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Rechtliche Probleme bei der Behandlung bösartiger Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen

Pro Jahr erkranken in der Bundesrepublik Deutschland etwa 1.800 Kinder unter 15 Jahren an Krebs. Maligne Erkrankungen sind bei Kindern die häufigste Todesursache nach den Verkehrsunfällen.
Wirkungsvolle Behandlungsmaßnahmen (Operation, Bestrahlung, Chemotherapie) spielen bei den malignen Erkrankungen eine entscheidende Rolle und bewirken, daß bei einer zielgerichteten Vorgehensweise nach fünf Jahren noch fast 70 Prozent der jungen Patienten leben. Da nach mehr als fünf Jahren nur noch selten Rückfälle auftreten, kann der überwiegende Teil dieser Kinder als endgültig geheilt angesehen werden.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat sich der Behandlung bösartiger Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen zugewandt und damit zusammenhängende ethische und rechtliche Probleme aufgegriffen (Deutsches Ärzteblatt vom 18.11.1994, Heft 46/1994).
Zu den juristischen Aspekten der Behandlung junger Patienten hat der Wissenschaftliche Beirat interessante Feststellungen getroffen, die hiermit wie folgt vorgestellt werden:
Eine ärztliche Behandlung bedarf stets der Einwilligung des aufgeklärten Patienten. Dabei spielt keine Rolle, ob eine Entscheidung des Patienten gegen die Behandlung aus ärztlicher Sicht als unvernünftig anzusehen ist; das Selbstbestimmungsrecht gibt ihm auch das Recht zu - aus ärztlicher Sicht - unvernünftigen Entscheidungen. Lehnt ein Patient die vom Arzt vorgeschlagene Therapie ab und besteht statt dessen auf einer nicht konventionellen Behandlung seines Krebsleidens, dann kann der Arzt seine Dienste verweigern.
Bei Kindern und Jugendlichen ist zur Aufnahme und Fortführung einer Behandlung grundsätzlich die nach Aufklärung erteilte Einwilligung der Sorgeberechtigten - das sind in der Regel beide Eltern - erforderlich. Für die Frage der Einwilligungsfähigkeit des Kindes und Jugendlichen ist allerdings nicht die Volljährigkeitsgrenze entscheidend, sondern allein die sogenannte natürliche Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit, die vom Arzt von Fall zu Fall zu beurteilen ist. Sie ist in der Regel mit etwa 16 Jahren gegeben. Jugendliche sind daher selbst zur Erteilung der Einwilligung berechtigt, wenn sie in der Lage sind, Bedeutung und Tragweite der ärztlichen Behandlung beziehungsweise die Folgen eines Unterlassens der Behandlung zu verstehen. Dem Recht der Eltern, die Sorge für ihr Kind dahingehend auszuüben, daß sie einer Behandlung zustimmen oder sie ablehnen, sind also durch die Einwilligungsfähigkeit des minderjährigen Patienten Grenzen gezogen.
Der Arzt kann damit bei Beginn oder Fortführung vor allem einer belastenden Behandlung, wie einer Operation oder der Chemotherapie bei onkologischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen, mit verschiedenen problematischen Situationen konfrontiert werden:
- der minderjährige, aber einsichtsfähige Patient willigt in die Behandlung ein, die Eltern aber nicht,
- die Eltern sind mit der Behandlung einverstanden, der minderjährige, aber einsichtsfähige Patient hingegen nicht,
- weder die Eltern noch der minderjährige, aber einsichtsfähige Patient willigen in die Behandlung ein,
- die Eltern eines nicht einsichtsfähigen Kindes verweigern die Behandlung.
Ist der Jugendliche urteilsfähig und stimmt er der Behandlung zu, so ist die Therapie auch bei Ablehnung durch die Eltern durchzuführen, wobei das Bemühen weiter darauf gerichtet sein muß, die Eltern ebenfalls zu überzeugen. Diese Situation kann theoretisch auch einmal bei unter 14jährigen vorkommen. Hier wird zwar, so heißt es üblicherweise, der Arzt ausnahmslos auch die elterliche Zustimmung einzuholen haben. Als Faustregel wird genannt, daß der Arzt sich um so weniger mit der Einwilligung des minderjährigen Patienten allein begnügen kann, je schwererwiegend, je weniger dringlich, je unübersehbarer in seinen Risiken und Folgen ein ärztlicher Eingriff ist. Für die Behandlung bösartiger Erkrankungen bedeutet das umgekehrt, daß unter Umständen allein auf die Einwilligung des 14jährigen oder im Ausnahmefall sogar noch etwas jüngeren Patienten abgestellt werden muß, wenn er aufgeklärt ist und wenn er die Folgen seiner Entscheidung schon übersehen kann, weil es sich bei der vorgeschlagenen Therapie um die nach ärztlicher Erkenntnis einzige Chance der Lebensrettung handelt.
Willigen nur die Eltern in die Behandlung ein, nicht aber der einsichtsfähige Jugendliche, so darf die Behandlung nicht durchgeführt werden, wenn es trotz aller an der Behandlung Beteiligten nicht gelingt, den Jugendlichen von der Notwendigkeit und den Erfolgsaussichten der Therapie zu überzeugen.
Lehnen sowohl die Eltern als auch der einsichtsfähige Jugendliche die Behandlung nach eingehender Aufklärung über Aussichten und Risiken der Behandlung wie auch über die Konsequenzen der Nichtbehandlung ab, so hat der Arzt diese Entscheidung zu respektieren. Die Behandlung darf dann nicht durchgeführt werden.
Verweigern die Eltern für ihr nicht einsichtsfähiges Kind die Zustimmung zu der als allein lebensrettend anzusehenden Behandlung, so stellt sich für den Arzt die Frage, ob er diese Entscheidung akzeptiert oder ob er den Ersatz der elterlichen Zustimmung durch das Vormundschaftsgericht anstreben muß.
In einer solchen Situation ist zu berücksichtigen, daß die Eltern sich in einer sehr schwierigen, konfliktträchtigen Lage befinden. Dabei spielt zum einen eine Rolle, daß sie die körperlichen und seelischen Belastungen ihres Kindes durch die Therapie sehen und miterleben, und zum anderen, daß sie den Nutzen der Behandlung für das Überleben und Gesunden des Kindes zu gering bewerten oder nicht erkennen. Die Eltern sind unter Umständen verschiedenen Einflüssen, auch von ärztlicher Seite, ausgesetzt; sie wissen nicht, wem sie vertrauen sollen und welche Entscheidung die für ihr Kind beste und daher die richtige ist. Die Überlegung oder der Entschluß, eine andere als die von einem Zentrum für richtig gehaltene Therapie durchzuführen, könnte oft nicht umgesetzt werden, wenn sich nicht auch Ärzte fänden, die zu einer anderen, unter Umständen auch nicht konventionellen Behandlung raten und diese auch durchführen. Die Ängste und Besorgnisse der Eltern sind deshalb von allen an der Behandlung und Betreuung der Kinder Beteiligten ernst zu nehmen. Dies gilt um so mehr, als die Mitwirkung der Eltern für die Behandlung eines Kindes von wesentlicher Bedeutung ist. Der Arzt wird daher gerade bei belastenden Behandlungen, etwa der Chemotherapie und ausgedehnten Operationen bei onkologischen Erkrankungen, die Zustimmung der Eltern durch Erläuterung der therapeutischen Möglichkeiten, der erreichbaren Behandlungsergebnisse einholen, ohne dabei die Risiken und Belastungen zu verschweigen. Aufgeklärt werden muß über die Chancen und Risiken der Behandlung im Vergleich zur Nichtbehandlung oder der Anwendung anderer Methoden. Ebenso ist darüber aufzuklären, was Randomisation bedeutet, wenn die Behandlung im Rahmen einer prospektiven, randomisierten Studie durchgeführt werden soll, und weswegen ein solches Vorgehen auch dem einzelnen Kind gegenüber nicht nur vertretbar, sondern sogar geboten ist. Bei der Verweigerung der Teilnahme an der Studie ist eine therapeutische Alternative anzubieten. Im Falle einer generellen Behandlungsverweigerung sind den Eltern die zu erwartenden gesundheitlichen Folgen dringlich vor Augen zu führen.
Ergebnis der Gespräche mit den Eltern kann allerdings im Einzelfall auch sein, daß der Arzt die Argumentation der Eltern, die die Behandlung ablehnen, teilt oder akzeptiert, etwa weil ein offensichtliches Mißverhältnis zwischen der Belastung des Kindes durch die Behandlung und dem durch sie erzielbaren Erfolg vorliegt, zum Beispiel dem Rezidiv einer onkologischen Erkrankung. Gelegentlich wird auch der Arzt von vornherein entgegen dem Wunsch der Eltern deshalb von einer Behandlung absehen.
Verweigern die Eltern nach Beratung die Behandlung aus Gründen, die nach Abwägung von Chancen und Risiken der Therapie als unvernünftig anzusehen sind, so müssen sie auf die Möglichkeit hingewiesen werden, daß ihre Einwilligung durch den Vormundschaftsrichter unter Umständen ersetzt werden kann. Ein solcher Schritt wäre letztendlich auch ernsthaft anzukündigen. Im Ausnahmefall kann es als ultima ratio schließlich dazu kommen, daß der Arzt, wenn er das Unterlassen der Therapie nicht verantworten zu können glaubt, sich tatsächlich darum bemühen muß, die elterliche Einwilligung gerichtlich ersetzen zu lassen. Das gilt auch im Falle eines Dissenses zwischen den Eltern. Das Gericht wird dann entweder einen Pfleger bestellen, der über die Einwilligung in die Behandlung entscheidet, oder es wird die elterliche Einwilligung selbst ersetzen. Beides ist nach § 1666 BGB möglich, wenn die Verweigerung der Behandlung mißbräuchliche Ausübung des Sorgerechts ist, durch die das Wohl des Kindes gefährdet wird. Dabei ist von einer Gefährdung des Kindeswohls dann auszugehen, wenn im konkreten Fall nach ärztlicher Erkenntnis eine erfolgversprechende und bei Berücksichtigung aller Gesichtspunkte auch zumutbar erscheinende Behandlungsmöglichkeit nicht wahrgenommen, sondern verweigert wird.
Wenngleich rechtlich die Möglichkeit besteht, das Vormundschaftsgericht anzurufen, um die elterliche Einwilligung gerichtlich zu ersetzen, sollte dieser Weg jedoch soweit wie möglich vermieden werden, da eine langdauernde und eingreifende Behandlung eines Kindes ohne Unterstützung durch seine Eltern für alle Beteiligten eine schwere Belastung darstellt.

Werner Schell (06/99)