Die gesetzliche Krankenversicherung (Krankenkasse) kann verpflichtet sein, jugendlichen Behinderten ein
Rollstuhl-Bike bzw. ein Tandem zu finanzieren:
Diese Einschätzung ergibt sich aus zwei interessanten Urteilen des
Bundessozialgerichtes (BSG). Dabei ging es jeweils um jugendliche Behinderte, bei denen
die zuständigen gesetzlichen Krankenkassen die Finanzierung von Hilfsmitteln, zum einen
ein handbetriebenes "Rollstuhl-Bike" und zum anderen ein "Tandem"
(Therapie-Fahrrad) verweigerten. Die Richter teilten die Rechtsauffassung der
Krankenkassen nicht und sprachen den versicherten Behinderten weitgehend die Ansprüche
auf die beantragten Hilfsmittel zu. Dabei stellte das BSG im wesentlichen heraus, daß
Kinder und Jugendliche Erfahrungen mit Geschwindigkeit und Raumorientierung brauchen; ihr
Bewegungsdrang gehöre zu den Grundbedürfnissen und müsse bei der Prüfung von
Hilfsmittelansprüchen in angemessener Weise Berücksichtigung finden. Die beiden
Sachverhalte und Entscheidungen werden wegen ihrer Bedeutung im einzelnen wie folgt
vorgestellt:
Streitfall "Rollstuhl-Bike": In seinem Urteil vom 16.4.98
- B 3 KR 9/97 - hatte das BSG die Zahlungsverweigerung der Krankenkasse im Falle
eines 14-jährigen querschnittsgelähmten Jugendlichen zu überprüfen. Dieser begehrte
von der Krankenkasse die Ausstattung seines Rollstuhl mit einer mechanischen
Zugvorrichtung (sog. Handbike-Zusatzgerät oder auch Rollstuhl-Bike genannt), das ihm der
behandelnde Arzt verordnet hatte. Dieses Zusatzgerät wird über ein Kupplungsgestänge
mit dem Rollstuhl so verbunden, daß der Benutzer des Rollstuhls diesen statt über die
Greifreifen mittels einer Handkurbel fortbewegen kann. Der Antrag, dem ein
Kostenvoranschlag in Höhe von 5.080 DM beigefügt war, wurde von der Krankenkasse u.a.
mit der Begründung abgelehnt, das Rollstuhl-Bike sei von umstrittenem therapeutischen
Nutzen und deshalb von der Leistungspflicht der Kasse ausgeschlossen (vgl. hierzu die auf
der Grundlage des § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung über Hilfsmittel von
geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen
Krankenversicherung vom 13.12.1989). Außerdem sei das Rollstuhl-Bike nicht erforderlich,
weil es zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse nicht benötigt
werde, der Jugendliche sei mit seinem bereits vorhandenen handbetriebenen Rollstuhl
ausreichend und zweckmäßig versorgt. Daraufhin klagte der abgewiesene jugendliche
Behinderte vor dem Sozialgericht (SG). Das SG bestätigte die Auffassung der Krankenkasse,
erst das Landessozialgericht (LSG) kam im Berufungsverfahren zu einer anderslautenden
Entscheidung und verurteilte die Krankenkasse, den Kläger mit dem begehrten
Rollstuhl-Bike zu versorgen. Der Gesetzgeber habe, so das LSG u.a. in seinen
Ausführungen, durch die Verwendung der Worte "im Einzelfall erforderlich sind"
in § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) V zum Ausdruck gebracht, daß die konkrete
Situation des Versicherten in seinem Lebensumfeld zu berücksichtigen sei. Deshalb sei
auch das in der Entwicklungsphase des Klägers erhöhte Mobilitätsbedürfnis als
Grundbedürfnis anzusehen.
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V (Hilfsmittel)
lautet: Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen,
Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall
erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung
auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des
täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. |
Dem hielt die Krankenkasse in der Revision entgegen, daß der bereits
vorhandene handbetriebene Rollstuhl die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermögliche,
ein darüber hinausgehendes Mobilitätsbedürfnis sei nicht als Grundbedürfnis anzusehen.
Das BSG wies die Revision der Krankenkasse als unbegründet ab und bestätigte die
Entscheidung des LSG. In seiner Entscheidung stellte das BSG zunächst fest, daß die
fehlende Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis nicht automatisch dazu
führe, daß solche Hilfsmittel den Anspruch eines Versicherten ausschließe. Das BSG
habe in früheren Entscheidungen wiederholt deutlich gemacht, daß das
Hilfsmittelverzeichnis nicht die Aufgabe habe, als Positivliste darüber zu befinden,
welche Hilfsmittel der Versicherte im Rahmen der Krankenbehandlung beanspruchen könne,
sondern für die Gerichte nur eine unverbindliche Auslegungshilfe darstelle. Das
begehrte Rollstuhl-Bike, stellten die Richter weiter fest, erfülle im übrigen die
Ansprüche des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Es handele sich nicht nur um einen
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens und sei für den Kläger erforderlich. Das BSG
schloß sich der Urteilsbegründung des LSG an und hob nochmals hervor, daß ein
Hilfsmittel nach der Rechtsprechung dann erforderlich sei, wenn sein Einsatz zur
Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Hierzu
sei auch ein gewisser körperlicher und geistiger Freiraum zu rechnen, der die Teilnahme
am gesellschaftlichen Leben umfasse. Nur Hilfsmittel, die dazu dienen, lediglich die
Folgen und Auswirkungen der Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen, insbesondere
auf beruflichem und wirtschaftlichem Gebiet sowie im Bereich der Freizeitgestaltung zu
beseitigen oder zu mildern, müßten die gesetzlichen Krankenkassen nicht zur Verfügung
stellen. Im vorliegenden Fall hielten die Richter das Zusatzgerät für erforderlich, weil
es der Kläger umfassend zur Integration in den Kreis etwa gleichaltriger Kinder
und Jugendlicher, wozu auch seine jüngeren, nicht behinderten Geschwister zählten,
benötige. Für die Erforderlichkeit eines Hilfsmittels "im Einzelfall" müsse
auf die individuellen Bedürfnisse des Betroffenen abgestellt werden, dabei sei auch auf
das Lebensalter abzustellen. Es gehe dem Kläger nicht allein darum, mit Hilfe des
Rollstuhl-Bikes den Radius zu erweitern. Maßgebend sei vielmehr, daß ihm durch seine
Behinderung eine Isolation drohe. Die Vermeidung einer Isolation durch Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben und Kommunikation habe die Rechtsprechung des BSG bei älteren
und behinderten Menschen stets als ein elementares Bedürfnis angesehen, daß die
Eintrittspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung rechtfertige. Bei Kindern und
Jugendlichen zähle auch die Möglichkeit, an der üblichen Lebensgestaltung
Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil des sozialen Lernprozesses und
gehöre zu den Grundbedürfnissen. Das Rollstuhl-Bike helfe dem Kläger, so die Richter,
den in der Entwicklungsphase verstärkten Bewegungsdrang zu befriedigen und den
sozialen Kontakt mit gesunden Altersgenossen aufrechtzuerhalten. Das LSG habe insoweit zu
Recht auf die besonderen Grundbedürfnisse des Klägers als eines Jugendlichen in der
Entwicklungsphase abgestellt. Im übrigen entspreche die Ausrüstung des Klägers mit
diesem Gerät auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, ein weniger aufwendiges
Hilfsmittel stehe unter Beachtung der Behinderung und der Lebenssituation des Klägers
nicht zur Verfügung. Allerdings, so stellten die Richter abschließend fest, sei die
Krankenkasse nicht daran gehindert, einen Eigenanteil zu verlangen. Unter dem
Gesichtspunkt ersparter Aufwendungen könne vom Versicherten eine Eigenbeteiligung
dann verlangt werden, wenn anzunehmen sei, daß er ohne die Behinderung einen allgemeinen
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens angeschafft hätte. Da das Rollstuhl-Bike nach
den Angaben des Klägers Funktionen erfüllen soll, für die ein nichtbehinderter
Jugendlicher ein Fahrrad benutze, könne die Krankenkasse die durchschnittlichen
Anschaffungskosten eines handelsüblichen Markenfahrrades als Eigenanteil des Klägers
verlangen. Ein solcher Anteil könne auch in Form eines laufenden Nutzungsentgelts
berechnet werden, falls die Krankenkasse das Rollstuhl-Bike nur leihweise zur Verfügung
stelle.
Streitfall "Tandem": Im Urteil vom 13.5.98 - B 8 KN 13/97 R
- hatte sich das BSG mit einem jugendlichen, geistig behinderten Kläger zu befassen, der
von seiner Krankenkasse Kostenerstattung für ein selbstbeschafftes Therapietandem
begehrte. Der Kläger leidet an einer alternierenden Hemiplegie mit unvorhersehbaren
wechselnden Halbseitenlähmungen, die mit einer dauernden Beeinträchtigung des
Gleichgewichts und der Körperkoordination einhergehen. Die Krankenkasse hatte ihn bereits
mit 2 Faltrollstühlen ausgestattet und bot (im erstinstanzlichen Verfahren) an, ihn mit
einem "Rollfiets", d.h. einem Rollstuhl mit Fahrradschiebeantrieb, zu versorgen,
was von dem Kläger abgelehnt wurde. Vielmehr beantragte dieser auf ärztliche Verordnung
hin die Kostenübernahme für ein individuell angefertigtes Therapiefahrrad. Dies lehnte
die Krankenkasse mit dem Hinweis ab, daß es sich bei diesem Fahrrad um ein Konsumgut
handele, das vom Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfaßt
werde. Es stelle einen Freizeit- und Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens dar und
erreiche im übrigen keine Beseitigung der vorliegenden Ausfallerscheinungen oder
Behinderungen. Im Klageverfahren bestätigte das SG im wesentlichen die Auffassung der
Krankenkasse mit dem Hinweis, das von der Krankenkasse angebotene Rollfiet sei
ausreichend, um eine soziale Integration des Klägers zu erreichen. Hiergegen legte der
Kläger Berufung ein und beschaffte sich das Therapietandem selbst. Das LSG verurteilte
daraufhin die Krankenkasse nach § 13 Abs. 3 SGB V zur Kostenübernahme des Betrages in
Höhe von rd. 5.000 DM abzüglich eines Eigenanteils in Höhe von 500 DM, da die
Krankenkasse die entsprechende Leistung zu Unrecht abgelehnt habe.
§ 13 Abs. 3 SGB V lautet: Konnte die
Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen oder hat sie eine
Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte
Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu
erstatten, soweit die Leistung notwendig war. |
Im Revisionsverfahren bestätigte das BSG im wesentlichen die
Ausführungen der Vorinstanz. Der Kläger sei, so die Richter, durch die Behinderungen in
seiner Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse eingeschränkt. Der
Kläger könne seine in gleicher Weise wie bei gesunden Kindern vorhandene Bewegungsfreude
nicht ebenso erleben. Entsprechendes gelte für das Wahrnehmen von Geschwindigkeit und
Raumorientierung sowie für die durch gemeinsame Familienausflüge ermöglichten
umfassenden Umwelterfahrungen. Seine Behinderung stehe zudem der bei gleichaltrigen
gesunden Kindern selbstverständlichen sozialen Einbindung in eine Gruppe gleichaltriger
Kinder entgegen, so daß für ihn als Teilnahme am gesellschaftlichen Leben die möglichst
vollständige Einbindung in das familiäre Leben im Vordergrund stehe. Insoweit könne das
begehrte Therapietandem zum - teilweisen - Ausgleich der behinderungsbedingten
Einschränkungen geeignet sein. Der Einbindung in das familiäre Leben (insbesondere
bei gemeinsamen Fahrradausflügen) komme, so daß BSG, eine besondere Bedeutung zu. Das
begehrte Therapietandem ermögliche dem Kläger die aktive Beteiligung bei
gemeinsamen Familienunternehmungen und sei deshalb für ihn von wesentlicher Bedeutung. Zu
den durch ein Hilfsmittel auszugleichenden Grundbedürfnissen gehöre nämlich auch, so
die Richter weiter, die Lebensgestaltung durch aktive Fortbewegung außer Hause.
Allerdings kamen die Richter zu dem Ergebnis, daß in der Entscheidung des LSG
ausreichende tatsächliche Feststellungen zur Erforderlichkeit des selbstbeschafften
Tandem-Therapiefahrrades fehlen. Es sei zwar unstreitig, daß ein Rollstuhlboy bzw. ein
Rollfiets kein gleichgeeignetes Hilfsmittel für den Kläger wären und ein Gewinn an
eigener Lebensbetätigung nicht gewährleistet sei. Allerdings müsse nach § 33 Abs. 1
Satz 1 SGB V geprüft werden, ob nicht auch ein handelsübliches Tandem ggf. mit
individueller Zusatzausrüstung kostengünstiger und gleichermaßen geeignet
gewesen wäre. Daher war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung unter
diesem Gesichtspunkt an die Vorinstanz zurückzuweisen. Käme das Gericht dann zu der
Überzeugung, daß ein Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Therapietandem
bestehe, dürfe die Krankenkasse als Eigenanteil lediglich den Anschaffungspreis für ein
Fahrrad verlangen, nicht aber den eines handelsüblichen Tandems, da dieses keine
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens sei.
Werner Schell
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