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»Freiheitsentziehende Maßnahmen im Pflegeheim«
Eine Handlungshilfe für BerufsbetreuerInnen

>> Unsere Lebenserwartung steigt ständig – Demenz und andere altersbedingte Erkrankungen gewinnen an Bedeutung. Wir überlegen, wie wir alt werden wollen, wie unsere Pflege aussehen könnte. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Pflege kommen als Thema auf uns alle zu. - BerufsbetreuerInnen werden mit diesem Thema in der täglichen Arbeit konfrontiert.

Freiheit als Rechtsgut

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - (Artikel 1 des Grundgesetz).

„Nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls kann entschieden werden, welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen.“ (Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28.04.2005, AZ.: III ZR 399/04)

Freiheitsentziehende Maßnahmen stellen einen erheblichen Eingriff in die Selbstbestimmung und Selbständigkeit eines Pflegebedürftigen dar. Sie sind deshalb auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Sie dienen dem Schutz des Pflegebedürftigen; ein Einsatz zur Erleichterung der Pflege ist nicht zulässig. Freiheitsentziehende Maßnahmen werden sich, weil sie dem Schutz der Pflegebedürftigen dienen, zwar nicht gänzlich vermeiden lassen. Sie können jedoch entscheidend reduziert werden, wenn bei allen Beteiligten das Bewusstsein für den schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen geschärft und alternative Handlungsweisen diskutiert werden.
Freiheitsentziehende Maßnahmen
sind nur nach gewissenhafter Abwägung der Freiheitsrechte mit den Fürsorgepflichten unter bedingungsloser Beachtung der Würde des Menschen und seiner Selbstbestimmung anzuwenden.
Freiheitsentziehende Maßnahmen
sind immer das letzte Mittel der Wahl; es muss die schonendste und am wenigsten in die Freiheit des Betroffenen eingreifende Maßnahme zum Tragen kommen, ihre Dauer muss begrenzt sein und ihre Notwendigkeit immer wieder reflektiert werden.
Der Betroffene steht als Person mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und seiner individuellen Lebensgeschichte stets im Mittelpunkt. Nur dann, wenn alle am Versorgungsprozess Beteiligten – Pflege, Medizin, Angehörige und Betreuer–

  • gemeinsam ihre Verantwortung wahrnehmen,
  • in der Ursachenforschung, im Versorgungs- und Betreuungsprozess zusammenwirken und
  • persönliche Ängste, Sicherheitsdenken und Schutzbedürfnisse in den Hintergrund stellen,

werden individuelle Lösungen möglich und die Würde des Pflegebedürftigen gewahrt.“

(Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege – Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses, November 2006, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen).

Freiheitsentziehende Maßnahmen

(Synonyma: Unterbringungsähnliche Maßnahmen, Bewegungseinschränkende Maßnahmen (BEM), Fixierungen)

  • körpernahe Fixierungen
  • Bettgitter
  • geschlossene Türen
  • Medikamente

(Studie ReduFix – Reduktion von körpernahen Fixierungen bei demenzerkrankten Heimbewohnern/innen (2006), Robert Bosch Gesellschaft für medizinische Forschung mbH & Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg).

Gründe für freiheitsentziehende Maßnahmen

Häufigste Gründe für bewegungseinschränkende Maßnahmen:

  • Psychomotorische Unruhe/Umtriebigkeit/Rastlosigkeit
  • Sturzgefährdung Gang/Transferunsicherheit
  • Verbale und/oder körperliche Aggressivität/Forderndes Verhalten
  • Sonde/Infusion
  • Suizidalität
  • Andere ärztliche Begründungen der Fixierung bei dementen alten Menschen in der Gerontopsychiatrie

(Bredthauer, Doris (2002) Bewegungseinschränkende Maßnahmen bei dementen alten Menschen in der Psychiatrie; Eine Dissertation an der Universität Ulm zum Thema: Gewalt gegen alte Menschen, Erlangen)

„Risikogruppe für BEM: Heimbewohner mit

  • kognitiver Beeinträchtigung oder Demenz
  • Einschränkung der Mobilität und Sturzgefahr
  • Pflegebedürftigkeit und Inkontinenz
  • fordernden Verhaltensweisen“

(Joanna Briggs Institut, 2002)

Stand des Wissens zu freiheitsentziehenden Maßnahmen

Beobachtungsstudien geben Hinweise:

  • Fixierte Bewohner haben das gleiche oder ein erhöhtes Sturzrisiko
  • Fixierte Bewohner sind eher mehr von ernsthaften sturzbedingten Verletzungen betroffen
  • Eine Unterbrechung von Fixierung scheint das Risiko von sturzbedingten Verletzungen zu reduzieren
  • Keine Studie weist auf einen positiven Effekt von Fixierungen auf fordernde Verhaltensweisen hin – eher auf das Gegenteil

(Joanna Briggs Institut, 2002)

“Negativspirale Fixierung: Sturzbedingte Verletzungsgefahr und fordernde Verhaltensweisen führen zu Fixierung, Fixierung führt zu Autonomieverlust durch Freiheitsentziehung, psychischem Stress, Gegenwehr führt zu direkten Verletzungen, die Mobilität sinkt, Verhaltensauffälligkeiten steigen, Psychopharmaka werden gegeben bzw. erhöht, die Sturzgefährdung steigt, Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sinken, es ergeben sich medizinische Komplikationen wie Kontrakturen, Dekubita, Pneumonie, der Allgemeinzustand verschlechtert sich, die Lebensqualität sinkt, die Arbeitszufriedenheit des Personals sinkt, Angehörige und Personal entwickeln Schuldgefühle.“

(ReduFix, 2006)

Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen

Bei Sturzgefahr:

  • Hilfsmittel wie Hüftprotektoren, niedrige Betten, Matratzen direkt auf dem Boden, Sensormatten vor dem Bett, Bewegungsmelder für Lichtschaltung, Bettgitter vor Bauchgurt...

Bei starker Unruhe:

  • gezielte Bewegung, basale Stimulation und Musik...

Allgemein:

  • Bezugspflegesystem – größere Vertrautheit
  • Gezielte Milieugestaltung
  • Lebensweltliche Dienstleistungsgestaltung
  • Systematisch reflektierte Ablauforganisation
  • Fachwissen und Selbstreflexion, bewusster Perspektivenwechsel...

(aus Vortrag: Lebensweltliche Dienstleistungsgestaltung – Organisation und Dokumentation als Teil der Prophylaxe von freiheitsentziehenden Maßnahmen, Angelika Knodel, Karla Kämmer (KK) Training Beratung Weiterbildung, Essen, Tagung Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen im Pflegeheim, 28.01.2008).

„Gegenüber enger gefassten Trainingsprogrammen oder Techniken versteht sich Basale Stimulation als Förderansatz, der auf die individuellen Möglichkeiten eines Menschen setzt, sich unter günstigen Umständen zu stabilisieren oder auch weiterzuentwickeln. Es geht also um die positiven Möglichkeiten in einem Menschen, nicht um seine Defekte, Defizite und Ausfälle. Insofern ist Basale Stimulation in der Pflege keine "Behandlung" des kranken Menschen, sondern vielmehr der qualifizierte Versuch, sich seiner Lebenssituation anzupassen und ihm für diese individuelle und aktuelle Lebenssituation geeignete Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Kommunikationsangebote zu machen.

Durch die Übernahme des Konzeptes der Basalen Stimulation in die Pflege, speziell in die Intensivpflege und durch notwendige Modifikationen wird nun ergänzend versucht, Patienten in ihrer schwierigen subjektiven Situation, die durch Stress, hohe emotionale Belastung, Angst, Unsicherheit und Gefühle der Hilflosigkeit gekennzeichnet sind, eine Orientierung über den eigenen Körper und seine vorhandenen Möglichkeiten zu geben.“

(Andreas Fröhlich, Dr. paed., Prof. für Allgemeine Sonderpädagogik, Universität Landau/Pfalz, http://www.basale-stimulation.de/seiten/BA05.HTM

Rechtliche Aspekte

1906 BGB - Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bei der Unterbringung

(1) Eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil

  • 1. auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder
  • 2.eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann.

(2) Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.

(3) Der Betreuer hat die Unterbringung zu beenden, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Er hat die Beendigung der Unterbringung dem Vormundschaftsgericht anzuzeigen.

(4) Die Absätze 1 bis 3 gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.

(5) Die Unterbringung durch einen Bevollmächtigten und die Einwilligung eines Bevollmächtigten in Maßnahmen nach Absatz 4 setzt voraus, dass die Vollmacht schriftlich erteilt ist und die in den Absätzen 1 und 4 genannten Maßnahmen ausdrücklich umfasst. Im Übrigen gelten die Absätze 1 bis 4 entsprechend.

Die Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen fällt in den Aufgabenkreis Aufenthaltsbestimmung. Das OLG Hamm stellte anlässlich einer Schadensersatzforderung gegen einen Betreuer fest, dass der Aufgabenkreis Gesundheitssorge für eine Unterbringung nicht ausreichend ist (OLG Hamm FamRZ 2001, 861 m. Anm. Beck in BtPrax 2001, 195).

(http://www.horstdeinert.de/lexika.htm#top)

In Fällen von Gefährdung Dritter kommt immer nur die Anwendung des PsychKG in Frage.

Wenn der gesetzliche Betreuer/die gesetzliche Betreuerin in Absprache mit allen Beteiligten zu der Meinung kommt, dass eine freiheitsentziehende Maßnahme zum Schutz des Klienten/der Klientin nötig ist, ordnet er/sie diese, möglichst im Konsens mit dem Heim, detailliert nach Art und Dauer gegenüber dem Heim an. Zeitgleich mit der Anordnung gegenüber dem Heim beantragt der gesetzliche Betreuer/die gesetzliche Betreuerin begründet die Genehmigung seiner Anordnung durch das Vormundschaftsgericht. Dem Antrag an das Vormundschaftsgericht wird neben der ausführlichen Begründung ein ärztliches Attest sowie der Text der Anordnung gegenüber dem Heim beigefügt. Der gesetzliche Betreuer/die gesetzliche Betreuerin achtet darauf, dass der Beschluss des Amtsgerichts in den Details dem Antrag der Betreuerin entspricht. Der Beschluss des Amtsgerichts ist auch dem Heim zu übersenden.

Wenn das Heim der Meinung ist, dass die Anordnung des gesetzlichen Betreuers/der gesetzlichen Betreuerin 100 % falsch ist, kann das Heim auf die Durchführung verzichten. Das Heim sollte darüber den Betreuer/die Betreuerin und das Vormundschaftsgericht informieren. Die Haftung für eine Fehleinschätzung des Heims und evtl. Folgen für den Klienten/die Klientin liegt dann alleine beim Heim.

Wenn das Heim der Meinung ist, dass die Anordnung des gesetzlichen Betreuers/der gesetzlichen Betreuerin eventuell falsch ist, sollte das Heim der Anordnung Folge leisten und gleichzeitig das Gespräch mit dem gesetzlichen Betreuer/der gesetzlichen Betreuerin suchen.

Wenn kein Konsens zu erzielen ist, sollte das Heim der Anordnung Folge leisten und gleichzeitig das Vormundschaftsgericht über seine Zweifel informieren.

Ablaufplanungshilfe für BerufsbetreuerInnen

Problem: BewohnerIn ist sturzgefährdet, unruhig und gefährdet sich selbst.

a) Einbeziehung der Beteiligten:

  • BewohnerIn
  • BezugspflegerIn des Heim
  • Stationsleitung und Pflegedienstleitung des Heim – Risikoeinschätzung Pflege
  • Angehörige – Verhaltenserklärung aus Biographie
  • Ärzte – Risikoeinschätzung Pflege

b) Sind die Ursachen für das Problem behebbar?

  • Kraft- und Balancetraining bei Gangunsicherheit
  • Baulich – räumliche Veränderungen (z.B. Beleuchtung, geeignetere Gruppe, anderes Heim, andere Wohnform)
  • Psychosoziale (z.B. Vereinsamung - Besuchsdienst, emotionale Zuwendung)
  • Organisatorische (z.B. Routineablauf ändern – bewohnerInnenorientierte Tagesstruktur)
  • Technische (z.B. ungeeignete Gehhilfe – Anpassung der Gehhilfe)

Wenn die Antwort nein ist, dann weiter mit c)

c) Können die mit dem Problem verbundenen Risiken ausreichend vermindert werden?

Weitere Alternativen prüfen:

  • Hüftschutzhose
  • Sturzhelm
  • Abendwanderung
  • Nachtcafe
  • Geteiltes Bettgitter
  • Sensormatte
  • Basale Stimulation
  • Beruhigende Musik

Wenn die Antwort nein ist, dann weiter mit d)

d) Ist der Nutzen der freiheitsentziehenden Maßnahmen größer als der Schaden?

  • Risikoeinschätzung Pflege
  • Pflegedokumentation

Wenn die Antwort ja ist, dann weiter mit e)

e) Planung der freiheitsentziehenden Maßnahme

  • Art – Maßnahme mit dem geringst möglichen Eingriff in die Freiheit
  • Dauer
  • Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf
  • Dokumentation

f) Legalisierung der freiheitsentziehenden Maßnahme

  • Einwilligung der betroffenen Person
  • Gespräche mit allen Beteiligten
  • Ärztliches Attest
  • Anordnung gegenüber dem Heim
  • Richterliche Genehmigung der Anordnung

g) Durchführung der freiheitsentziehenden Maßnahme

Sach- und fachgerechte Durchführung

  • BewohnerInnenorientiert
  • Dokumentation des Heim

h) Überprüfung der freiheitsentziehenden Maßnahme

Ist die freiheitsentziehende Maßnahme noch notwendig?

  • Pflegeplanung
  • Evaluation – Gespräche mit allen Beteiligten
  • Verlaufsbericht

(stark angelehnt an: Verantwortungsvoller Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen in der Pflege – Leitfaden des Bayerischen Landespflegeausschusses, November 2006, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen)

Diese Handlungshilfe für BerufsbetreuerInnen wurde erstellt von Frau Sommer und Frau König-Paschke (Betreuungsstelle für Erwachsene der Stadt Recklinghausen) und Herrn Dirk (Berufsbetreuer), Mai 2008

Der Beitrag wurde von Herrn Dirk zur Vorstellung im Internet zur Verfügung gestellt. Danke! - Werner Schell –