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Pflegestufenzuordnung
Pflegerelevante Zeit ist im Zweifel großzügig zu bemessen

Leistungsansprüche pflegebedürftiger Menschen aus der Pflegeversicherung sind im Wesentlichen davon abhängig, dass sie aufgrund konkreter Hilfenotwendigkeiten für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens einer von drei Pflegestufen zugeordnet sind (§ 14 SGB XI). Für die Zuordnung zu einer Pflegestufe ist ein bestimmter Zeitaufwand für die jeweiligen Hilfen erforderlich (§ 15 SGB XI).

Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss nach SGB XI wöchentlich im Tagesdurchschnitt

  • 1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen,
  • 2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen,
  • 3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

Die Ermittlung des jeweiligen Pflegebedarfs und die dafür anzunehmenden Zeiten ergibt sich vornehmlich aus den „Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi).

Über die Zuordnung zu einer Pflegestufe und die zugrunde zu legenden Pflegezeiten wird vielfach gestritten. Dies auch deshalb, weil die in den BRi beschriebenen Hilfenotwendigkeiten und die vorgegebenen Zeitkorridore den Bedürfnissen im Einzelfall nicht immer gerecht werden. Die Folge sind Antragsabweisungen bzw. die falsche Zuordnung zu einer Pflegestufe. Die daraus sich ergebenden Streitfälle beschäftigen dann nicht selten die Sozialgerichte.

In jüngster Zeit hat es zwei Sozialgerichtsentscheidungen gegeben, die Erkenntnisse darüber vermitteln, wie in Zweifelsfällen mit den Zeitvorgaben und der Pflegestufenzuordnung umzugehen ist. Sie werden nachfolgend in Kürze vorgestellt:

Pflegekassen bzw. die tätig werdenden Gutachter haben nach einer Entscheidung des Sozialgerichts (SG) Münster vom 10.02.2012 – S 6 P 135/10 - einen großzügigen Maßstab bei Pflegeeinstufungen anzuwenden.

In der Streitsache hatte ein pflegebedürftiger Mann geklagt, dem eine Höherstufung schon seit Jahren verwehrt wurde. Selbst dem vom SG beauftragten Gutachter fehlten acht Minuten für eine Zuordnung zur Pflegestufe III. Das SG ging aber bei seiner Entscheidung davon aus, dass bei der Pflegeeinstufung im Grenzfall ein großzügiger Maßstab anzusetzen ist. Soweit ein Gutachten die Schwelle zur Pflegestufe III um wenige Minuten verfehle, sei es geboten, eine Korrektur der Einschätzung vorzunehmen. Eine Korrektur sei deswegen angezeigt, weil es sich bei dem derzeitigen Pflegebedürftigkeitsbegriff und dem mit ihm verknüpften Bemessungsfaktor Zeit um nicht sicher fassbare und rationale Kriterien handele, sondern um eine scheinrationale Größe. Denn der Gesetzestext für eine Höherstufung zur Pflegestufe II oder III sei nicht so streng zu sehen, dass die exakte Minutenzahl für die vorgegebene Grundpflege erreicht werden müsse. Abweichungen von wenigen Minuten stellten keinen „hinreichenden Grund“ dar, die höhere Leistung zu verweigern. Denn es handele sich bei der Bestimmung des Pflegebedarfs immer nur um eine Schätzung. Die Pflegekasse müsse daher „im Grenzfall einen großzügigen Maßstab anwenden.“ Zur weiteren Begründung seiner Einschätzung nahm das SG u.a. auch auf ein früheres Urteil des Bundessozialgerichts BSG vom 07.07.2005 – B 3 P 8/04 R – Bezug, das ausdrücklich die Anwendung großzügiger Maßstäbe für zulässig erachtet hatte. Die vom Verfahren betroffene Pflegekasse hat gegen das Urteil Berufung beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen eingelegt (Aktenzeichen: L 10 P 38/12).

Nach dem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Mainz vom 02.02.2012 – L 5 P 29/11 - ist die Zeit, die ein in der sozialen Pflegeversicherung Versicherter benötigt, um zu seiner Arztpraxis zu kommen, bei der Ermittlung des Pflegebedarfs zu berücksichtigen ist, wenn der Versicherte Hilfe durch eine Begleitperson für den Weg vom Auto zur Praxis benötigt.

Die von der Streitsache betroffene pflegebedürftige Frau (Klägerin) bedurfte aufgrund ihrer Erkrankungen wegen einer bestehenden Sturzgefahr der pflegerischen Hilfe ihres Ehemannes, um von dem Fahrzeug zur Arztpraxis zu kommen. Während der Fahrt zur Praxis brauchte sie keine Betreuung. Das LSG war unter Berücksichtigung der konkreten Unterstützungsnotwendigkeiten der Meinung, dass die Zeit, bei der der Ehemann der Klägerin Fahrer des Transportfahrzeugs war, als Pflegezeit zu berücksichtigen sei. Einer Aufteilung der Zeiten stehe entgegen, dass für die Begleitung vom Fahrzeug zur Praxis regelmäßig nur der Fahrer zur Verfügung stehe. Hierzu ist in der Urteilschrift ausgeführt:

„Bei einer Sachlage wie der vorliegenden kann die Zeitdauer zwischen dem Verlassen des Hauses durch den Versicherten und dessen Rückkehr in den eigenen Wohnbereich nicht in einzelne Teile aufgesplittert werden, mit der Folge, dass nur ein Teil der Zeit pflegeversicherungsrechtlich zu berücksichtigen wäre. Einer solchen Betrachtungsweise steht der Umstand entgegen, dass dem Versicherten regelmäßig keine andere Person für den Weg vom Kfz zur Arztpraxis und zurück zur Verfügung steht als der Fahrer des PKW. Gegen eine Aufspaltung der Zeitdauer zwischen dem Verlassen des Hauses und der Rückkehr des Versicherten in den eigenen Wohnbereich in einen pflegeversicherungsrechtlich relevanten und einen nicht berücksichtigungsfähigen Teil spricht auch die Rechtsprechung zur Anrechnung von Wartezeiten der Begleitperson während des Aufenthalts in der Arztpraxis (dazu BSG 06.08.1998 – B 3 P 17/97 R, juris). Danach zählt eine Wartezeit, während der der Hilfebedürftige vom Arzt untersucht wird oder sich ärztlich angeordneten Maßnahmen in der Arztpraxis unterzieht, auch dann zum berücksichtigungsfähigen Hilfebedarf, wenn in der Arztpraxis eine Begleitperson nicht notwendig ist, aber die Pflegeperson während dieser Zeit keiner Tätigkeit nachgehen kann, der sie sich widmen würde, wenn die Notwendigkeit der Hilfeleistung nicht bestünde (BSG aaO juris Rn 19).“

Die Klägerin musste durch die beklagte Pflegekasse in die Pflegestufe I eingestuft werden.

Werner Schell
Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk