Die Haftung Aufsichtsführender: Besondere Bedeutung kommt der
Aufsichtsbedürftigkeit zu
Wer kraft Gesetzes oder vertraglich zur Aufsicht über eine Person
verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder
körperlichen Zustands der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens
verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht
tritt nicht ein, wenn der Betreffende (z.B. Eltern, Betreuer, Lehrer, Pflegekraft) seiner
Aufsichtspflicht genügt hat (z.B. durch Belehrung, zumutbare Beaufsichtigung, Beseitigung
gefährlicher Gegenstände) oder wenn die Schädigung auch bei ordnungsgemäßer Aufsicht
entstanden wäre. Diese Grundsätze ergeben sich aus § 832 Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB).
Welchen Umfang die Aufsichtspflicht im einzelnen hat, hängt entscheidend von der
Aufsichtsbedürftigkeit des jeweiligen Minderjährigen/Kranken/Behinderten und namentlich
davon ab, welches Verhalten von ihm erwartet werden kann. Einerseits ist die
Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens sowie die Schwere des möglichen Schadens
von Bedeutung. Andererseits kommt es darauf an, welche Leistungen dem Aufsichtspflichtigen
zugemutet werden können. Schließlich sind in zahlreichen Fällen pädagogische
Gesichtspunkte für das Ausmaß der Aufsichtsführung mitbestimmend.
Auf einige Gerichtsentscheidungen, die sich mit der Beaufsichtigungspflicht befassen, soll
zur Verdeutlichung der Problematik kurz eingegangen werden:
Zwei Jugendliche waren mit Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertreter als Patienten in eine
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen worden. Sie konnten während des
Klinikaufenthaltes mehrfach entweichen und in einem der Klinik nahe gelegenen Haus
erhebliche Schäden anrichten. In einem Streitverfahren ging es vor dem Bundesgerichtshof
(BGH) um die Frage, wer für den Schaden zu haften hatte.
Der BGH ging in seiner Entscheidung vom 19.1.1984 - III ZR 172/82 - von einer
Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch die Klinik aus. Das Gericht meinte, daß es
zu den Pflichten des leitenden Arztes gehörte, die notwendige Beaufsichtigung der
jugendlichen Patienten durch entsprechende Anweisungen und eine angemessene Überwachung
ihrer Durchführung sicherzustellen. Der Träger der Klinik sei verpflichtet, das
ärztliche und nichtärztliche Personal durch Dienstanweisung über Inhalt und Umfang
ihrer Dienstpflichten zu unterrichten. Aus dieser Dienstanweisung müsse auch ersichtlich
sein, daß und in welchem Umfang die Freizeitgestaltung der Patienten zu beaufsichtigen
sei.
In einem anderen Verfahren ging es um Pflichtwidrigkeiten, die eine auf eigenen Wunsch in
der neurologisch-psychiatrischen Abteilung einer Klinik befindliche Patientin betrafen.
Bei der Aufnahme wurde eine Psychose mit wahnhaften Gedanken diagnostiziert. Am Abend des
Aufnahmetages drängte die Patientin, die Station verlassen zu dürfen. Schließlich
verließ die Frau die Station durch ein Fenster und sprang in die Tiefe; es kam zu
Verletzungen.
Das Oberlandesgericht (OLG) in Braunschweig verurteilte den Krankenhausträger mit
Entscheidung vom 14.2.1984 zum Schadensersatz. Daß die Patientin durch ein Fenster
gelangen und dann abstürzen konnte, sah das OLG als eine Vertragsverletzung an. Durch den
Krankenhausaufnahmevertrag habe das Krankenhaus die Verpflichtung übernommen, die zur
Heilung, Pflege und Wartung der Patientin erforderlichen Leistungen zu erbringen, sie vor
vermeidbaren Gefahren zu schützen und alles zu unterlassen, was diesem Ziel abträglich
sein könnte. Zur vertragsgerechten Erfüllung gehörte auch eine den Umständen
genügende Kontrolle der Patientin. Eine hinreichende Überwachung der Patientin wäre nur
dann gewährleistet gewesen, wenn sich die zuständige Krankenschwester unfern der
Patientin, jedenfalls aber an einem Ort aufgehalten hätte, von dem aus sie die Patientin
tatsächlich jederzeit hätte im Auge behalten können. Es wäre, so folgerte das OLG
weiter, Aufgabe des Krankenhauses gewesen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen,
daß die beauftragte Krankenschwester in der sich ergebenden Situation, die sich nach
Sachlage wegen der bestehenden Fluchtabsicht der Patientin schon bei Beginn des
Nachtdienstes abgezeichnet hatte, nicht überfordert wurde.
Bei Kindern, die sich als schwer erziehbar erwiesen haben, sind erhöhte Anforderungen an
die Aufsichtspflicht zu stellen. Dies ist der Tenor eines Urteils des OLG Hamm vom
27.4.1989 - 27 U 38/89 -.
Der Sachverhalt: Ein 10jähriger Junge zeigte Lern- und Verhaltensstörungen. Aufgrund
dieser Störungen war der Junge über ½ Jahr in einem Institut für Jugendpsychiatrie und
anschließend in einem Erziehungsheim untergebracht. Das Erziehungsheim, das als offenes
therapeutisches Heim geführt wird, gewährte dem Jungen nach ½ Jahr für eine Woche
Urlaub. Diesen Urlaub verbrachte der Junge bei seinen Eltern. Am letzten Urlaubstag kaufte
das Kind in einem Lebensmittelmarkt zwei Einwegfeuerzeuge und begab sich mit einem
8jährigen Spielgefährten in eine Halle. Dort entzündeten die beiden Kindern
Strohbänder. Das sich daraufhin entwickelnde Feuer ergriff die Halle und führte zu einem
Gesamtschaden von über 1 Million DM. Hinzu kamen die Kosten für den Betriebsausfall von
40.000 DM. Wegen des Betriebsausfallschadens verklagte der Geschädigte die Eltern des
Zehnjährigen. Begründung: Vernachlässigung der Aufsichtspflicht.
Das OLG folgte dem Klagebegehren. Es meinte, daß es von den Umständen des Einzelfalles
abhänge, welche Aufsichtsmaßnahmen gegenüber einem Minderjährigen geboten seien. Dabei
komme es auf Alter, Eigenart und Charakter des Kindes an. Ausschlaggebend sei, was
verständige Eltern auf der Grundlage vernünftiger Anforderungen unternehmen müßten, um
die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Welche Maßnahme in Betracht komme,
hänge wiederum vom Erziehungsstand des Kindes ab. Bei Kindern, die sich als schwer
erziehbar erwiesen haben, seinen erhöhte Anforderungen an die Aufsichtspflicht zu
stellen. Im vorliegenden Falle hätte die Aufsicht so gestaltet werden müssen, daß der
Junge sich nur in einem räumlich und zeitlich eng begrenzten Gebiet hätte aufhalten
können. Damit wären die schadensstiftenden Aktivitäten des Jungen unterbunden worden.
Werner Schell (06/99)
|