Piercing ist Ausübung der Heilkunde und nur mit einer ausdrücklichen Erlaubnis zulässig
Der Modetrend Piercing birgt gesundheitliche Risiken - nicht nur für die
Schmuckträger. Piercings werden zum Teil durchgeführt, ohne vorher Nadeln und
Hilfsgerät zu desinfizieren. Besonders Piercings im Gesicht können schnell ein Fall für
den Arzt werden, wenn Erreger über nichtsterile Nadeln und Piercingstifte unter die Haut
gelangen. Rund um Auge, Mund und Nase kann es zu schweren Entzündungen kommen, die die
Gefahr einer Verschleppung des Erregers ins Gehirn mit sich bringen. Daß piercingbedingte
Infektionen sogar lebensgefährlich sein können, zeigte vor kurzem ein Fall in England:
Bei einem jungen Piercing-Fan hatte sich aufgrund einer Infektion im Gesichtsbereich eine
Thrombose in der Hirnhauptvene gebildet, die fast tödlich verlaufen wäre. Die
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) wies daher bereits
mehrfach auf die Notwendigkeit zur strikten Hygiene hin. |
Das Verwaltungsgericht Gießen mußte sich Anfang 1999 mit der Frage
befassen, ob es sich beim Betrieb eines Piercing-Studios um ein erlaubnispflichtiges
Gewerbe handelt und ob insoweit das Heilpraktikergesetz Anwendung findet. Dabei
wurden interessante Ausführungen zur Ausübung der Heilkunde gemacht.
Der Fall: Der Landrat des Kreises Gießen untersagte mit Bescheid vom 27.11.1998
einem Piercing-Studio die weitere Ausübung des Piercing und ordnete gleichzeitig die
Schließung des Betriebes an; ein möglicher Widerspruch sollte keine aufschiebende
Wirkung haben. Gegen diesen Bescheid erhob die Studiobetreiberin am 2.12.1998 Widerspruch
und beantragte beim Verwaltungsgericht Gießen, die aufschiebende Wirkung des Bescheides
vom 27.11.1998 wieder herzustellen. Das Verwaltungsgericht Gießen lehnte diesen Antrag
mit Beschluß vom 9.2.1999 - 8 G 2161/98 - ab und erklärte, daß die Entscheidung der
Verwaltungsbehörde weder formell noch materiell zu beanstanden sei. Der eingelegte
Widerspruch habe offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Gegen den Beschluß vom
9.2.1999 wurde im Antrag auf Zulassung der Beschwerde gestellt; das Verfahren lag im März
1999 dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe: Nach § 1 Abs. 1 Heilpraktikergesetz bedürfe der Erlaubnis, wer die
Heilkunde, ohne als Arzt bestallt zu sein, ausüben wolle. Die Studiobetreiberin sei aber
weder bestallte Ärztin, noch habe sie die Erlaubnis als Heilpraktikerin. Entgegen der
Ansicht der Antragstellerin handele es sich bei den von ihr in ihrem Piercing Studio
vorgenommenen Tätigkeiten um Maßnahmen, die durch das HPG erfaßt würden. Die
inzwischen üblich gewordene Form des Piercens falle nämlich bereits auch ohne die
Verabreichung von Lokalanästhetika unter den Begriff der Heilkunde. Darunter fasse § 1
Heilpraktikergesetz jede Berufstätigkeit oder gewerbsmäßige Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder
Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen. Zwar beziehe sich der
Normtext dieser Legaldefinition nicht schon auf im weitesten Sinne kosmetisch indizierte
chirurgische Eingriffe. Eine an dem bloßen Wortlaut des § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz orientierte
Auslegung entspreche indessen nicht dem Sinn und Zweck dieses Gesetzes. Nach der vom Heilpraktikergesetz
beabsichtigten Aufhebung der für jedermann auf dem Gebiet der Heilkunde weitgehend
möglichen sog. Kurierfreiheit sollte der Kreis derjenigen begrenzt werden, die die
Heilkunde auszuüben befugt seien. Unter Berücksichtigung dieser Entstehungsgeschichte
werde Heilkundeausübung als eine solche berufsmäßige Tätigkeit angesehen, die
besondere ärztliche Fachkenntnisse gebiete. Heilkunde werde daher angenommen, wenn die
Tätigkeit nach allgemeiner Auffassung ärztliche oder heilkundliche Fachkenntnisse
voraussetze, sei es im Hinblick auf das Ziel, die Art oder die Methode der Tätigkeit
selbst, die, ohne Kenntnisse durchgeführt, den Patienten zu schädigen geeignet sei, oder
bezüglich der Feststellung, ob im Einzelfall mit der Behandlung begonnen werden dürfe,
und wenn die Behandlung - bei generalisierender und typisierender Betrachtung der in Rede
stehenden Tätigkeit - gesundheitliche Schädigungen verursachen könne. Hiervon ausgehend
umfasse § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz auch Maßnahmen, die nach seinem Wortlaut keine Ausübung von
Heilkunde darstelle, aber mit Rücksicht auf die Gefährlichkeit des Eingriffs oder
bezüglich der Frage, inwieweit dieser gefährlich sei, ein besonderes diagnostisches
Fachwissen erfordere. Tätigkeiten, die folglich ihrer Methode nach keine
Krankenbehandlung im eigentlichen Sinne seien, wegen der Schwere des Eingriffs und der
damit verbundenen Folgen aber letztlich der ärztlichen Krankenbehandlung gleichkämen,
ärztliche Fachkenntnisse vorausetzten sowie Gesundheitsschäden verursachen könnten,
fielen unter den Begriff der Heilkunde. Dementsprechend habe das Bundesverwaltungsgericht
sehr früh operative Eingriffe zu rein kosmetischen Zwecken sowie die ebenfalls als
kosmetischer Eingriff zu wertende Entfernung von Warzen unter diesen Begriff subsumiert.
Nur eine solche, auf die Notwendigkeit ärztlicher oder heilkundlicher Fachkenntnisse
abstellende Auslegung werde dem Ziel des Heilpraktikergesetz gerecht, die Gesundheit der Bevölkerung als
ein besonderes wichtiges Gemeinschaftsgut zu schützen. Nach diesen Grundsätzen werde
folglich bereits das Piercing ohne Lokalanästhesie von dem Begriff der Heilkunde erfaßt.
Hierbei würden nämlich Metallteile in den verschiedensten Formen etwa als Ketten, Ringe,
Stecker oder ähnliche Gegenstände nicht nur im gesamten Gesichtsbereich einschließlich
der Zunge, sondern auch an unterschiedlichsten Körperstellen angebracht. Diese
umfassenden Maßnahmen wolle ersichtlich auch die Studiobetreiberin durchführen, denn es
könnten sich die Kunden der Antragstellerin Metallteile an allen Körperteilen anbringen
lassen. Mit Recht verweise die Verwaltungsbehörde darauf, daß damit auch hochsensible
Nervenstränge nicht nur im Bereich der Zunge, den Augenbrauen, sondern auch zum Beispiel
im Genitalbereich tangiert sein könnten. Die damit verbundenen erheblichen Eingriffe in
die körperliche Integrität seien geeignet, bei unsachgemäßen Ausführungen zu
nachhaltigen Körperschäden zu führen, wie allgemein bekannt und u.a. in einem Bericht
im "Focus", Heft 49/1998, S. 210, belegt sei. Dort werde das Beispiel genannt,
wonach beim Piercen eines Augenlides Nerven dergestalt verletzt worden seien, daß der
Betroffene sein Augenlid nicht mehr automatisch zu öffnen vermöge. Dessenungeachtet sei
aber auf jeden Fall die von der Studiobetreiberin vorgenommene Verabreichung von Lidocain
zum Zwecke der Lokalanästhesie die Ausübung der Heilkunde im Sinne des § 1 Abs. 2 Heilpraktikergesetz.
Die Studiobetreiberin setze dieses Lokalanästhetikum dazu ein, um die bei dem Piercen
anfallenden Schmerzen zu betäuben. Damit nehme die Studiobetreiberin Tätigkeiten wahr,
die darauf abzielten, schon im Vorfeld der Schmerzentstehung anzusetzen, d.h. Leiden im
vorhinein zu verhindern. Darüber hinaus verlange auch die Handhabung von
Lokalanästhetika, daß die Betäubungsmittel nur durch Fachpersonal verabreicht würden.
Insbesondere das von der Studiobetreiberin verwandte Lidocain könne nach den Angaben des
Herstellers z.B. zu Schockzuständen führen, deren Behandlung sachgerecht nur Ärzte oder
Heilpraktiker vorzunehmen vermögen, so daß die Betreiberin des Studios nicht damit
gehört werden könne, sie habe die Berechtigung, Spritzen zu applizieren. Im übrigen
lasse sich nicht ausschließen, daß es durch falsch gesetzte Spritzen gerade in den
hochsensiblen Nervenbereichen zu Schädigungen komme, die nicht rechtzeitig erkannt
würden und deswegen besonders schwerwiegend seien.
Werner Schell (5/99)
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