Das Bundesverfassungsgericht traf eine bedeutsame Entscheidung zum Erbrecht:
Schreib- und sprechunfähige Personen dürfen nicht ausnahmslos von der Errichtung eines Testaments ausgeschlossen werden
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat in einem
Verfassungsbeschwerdeverfahren mit Beschluß vom 19. Januar 1999 - 1 BvR 2161/94 -
festgestellt, daß der generelle Ausschluß schreib- und sprechunfähiger Personen von der
Möglichkeit, ein Testament zu errichten (Testiermöglichkeit), gegen das Grundgesetz (GG)
verstößt. In diesem Umfang sind die entsprechenden Vorschriften (§§ 2232 und 2233
Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -, § 31 Beurkundungsgesetz - BeurkG -) mit Art. 3 Abs. 1
GG (allgemeiner Gleichheitssatz), Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (Verbot der Benachteiligung
Behinderter) sowie mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG (Erbrechtsgarantie), unvereinbar (Quelle:
Pressemitteilung des BVerfG Nr. 29/99 vom 12. März 1999).
I. Rechtslage
Schreibunfähige Stumme können nach den erbrechtlichen Vorschriften kein
Testament errichten, weder handschriftlich noch notariell. Die maßgeblichen Vorschriften
der §§ 2232, 2233, 2247 BGB, 31 BeurkG setzen stets ein gewisses Maß an Sprech- oder
Schreibfähigkeit voraus (vgl. den Text der angefügten Vorschriften). Nach dem Willen der
Väter des BGB sollten schreib- und sprechunfähige Personen keine Testamente errichten
können. Schreibunfähige Stumme seien nur in der Lage, sich durch Zeichen verständlich
zu machen. Auf diese Weise lasse sich jedoch der Wille des Erblassers nicht mit
hinreichender Zuverlässigkeit ermitteln. Im Gegensatz dazu können schreibunfähige
Stumme Rechtsgeschäfte unter Lebenden vornehmen. Sie können mit notarieller Hilfe etwa
Grundstücke kaufen und Eheverträge schließen (§ 24 BeurkG). Dies geschieht dadurch,
daß der Notar neben einem Zeugen eine Vertrauensperson des schreibunfähigen Stummen
beizieht, die bei der Übersetzung der Zeichen behilflich ist. Da auch für einen
gemischten Ehe- und Erbvertrag gemäß § 2276 Abs. 2 BGB die Formvorschriften für
Rechtsgeschäfte unter Lebenden gelten, können verheiratete oder verlobte
schreibunfähige Stumme auf diese Weise im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags letztwillige
Verfügungen treffen.
II. Sachverhalt
Ein infolge eines Schlaganfalls gelähmter Mann, der nicht mehr sprechen und
schreiben, wohl aber hören und sich durch Zeichen verständigen konnte, setzte 1982 eine
Bekannte, die ihn gepflegt hatte, durch notarielle Erklärung zur Alleinerbin ein. Neben
dem beurkundenden Notar waren ein zweiter Notar als Zeuge und ein Arzt als
Vertrauensperson anwesend. Beide Notare und der behandelnde Arzt kamen zu der
Überzeugung, daß der Mann testierfähig sei und die Bekannte zur Alleinerbin einsetzen
wolle. Nach dem Tod des Mannes im Jahre 1989 focht dessen Tochter das Testament an.
Landgericht (LG) und Oberlandesgericht (OLG) gaben ihr recht. Ein Stummer könne nach §
31 BeurkG ein Testament nur durch Übergabe einer Schrift errichten, wenn er die
schriftliche Erklärung abgebe, daß diese Schrift seinen letzten Willen enthalte. Daraus
folge, daß ein schreibunfähiger Stummer nicht testieren könne. Gegen das Urteil des OLG
vom Oktober 1994 sowie mittelbar gegen die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften
erhoben gesetzliche Erben der zwischenzeitlich verstorbenen Bekannten des Erblassers
Verfassungsbeschwerde und rügten eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 und Art. 14
Abs. 1 GG.
III. Senatsentscheidung
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der generelle Ausschluß
schreibunfähiger Stummer von jeder Testiermöglichkeit verstößt gegen Art. 14 Abs. 1
sowie gegen Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 GG. Menschen, die in geistiger Hinsicht zu
einer eigenverantwortlichen letztwilligen Verfügung in der Lage sind, dürfen nicht
allein deswegen an der Testierung von Rechts wegen gehindert werden, weil sie aus
körperlichen Gründen nur über eingeschränkte Verständigungsmöglichkeiten verfügen.
Zur Begründung heißt es weiter:
1. Erbrechtsgarantie (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG)
Das Erfordernis der schriftlichen oder mündlichen Bestätigung des
notariellen Testaments verletzt bei schreibunfähigen Stummen den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Zwar verfolgt der Gesetzgeber mit der Anwendung der
Formvorschriften die an sich legitimen Gemeinwohlzwecke der Rechtssicherheit und des
Schutzes nicht selbstbestimmungsfähiger Menschen. Der mit dem Formzwang bewirkte
Testierausschluß ist jedoch verfassungsrechtlich nur dann erforderlich, wenn eine
hinreichend gesicherte Verständigung mit schreibunfähigen Stummen nicht möglich ist
oder ihnen das für die Testamentserrichtung nötige geistige Verständnis fehlt. Die
generelle Annahme des Gesetzgebers, daß es allen schreibunfähigen Stummen an der für
die Testamentserrichtung erforderlichen Handlungsund Einsichtsfähigkeit mangelt, ist
jeoch unzutreffend. Wie gerade der konkrete Fall zeigt, gibt es durchaus schreib- und
sprechunfähige Personen, die über die für eine Testamentserrichtung erforderliche
intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit verfügen. Bei ihnen ist
demzufolge der Ausschluß der Testiermöglichkeit nicht zum Schutz vor fremdbestimmten
oder unverantwortlichen Rechtsgeschäften erforderlich. Er ist auch zur Wahrung von
Rechtssicherheit nicht geboten. Bei selbstbestimmungsfähigen Personen sind als milderes
Mittel Beurkundungsverfahren denkbar, die zu einer zuverlässigen Feststellung des letzten
Willens führen. So kann etwa durch die Heranziehung weiterer neutraler Personen in
ausreichendem Maße kontrolliert werden, ob der beurkundende Notar die Testierfähigkeit
des schreib- und sprechunfähigen Erblassers richtig einschätzt und seine
Willenserklärungen zutreffend deutet.
2. Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG )
Die geltenden Formvorschriften für Testamente verletzen im Hinblick auf
schreibunfähige Stumme auch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die
Ungleichbehandlung besteht darin, daß ein verheirateter oder verlobter schreibunfähiger
Stummer im Rahmen eines Ehe- und Erbvertrags ausnahmsweise letztwillige Verfügungen
treffen kann, ein alleinstehender schreibunfähiger Stummer hingegen nicht. Der Senat
führt aus, daß für diese Ungleichbehandlung keine rechtfertigenden Gründe ersichtlich
sind.
3. Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG)
Die Formvorschriften führen auch zu einer unzulässigen Benachteiligung
Behinderter. Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleichbehandlung. Behinderte werden
z.B. benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter
Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und
Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen Menschen offenstehen. Da die
gesetzlichen Formerfordernisse für letztwillige Verfügungen dazu führen, daß schreib-
und sprechunfähige Behinderte in ihren Testiermöglichkeiten erheblich beeinträchtigt
werden, liegt eine solche Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter im Vergleich
zur Lebenssituation Nichtbehinderter vor. Diese Ungleichbehandlung ist
verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Zwar kann das Benachteiligungsverbot des Art. 3
Abs. 3 Satz 2 GG nicht ohne jede Einschränkung gelten. Fehlen einer Person gerade
aufgrund ihrer Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die
unerläßliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der
Verweigerung des Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche
Schlechterstellung Behinderter ist danach jedoch nur zulässig, wenn zwingende Gründe
dafür vorliegen. Die nachteiligen Auswirkungen müssen unerläßlich sein, um
behinderungsbezogenen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Solche behinderungsbedingten
Besonderheiten liegen bei der Testamentserrichtung aber nur in den Fällen vor, in denen
schreib- und sprechunfähige Personen nicht die dafür erforderliche Einsichts- oder
Handlungsfähigkeit besitzen. Besitzen schreib- und sprechunfähige Behinderte indes die
nötige intellektuelle und physische Selbstbestimmungsfähigkeit, werden sie durch die
gesetzlichen Formvorschriften über die Testamentserrichtung in unzulässiger Weise
benachteiligt.
4. Folgen der Entscheidung
a) Die Formvorschriften der §§ 2232, 2233 BGB, 31 BeurkG dürfen fortan
nicht mehr auf schreib- und sprechunfähige Behinderte, die geistig und körperlich zu
einer Testamentserrichtung in der Lage sind, angewendet werden. Bis zu einer gesetzlichen
Neuregelung können schreib- und sprechunfähige Personen künftig mit notarieller Hilfe
letztwillige Verfügungen (Testamente, Erbverträge etc.) errichten. Ihr letzter Wille
kann für eine Übergangszeit in der Weise notariell beurkundet werden, wie es bei
rechtsgeschäftlichen Erklärungen unter Lebenden nach den Vorschriften des BeurkG
geregelt ist.
b) Bereits errichtete letztwillige Verfügungen schreib- und sprechunfähiger Personen
müssen jedenfalls dann als rechtswirksam anerkannt werden, wenn sie den Anforderungen der
§§ 22 bis 26 BeurkG genügen. Ist der Erbfall bereits in der Vergangenheit eingetreten,
dann müssen die Gerichte allerdings berücksichtigen, daß die Belange der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes im Einzelfall der Berufung auf die
verfassungsmäßige Rechtslage entgegenstehen können. Rechtskräftig abgeschlossene
Verfahren bleiben grundsätzlich unberührt. Ferner folgt aus dem Grundsatz des
Vertrauensschutzes, daß die Berufung auf die verfassungsmäßige Rechtslage
ausgeschlossen sein kann, wenn sich der testamentarische Erbe in der Vergangenheit anders
als im Ausgangsverfahren nicht auf die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen
Formvorschriften berufen und der durch die Formvorschriften Begünstigte in
schutzwürdiger Weise auf die gesetzliche Regelung vertraut hat. Da die
Verfassungsmäßigkeit des Testierausschlusses in der Literatur im wesentlichen erst seit
1991 in Zweifel gezogen wird, wird unter den genannten Voraussetzungen eine von den
bisherigen gesetzlichen Formvorschriften abweichende Beurteilung eines Testaments als
wirksam für die vor dem Jahre 1991 liegenden Erbfälle regelmäßig aus
Vertrauensschutzgründen ausscheiden.
Die relevanten Vorschriften im Überblick:
§ 2232 BGB
Zur Niederschrift eines Notars wird ein Testament errichtet, indem der Erblasser
dem Notar seinen letzten Willen mündlich erklärt oder ihm eine Schrift mit der
Erklärung übergibt, daß die Schrift seinen letzten Willen enthalte. Der Erblasser kann
die Schrift offen oder verschlossen übergeben; sie braucht nicht von ihm geschrieben zu
sein. § 2233 Abs. 2 BGB.
Ist der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht
imstande, Geschriebenes zu lesen, so kann er das Testament nur durch mündliche Erklärung
errichten.
§ 2233 Abs. 3 BGB
Vermag der Erblasser nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars
nicht hinreichend zu sprechen, so kann er das Testament nur durch Übergabe einer Schrift
errichten.
§ 31 BeurkG Übergabe einer Schrift durch Stumme
Ein Erblasser, der nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des Notars nicht
hinreichend zu sprechen vermag (§ 2233 Abs. 3 BGB), muß die Erklärung, daß die
übergebene Schrift seinen letzten Willen enthalte, bei der Verhandlung eigenhändig in
die Niederschrift oder auf ein besonderes Blatt schreiben, das der Niederschrift
beigefügt werden soll. Das eigenhändige Niederschreiben der Erklärung soll in der
Niederschrift festgestellt werden. Die Niederschrift braucht von dem behinderten
Beteiligten nicht besonders genehmigt zu werden.
§ 24 BeurkG Besonderheiten für Taube und Stumme, mit denen eine
schriftliche Verständigung nicht möglich ist.
(1) Vermag ein Beteiligter nach seinen Angaben oder nach der Überzeugung des
Notars nicht hinreichend zu hören oder zu sprechen und sich auch nicht schriftlich zu
verständigen, so soll der Notar dies in der Niederschrift feststellen. Wird in der
Niederschrift eine solche Feststellung getroffen, so muß zu der Beurkundung eine
Vertrauensperson zugezogen werden, die sich mit dem behinderten Beteiligten zu
verständigen vermag; in der Niederschrift soll festgestellt werden, daß dies geschehen
ist. Die Niederschrift soll auch von der Vertrauensperson unterschrieben werden.
(2) Die Beurkundung von Willenserklärungen ist insoweit unwirksam, als diese darauf
gerichtet sind, der Vertrauensperson einen rechtlichen Vorteil zu verschaffen.
(3) Das Erfordernis, nach § 22 einen Zeugen oder zweiten Notar zuzuziehen, bleibt
unberührt.
Werner Schell
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