einrichtungen müssen durch die
Medizin besiegt werden, da sie dem technischen Fortschritt und der Emanzipation des Menschen im Wege stehen. |