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Inga Tönnies:
Abschied zu Lebzeiten
Wie Angehörige mit Demenzkranken leben

1. Auflage 2007 (Balance Erfahrungen), 240 Seiten, ISBN 978-3-86739-007-1, 14.90 € / 26.80 sFr
BALANCE buch + medien verlag - Bonn

Abschied zu Lebzeiten

Vorweg: ein ungeheuerliches Buch. Es enthält persönliche Bekenntnisse von zehn Menschen, deren Angehörige an einer schweren Demenz erkrankt sind. Inga Tönnies, selbst eine betroffene Angehörige, hat diese zehn Menschen interviewt. Sie hat sich mit ihren Fragen an einem Interviewleitfaden entlang gehangelt, der in den einzelnen Beiträgen angenehm dezent zu spüren ist. Der Leser begleitet jedes Gespräch quasi auf vertrauten Pfaden und gewinnt doch jedes Mal andere, verblüffende Perspektiven. Der Band endet mit einer Zusammenfassung und einem informativen Anhang. So weit, so gut. Wo bleibt das Ungeheuer?

Inga Tönnies ist es gelungen, die Not ihrer Gesprächspartner ganz ungeschönt aufzunehmen und dem Leser fast in O-Ton und doch bestens lesbar weiterzugeben. Jeder Bericht ist ein kleines, aufwühlendes Drama. Da ist die Frau, deren Mann mit 55 Jahren erkrankt und sich komplett verwandelt. Sie stellt ihr Leben vollkommen auf ihn ein, er akzeptiert sie nicht mehr als Ehefrau, sie erkrankt an Krebs. Sie erleidet eine wahre Odyssee zwischen Ärzten und Krankenhäusern, bis er schließlich in einem Heim landet. Nun besucht sie ihn tagtäglich, wünscht sich seinen Tod, um endlich frei zu sein, und vergeht vor Mitleid. Sie klagt über die schlechte Pflege, die herzlosen Pflegerinnen und meint: "Und eins ist für mich klar: Wenn mir ein Arzt sagen würde, ich hätte diese Krankheit, dann würde ich sofort anfangen, mir Tabletten zu besorgen, und die würde ich dann ganz schnell nehmen, bevor ich vergessen hätte, wofür ich mir die besorgt habe, weil ich weiß, wie diese Krankheit aussieht und wie sie endet."

Herr T., ein anderer Angehöriger, meint ganz trocken, wenn er betroffen wäre, er würde dann "nach Zürich fahren", aber bekennt ein paar Sätze weiter, als wolle er K. Dörner belegen: "Und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich hatte noch nie im Leben eine so sinnvolle Aufgabe wie diese."

Es sind nicht nur Stellen wie diese, die den Atem stocken lassen. Es ist diese unentwirrbare Verknäuelung von Schuld, schlechtem Gewissen, Lebenshunger und Scham, alten Rechnungen, Zynismus und Ehrgeiz. Und vielem mehr. All diese Emotionen durchlebt der Leser und fragt sich nicht selten: Warum muss der eine sich trennen und der andere nicht? Warum kann die eine pflegen und aushalten und die andere nicht? Man beginnt Fragen zu stellen, vielleicht auch sich selbst, als habe man ein kleines familiendynamisches Seminar absolviert, ganz ohne hochnäsiges Vokabular.

Angehörige von Demenzkranken werden mit diesen Berichten da abgeholt, wo sie tatsächlich stehen: in ihrer nackten Verzweiflung über das Nichterkennen, über den Undank und den verständnislosen Blick; in ihrer Wut über die Fäkalien im frisch bezogenen Bett, die volle Windel, das zerbrochene Glas. Das beginnt bereits mit dem Titel "Abschied zu Lebzeiten". Und das setzt sich fort in jedem einzelnen Bekenntnis, abseits von aktuellen Trends wie Validation oder Dementia Care Mapping. Professionelle Besserwisserei, das ist wohl das Entscheidende, bleibt dem Leser erspart, auch billiger Trost, noch billigeres Mitleid. Trotzdem gibt es Ratschläge, ganz en passant und darum umso praktikabler – aus der Praxis für die Praxis. Es tauchen Rettungsanker auf, die auch der Leser freudig ergreift: die Selbsthilfegruppe, der Pflegedienst, die Dementen-WG. Es werden Witze erzählt, und es darf endlich gelacht werden: mit den Dementen, wegen oder über oder trotz alledem.

Ich empfehle "Abschied zu Lebzeiten" für Auszubildende, Angehörige und Menschen, die "- so oder so"- betroffen sein werden.

Weitere Informationen unter
www.psychiatrie.de