Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Gesundheitsförderung als Aufgabe der Heilberufe
Stellungnahme der Bundesärztekammer
Gesundheitsförderung ist aus ärztlichem Selbstverständnis heraus die Grundlage
jeder Patientenbetreuung. Nur durch die stete Beachtung der Ursache-Wirkungszusammenhänge
von individuellen Verhaltensweisen und Lebensumständen des Patienten können auch
Maßnahmen der Kuration und Rehabilitation auf längere Sicht zum Erfolg führen. Gerade
die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen erfordern neue Denk- und
Handlungsweisen der Heilberufe mit einer stärkeren Ausrichtung des Gesundheitswesens auf
die Förderung von Gesundheit weit über die medizinischen kurativen Betreuungsleistungen
hinaus. Die Ärzteschaft hat auf diesem Weg eine wichtige Vorbildwirkung. Zur nachhaltigen
Dokumentation des Anliegens der Gesundheitsförderung als Aufgabe der Heilberufe hat der
Vorstand der Bundesärztekammer am 15. Oktober 1993 folgende Stellungnahme beschlossen:
I Das Konzept der Gesundheitsförderung
Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an
Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer
Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales
Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, daß sowohl einzelne als auch Gruppen ihre
Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern
beziehungsweise sie verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein
wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges
Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, daß die Bedeutung sozialer und
individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen
Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem
Gesundheitssektor, sondern bei allen Politikbereichen und zielt über die Entwicklung
gesünderer Lebensweise hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden (Auszug aus
der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der WHO).
II - Der Problemwandel in der Medizin
Nie zuvor waren die Gesundheitsbedürfnisse in der Bevölkerung so ausgeprägt wie heute;
dennoch gilt es, das Gesundheitsverhalten zu stärken. Nie zuvor gab es so viele
medizinisch-technische und medizinisch-wissenschaftliche Möglichkeiten wie heute,
Krankheiten zu heilen und zu lindern. Die Lebenserwartung ist erheblich gestiegen. Dadurch
hat sich das Krankheitsspektrum gewandelt und das Verständnis von Gesundheit verändert.
Diesem Problemwandel in der Medizin können die Ärzteschaft und die anderen Heilberufe
dadurch gerecht werden, daß ihre traditionellen Aufgaben auf den Gebieten der
Prävention, Kuration und Rehabilitation auf die Zielsetzung
"Gesundheitsförderung" hin weiterentwickelt werden.
Wandel des Krankheitsspektrums
Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung in unserer Gesellschaft hat zu einem
gravierenden Wandel des Krankheitsspektrums geführt, insbesondere zur Zunahme von
Mehrfacherkrankungen im Alter von chronisch-degenerativen Erkrankungen. Diese
Krankheitsgruppen werden allein durch die absehbare demographische Entwicklung zu den
bedeutendsten Gesundheitsproblemen der Zukunft.
Erweiterung des Gesundheitsbewußtseins
Gleichzeitig hat sich das Gesundheitsbewußtsein in unserer Bevölkerung erweitert.
Gesundheit wird heute nicht mehr allein als Fehlen von Krankheit begriffen, sondern als
subjektives Wohlbefinden infolge von Lebenszufriedenheit, Selbständigkeit, Flexibilität
und Kompetenz. Gesundheit beschreibt nicht mehr ein isoliertes und psychologisches
Problem, sondern vielmehr die Folge des sehr komplexen Wechselspiels zwischen personalen
Faktoren einerseits und den individuellen sozialen, ökonomischen und ökologischen
Lebensbedingungen andererseits.
III - Gesundheitsförderung: Gesellschaftliche Herausforderung und Aufgabe
der Heilberufe
Das veränderte Krankheitsspektrum und der Wandel des Gesundheitsverständnisses stellen
neue Herausforderungen an die Heilberufe, deren vorrangige Aufgabe bisher die Vermeidung
und Heilung diagnostizierbarer Krankheitssymptome waren. Chronische Krankheiten aber
zeichnen sich durch einen langfristigen symptomlosen Verlauf aus; die bisherigen
Versorgungsmaßnahmen können oftmals erst dann greifen, wenn bereits irreversible
Schädigungen vorliegen.
Aus diesem Grund müssen die Ärzteschaft und die anderen Heilberufe in Zukunft bei ihrer
Arbeit die "Bewahrung, Verbesserung und Wiederherstellung der Gesundheit (die
Gesundheitsförderung)" zum vorrangigen Ziel machen. Das Konzept der
Gesundheitsförderung muß die traditionelle krankheitsbezogene Arbeitsweise - das
Vermeiden oder die Behandlung objektivierbarer Risikofaktoren, Symptome und Krankheiten -
ersetzen.
Maßnahmen der Gesundheitsförderung können allerdings nur dann realisiert werden, wenn
die konkreten Lebensbedingungen dies erlauben. Die Gestaltung dieser Bedingungen ist aber
nicht nur eine Aufgabe von Staat und Gesellschaft; sie fordert - auch unter den
Bedingungen der zunehmend knapper werdenden Mittel im Gesundheitswesen - vor allem auch
mehr Mitbestimmung und Eigenverantwortung des einzelnen für seine Gesundheit durch
Stärkung der Autonomie des einzelnen, d.h.
Entwicklung persönlicher Kompetenzen, um auf die eigene Gesundheit Einfluß zu nehmen.
▶ Stärkung des Prinzips der Subsidiarität, d.h.
Unterstützung des einzelnen durch gesundheitsbezogene Gemeinschaftsaktionen in Familien,
Kindergärten, Schulen, Nachbarschaftsverbänden und Gemeinden.
▶Unterstützung des einzelnen durch eine solidarische
Gesellschaft, d.h. Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik und
Schaffung gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen (soziale Gerechtigkeit,
Chancengleichheit, angemessene Wohnbedingungen, Bewahrung der Umwelt, Bildung, Ernährung,
stabiles Ökosystem, Frieden).
Gesundheitsförderung (Tabelle 1) zielt also auf ein "Mehr an Gesundheit"
durch die gesundheitsfördernde Beeinflussung des individuellen Handelns und der Lebens-
und Umweltbedingungen. Dies gilt für Gesunde und Kranke gleichermaßen.
Tabelle 1: Gesundheitsförderung aus Sicht der Heilberufe |
A. Bewahrung und Verbesserung von Gesundheit (Prävention) |
Primärprävention |
▶ |
Förderung des individuellen und allgemeinen Gesundheitsbewußtseins
Beeinflussung von Risiko- und/oder Schutzfaktoren zur Verhinderung von Krankheiten |
Sekundärprävention |
▶ |
Früherkennung und/oder Frühtherapie von Gesundheitsstörungen zum Erhöhen der Heilungschancen und/oder zum Vermindern der Krankheitslast |
Tertiärprävention |
▶ |
Vermeidung des Wiederauftretens einer erfolgreich behandelten Krankheit, Vorbeugung des Fortschreitens einer chronischen Erkrankung |
B. Wiederherstellen von Gesundheit |
Kuration |
▶ |
Heilung von Krankheiten und/oder Linderung von Beschwerden |
Rehabilitation |
▶ |
Bestmögliche/Wiederherstellung der Gesundheit bzw. Reduzierung von Krankheitsfolgen trotz irreversibler Gesundheitsschäden |
IV - Der 3-Stufen-Plan zur Gesundheitsförderung
Gesundheitsfördernde Maßnahmen lassen nur dann einen langfristigen Erfolg erwarten, wenn
sie auf die Belange des einzelnen Menschen eingehen. Es gilt also vorrangig, diejenigen
Fähigkeiten des einzelnen zu stärken, die ihn mit den Problemen von Gesundheit und
Krankheit selbstverantwortlich umgehen lassen.
Dazu sind erforderlich
▶ die Vermittlung der Kenntnisse über gesunde
Lebensweise und über krankmachende Faktoren,
▶ die Hilfe bei der Entwicklung einer persönlichen
Einstellung zu gesundheitsförderndem Lebensstil, sowie - wenn nötig -
▶ die Motivation zur Verhaltensänderung.
Wie der "3-Stufen-Plan zur Gesundheitsförderung" zeigt (Tabelle
2), sind alle Maßnahmen originäre Aufgabe des Arztes in Zusammenarbeit mit anderen
Heilberufen.
1. Individuelle Gesundheitsberatung
Ein Beratungsgespräch zur Gesundheitsförderung hat nur dann einen Sinn, wenn es in einem
partnerschaftlichen Dialog geführt wird. Das bedeutet dann aber zugleich, daß sich der
Umfang der Betreuung erweitert. Über die bisherigen Maßnahmen zur Vermeidung und
Behandlung diagnostizierbarer Krankheiten hinaus muß die individuelle Gesundheitsberatung
versuchen, das subjektive Wohlbefinden durch Entwicklung von Lebenszufriedenheit,
Selbständigkeit, Flexibilität und Kompetenz zu verbessern.
Dem Arzt und den anderen Heilberufen kommt dabei insbesondere auch die Aufgabe zu, die
Eigenverantwortung des einzelnen zu fördern, und zwar mit folgenden Handlungsstrategien:
▶ über die Faktoren informieren, welche den
Gesundheits- bzw. Krankheitszustand beeinflussen.
▶ Den einzelnen bei der Definition des
individuellen Gesundheitsverständnisses unterstützen.
▶ Den einzelnen zur Bewahrung bzw. Verbesserung der
Gesundheit motivieren; dabei ist insbesondere die Fähigkeit zur Selbsthilfe zu entwickeln
und zu stärken.
Tabelle 2: "3-Stufen-Plan zur Gesundheitsförderung durch die Heilberufe" |
1. |
Individuelle Gesundheitsberatung,
d.h. Information und Motivation des Einzelnen zur gesunden Lebensweise. |
2. |
Gruppenarbeit mit Risikopersonen oder Kranken,
d.h. Planung, Anleitung, Supervision der Arbeit in Gruppen gleichbetroffener Risikogruppen und Patienten, Unterstützung von Selbsthilfegruppen. |
3. |
Mitwirkung an öffentlichen Gesundheitsprogrammen,
d.h. anwaltschaftliches Eintreten für gesundheitliche Belange des Bürgers und der Gemeinschaft in der Öffentlichkeit. |
2. Gruppenarbeit
Für immer mehr chronisch Kranke ist die Teilnahme an gesunheitsbezogenen
Selbsthilfegruppen ein Weg, um das Leben mit der Krankheit so gut wie möglich bewältigen
zu können. Für den Arzt und die anderen Heilberufe bieten sich hier vielfache
Möglichkeiten zu Kooperation an, und zwar bei
Information und Beratung
Organisatorischer Hilfe und
Unterstützung bei der Öffentlichkeitsarbeit
3. Mitwirkung an öffentlichen Gesundheitsprogrammen
Der dritte Komplex umfaßt die Gesundheitsprogramme außerhalb des individuellen
Arbeitsbereiches des Arztes und der anderen Heilberufe. Ziel dieser Stufe ist die
anwaltschaftliche Vertretung der gesundheitlichen Belange der Bürger und des Gemeinwohl
auch durch die Ärzte und die anderen Heilberufe und darüber hinaus die konzeptionelle
Beteiligung und Teilnahme an Gesundheitsförderungs-Programmen in der Öffentlichkeit, wie
z.B. in Krankenhäusern, Kindergärten, Schulen, Betrieben, Vereinen, Kommunen, in der
Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik.
V - Kooperation in der Gesundheitsförderung
Voraussetzung für erfolgreiche Arbeit auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung ist die
enge Kooperation zwischen den verschiedenen Heilberufen untereinander sowie mit anderen
Berufen, die sich mit Fragen der Gesundheitsförderung befassen.
VI - Qualifikation der Heilberufe in Gesundheitsförderung
Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit in der Gesundheitsförderung ist die
Aufnahme der entsprechenden Bildungsinhalte in die einzelnen Ausbildungen, in die
Prüfungskataloge und in die fachspezifischen Weiter- und Fortbildungsprogramme der
Ärzteschaft und auch der anderen Heilberufe.
VII - Das Gesundheitswesen neu orientieren
Die Heilberufe sollten darauf hinarbeiten, daß das Gesundheitswesen auf die stärkere
Förderung von Gesundheit ausgerichtet ist und weit über die medizinisch-kurativen
Betreuungsleistungen hinausgeht. Ziel dieser Bemühungen soll ein Wandel der Einstellungen
und der Organisationsformen sein, die eine Orientierung auf die Bedürfnisse des einzelnen
nach subjektivem Wohlbefinden, nach Lebenszufriedenheit, Selbständigkeit, Flexibilität
und Kompetenz ermöglichen.
Werner Schell (05/99)
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