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Unterrichtsreihe zum Thema "Sterbehilfe" Der Weg zur Industriegesellschaft aus: K. Dörner, Tödliches Mitleid, Gütersloh 1988, S. 21-23 Armut und den mal mehr menschenfreundlichen, mal mehr unfreundlichen Umgang mit ihr hat es immer gegeben. Doch erst die Industrialisierung schuf komplementär die "Soziale Frage", die man auch die "Asoziale Frage" nennen könnte, machte sie zu eine organisatorischen Grundsatzproblem und hielt sie zugleich als "Frage" permanent in der Schwebe: Ein Teil der Bevölkerung war grundsätzlich "fragwürdig" geworden. Wie ist das zu verstehen? Die industrielle Revolution begann im fortgeschrittenen England 1750, in Frankreich um die bürgerlich-politische Revolution herum und in Deutschland wegen der Kleinstaaterei verzögert zwischen 1800 und 1850. Die Umstellung der Wirtschaft auf die industrielle Produktionsweise erforderte:
Da die damit einhergehende fortschreitende Rationalisierung erst
das Kleinbauerntum, dann das Handwerk und Kleingewerbe zu zerstören
begann, hatte man zunächst genug arbeitslose Arbeitskräfte. Doch
diese reichten bald nicht mehr und waren vor allem auch keineswegs
immer für die Fabrikarbeit geeignet. Denn eben diese Frage der
Eignung führte jetzt zu neuen Kriterien der bürgerlichen Vernunft
im Sinne der industriellen Brauchbarkeit: Als vernünftig und damit
brauchbar für das neue industrielle System galt jetzt zunehmend die
Fähigkeit zur Anpassung an einen vielfältigen Normendruck, von der
Pünktlichkeit bis zur Leistungsgleichmäßigkeit ohne individuell-
physiologischen Rhythmus, die Fähigkeit, immer dieselben Handgriffe
auszuführen, die Bereitschaft zum reibungslosen, monotonen Funk-
tionieren, die Unterdrückung störender persönlicher Besonderheiten
und Eigenarten sowie Kalkulierbarkeit und Vorausberechenbarkeit des
Verhaltens über eine lange Zeit. Weder in der Landwirtschaft noch
im Handwerk waren bisher je solche Tugenden gefragt gewesen. Dies
war unvermeidlich, da die Maschinen und später der Verkehr immer
kostspieliger und störanfälliger wurden, zunehmend diszipliniertes,
genormtes und selbst-verbietendes Verhalten erforderlich machten.
Zunächst in der Vorstellung und später mit wachsender
Vollbeschäftigung in der Realität sollten nach Möglichkeit alle
Nicht-Bürger über solche Fähigkeiten verfügen oder dazu umerzogen
werden, während zeitgleich und gewissermaßen nebenan Goethe und
Schiller das Ideal der autonomen Selbstbestimmung lehrten,
gleichsam um die Bürger von den Nicht-Bürgern besser unterscheidbar
zu machen. Da aber Menschen mit der optimalen industriellen
Verfügbarkeit, wie gesagt, nicht allzu häufig waren, überprüfte man
die damaligen gesellschaftlichen Randbereiche einschließlich der
großen und unrentablen Umerziehungseinrichtungen für die Unver-
nünftigen aus der Zeit des aufgeklärten Absolutismus. Man löste
sie aber nicht einfach auf, sondern verteilte um, nach dem Motto,
teile und herrsche! Nur die Brauchbaren nach den obigen neuen
Kriterien der Vernunft kamen in die Fabriken, halfen, das
Proletariat zu bilden. Für die anderen schuf man je nach der Art
ihrer Unvernunft, Unbrauchbarkeit oder Asozialität
Spezialeinrichtungen. Damit löste man die selbstgestellte Soziale
Frage im Sinne der jetzt herrschenden Mentalität durch
Institutionalisierung, Spezialisierung, Bürokratisierung und später
sich daraus ergebender Verwissenschaftlichung. So entstanden
zumindest die Grundzüge des heute noch gültigen sozialen
Versorgungssystems. Die industriell unbrauchbaren Gruppen der
Gesamtbevölkerung wurden zu einer ständigen öffentlichen und
privaten Kostenlast, insofern ebenfalls gut administrativ und
finanziell berechenbar. Diese tiefgreifende gesamteuropäische
Umwälzung hatte gleichzeitig den produktivitätssteigernden Doppel-
sinn, einerseits die Produktionsstätten und die Städte zu
befrieden, andererseits möglichst viele Familien von solchen zu
pflegenden Mitgliedern zu "befreien", die - gemessen an der
industriellen Vernunft - unnütze Ballastexistenten waren. So
konnte aus der Großfamilie die für den industriellen
Produktionsprozeß zweckrationale Kleinfamilie werden, deren
Mitglieder möglichst vollständig der industriellen Erwerbsarbeit
verfügbar sein sollten. Im Zuge diese Prozesses wurden zunehmend
systematisch für unbrauchbare Alte Altersheime errichtet, für
Pflegebedürftige Pflegeheime, unversorgte oder störende Kinder
Waisenhäuser und Kindergärten, für geistig Behinderte
Idiotenanstalten, für Arbeitsscheue Arbeitshäuser, für Straffällige
zum ersten Mal eigene Gefängnisse und für die Verrückten
Irrenanstalten. Also auch das Gefängniswesen und die Psychiatrie
sind Spaltprodukte der damaligen ersten Lösung der Sozialen Frage.
Straftäter und Irre standen naturgemäß am Ende dieser Skala,
erhielten daher auch die Einrichtungen mit dem umfassendsten
Freiheitsentzug. Dies ist gut ablesbar an der Befreiung der Irren
von den Ketten von Pinel, seinerzeit mehr ideologisch als real als
Befreiungstat der französischen Revolution gefeiert, während in
Wirklichkeit alle übrigen Gruppen der industriell Unvernünftigen
bereits in dem neuen System untergebracht oder eben befreit waren,
während die Irren die letzte Gruppe waren, für die dann die erste
Irrenanstalten geschaffen wurden. Dies ist keineswegs erstaunlich,
sondern nach dem neuen System zwingend logisch, da von allen
Randgruppen einer gedachten Gesellschaft die für den Mensche
schlechthin im Unterschied zum Tier konstitutionelle
Unberechenbarkeit seiner Handlungen bei der Gruppe der Irren am
stärksten ausgeprägt ist, den Anforderungen der Industrie geradezu
diametral entgegengesetzt. Um Mißverständnisse auszuschließen, sei
hinzugefügt, daß die neuen Irrenanstalten natürlich nur für die
"armen Irren" in Betracht kamen, da für psychisch Kranke aus
bürgerliche Familien nach wie vor viele andere Möglichkeiten
vorhanden waren: von der Hauspflege über Hausärzte, Sanatorien bis
zu den damals beliebten Bäderreisen in Begleitung. |