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Pro-aktive Seuchenbekämpfung in der Bundesrepublik
Flächendeckende Pockenimpfung der deutschen Bevölkerung: Eine rechtliche Einschätzung der aktuellen Debatte
Frankfurt, den 20. Februar 2003:
Biowaffen, Seuchengefahr, Millionen Tote - Die Diskussionen und sich selbst
übertreffenden Medientitel über die Gefahr einer Pockenseuche stehen zur Zeit
im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Dabei tauchen immer neue
Überlegungen zur konkreten Seuchenbekämpfung auf. In wie fern diese rechtlich
Bestand haben und überhaupt zulässig sind erörtert der Arzneimittel- und
Pharmarechtler Rechtsanwalt Andreas Jungk aus München in folgendem Interview
mit MedizinRecht.de.
MedizinRecht.de (MR.de): Die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt will für den
Fall eines terroristischen Anschlages mit Pockenviren etwa 100 Millionen
Impfdosen des Impfstoffes Elstree anschaffen. Welche rechtliche Grundlage gibt
es für eine flächendeckende Zwangsimpfung der Bevölkerung ?
RA Andreas Jungk (RA Jungk): Die Rechtsgrundlage für Zwangsimpfungen findet
sich im Infektionsschutzgesetzes (IfSG), daß das Bundesseuchengesetz mit
Wirkung vom 1. Januar 2001 ersetzt hat. Der § 20 IfSG mit der Überschrift
"Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe"
bestimmt in Absatz 6, dass das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt
wird, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass
bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der
spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit
mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen
Verbreitung zu rechnen ist. Das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit
(Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) kann bei Zwangsimpfungen insoweit eingeschränkt werden.
Ein Impfpflichtiger, der nach ärztlichem Zeugnis ohne Gefahr für sein Leben
und seine Gesundheit nicht geimpft werden kann, ist von der Impfpflicht
freizustellen.
Das bedeutet, dass Zwangsimpfungen durch eine Rechtsverordnung angeordnet werden
dürfen. Diejenigen Menschen, für die die Impfung mit einer Gefahr für Leib
und Leben verbunden ist, dürfen nicht geimpft werden. Dazu gehören neben
vielen anderen Risikogruppen Schwangere, Stillende, Babys unter 12 Monaten,
Menschen mit einer akuten Erkrankung sowie alle Haushaltsangehörige dieser
Gruppen. Aufgrund dieser weitreichenden Ausnahmeregelungen wird auch aus
medizinischen Gründen bereits angezweifelt, ob eine flächendeckende Impfung
überhaupt sinnvoll sein kann.
Als ein weiteres Argument gegen die Zwangsimpfung großer Bevölkerungsgruppen
wird die Auffassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herangezogen. Danach
muss das Hauptaugenmerk bei einem Pockenausbruch auf die schnelle und
vollständige Erfassung von möglichen Infizierten, sowie deren ausreichend
lange Isolierung gerichtet sein. Die WHO hat dazu einen Maßnahmenkatalog
ausgearbeitet, bei dessen Einhaltung ein eventueller Pockenausbruch ohne
Pockenimpfung zuverlässig innerhalb kürzester Zeit gestoppt werden kann. Dies
ist jedenfalls die Auffassung derjenigen, die sich generell aus medizinischen
Gründen gegen eine Pockenimpfpflicht aussprechen.
MR.de: Sind die Nebenwirkungen einer Impfung mit dem Elstree-Serum erfasst?
RA Jungk: Es herrscht offenbar Einigkeit darüber, dass der traditionelle
Impfstoff Elstree schwerwiegende Nebenwirkungen haben kann. Bei einer Million
Geimpften sollen etwa 2 Todesfälle auftreten, bei 15 Geimpften würden
bleibende Schäden verbleiben, bei weiteren 300 bis 400 würden
Gesundheitsschäden auftreten. Woher diese Zahlen eigentlich stammen, ist nicht
festzustellen, jedenfalls liegen offenbar keine entsprechenden Studien nach §§
40 ff. AMG vor. Bei einer Impfung aller Bundesbürger, also von rund 80
Millionen Menschen, bestünde daher das Risiko von etwa 80 bis 160 tödlichen
Zwischenfällen. Weiter muss man mit schweren Impfschäden, etwa
Gehirnhautentzündungen, bei einigen hundert Geimpften rechnen. Dass eine
Pockenimpfung gefährlich sein kann, wird durch die Aufstellung anerkannter
Impfschäden der Bundesrepublik Deutschland von 1990 bis 1999
(Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 4/2002)
untermauert. Dort wird festgestellt, dass bei der Aufteilung der anerkannten
Impfkomplikationen nach Art des Impfstoffes - prozentual gesehen – die
Pockenimpfung mit Abstand den größten Anteil aufweist. Die Impfkomplikationen
werden zu 64,7% bei der Pockenimpfung festgestellt, die nächsthöhere
Komplikationsrate betrifft die nun mehr verwendete orale Polioschutzimpfung mit
8,1%.
MR.de: Wie ist das Problem der zu erwartenden Impfschäden rechtlich geregelt?
RA Jungk: Das Infektionsschutzgesetz enthält auch eine Entschädigungsregelung
für Impfschäden, die aufgrund von Impfungen nach § 20 IfSG aufgetreten sind.
Ein Impfschaden wird in § 2 Ziffer 11 IfSG definiert als die gesundheitliche
und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion
hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung. Nach § 60
IfSG enthält derjenige eine Versorgung in entsprechender Anwendung des
Bundesversorgungsgesetzes, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere
Maßnahme der spezifischen Prophylaxe eine gesundheitliche Schädigung erlitten
hat. Die Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bestehen
hauptsächlich in der Heilbehandlung (§ 11 BVG) sowie in Renten, bzw. laufenden
Versorgungsbezügen. Weiter sieht das BVG Leistungen für Hinterbliebene, also
Witwen und Waisen, Leistungen für die Eltern des Geschädigten sowie
Bestattungsgeld und Sterbegeld vor. Auch kann gegebenenfalls eine
Kapitalabfindung an Stelle der jeweiligen Rente beantragt werden.
MR.de: Die derzeit in der Herstellung befindlichen Impfstoffe sind noch nicht
zugelassen. Im Fall einer Notfallimpfung der Bevölkerung soll die Zulassung
innerhalb weniger Tage erfolgen. Wäre das rechtlich möglich?
RA Jungk: Laut Angaben des Herstellers sind bereits erste klinische Studien mit
dem Impfstoff MVA abgeschlossen und die Zulassung in "greifbarer
Nähe", was auch immer das heißen mag. Tatsache ist aber, das weder MVA
noch das Elstree-Serum gemäß §§ 21 f. AMG zugelassen sind. Derjenige, der
ein nicht zugelassenes Arzneimittel in den Verkehr bringt, macht sich nach § 96
Ziffer 5 AMG strafbar. Ob die zuständige Gesundheitsministerin in einem Notfall
eine Ausnahme von der generellen Zulassungspflicht für Arzneimittel nach § 79
Abs. 1 AMG zulassen könnte, ist meines Erachtens nicht sicher. Durch § 79 AMG
wird das Bundesministerium zwar ermächtigt, im Einvernehmen mit dem
Bundesministerium für Wirtschaft durch Rechtsverordnung, die nicht der
Zustimmung des Bundesrates bedarf, Ausnahmen von den Vorschriften des AMG
zuzulassen, wenn die notwendige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln
sonst ernstlich gefährdet wäre. Davon darf aber nur Gebrauch gemacht werden,
wenn eine unmittelbare oder mittelbare Gefährdung der Gesundheit durch
Arzneimittel nicht zu befürchten ist.
Wenn man aber schon weiß, dass das Elstree-Serum erhebliche Nebenwirkungen
aufweist, würde dieser Umstand a priori eine Ausnahmezulassung ausschließen,
da eben eine direkte Gefährdung der Gesundheit zu befürchten wäre.
MR.de: Die Pockenimpfung vor über 30 Jahren birgt angeblich heute wenig Schutz
für die Geimpften. Gibt es hierüber medizinische Kenntnisse über die Folgen
einer Auffrischung für die Betroffenen, insbesondere unter dem Blickwinkel der
bekannten Schädigungen für den Impfling?
RA Jungk: Die Frage, ob Menschen, die bereits gegen Pocken geimpft worden sind,
im Falle eines Ausbruchs der Krankheit nochmals geimpft werden müssen, wird
allgemein mit ja beantwortet. Allerdings fehlen auch hier verlässliche
klinische Studien. Die Pockenimpfung wurde ja in Deutschland bereits 1975 und
weltweit 1980 ausgesetzt. Danach stellte die WHO offiziell fest, dass der
Pockenvirus ausgerottet sei. Nur in zwei ausgewählten Laboren in den USA und in
der ehemaligen UdSSR durfte dieser Virus noch weiter aufbewahrt werden. Deswegen
konnten in der Zwischenzeit keine entsprechenden Untersuchungen hinsichtlich der
Langzeitwirkungen durchgeführt werden. Man geht davon aus, dass ein Impfschutz
durch den Impfstoff Elstree alle 5 Jahre wiederholt oder aufgefrischt werden
muss, da nach diesem Zeitraum ein Impfschutz wohl nicht mehr gegeben ist.
MR.de: Hat jeder Bürger ein Recht, an einen Pockenimpfstoff zu gelangen? Wie
wäre es, wenn das MVA-Serum zugelassen wäre?
RA Jungk: Nein, der Impfstoff ist dem Bürger nicht zugänglich. Er ist, wie
schon gesagt, weder vom Paul-Ehrlich-Institut als zuständige deutsche Behörde
noch von entsprechenden Einrichtungen anderer Länder zugelassen worden. Er darf
daher nicht über Apotheken vertrieben, bzw. von Ärzten an Privatpersonen
abgegeben werden. Dies wäre nach dem AMG strafbar. Auch wenn ein
Pocken-Impfstoff zugelassen werden würde, was eigentlich nur bei dem MVA-Serum
denkbar wäre, bezweifle ich, ob dieser wegen sicherheitsrechtlichen Bedenken in
den freien Handel gelangen würde. Die WHO hat ja 1980 nicht umsonst den Umgang
mit Pockenviren untersagt. Ob und inwieweit allerdings eine Zulassung für das
MVA-Serum erfolgt, ist ohne Vorlage der klinischen Studien reine Spekulation. So
muss zum Beispiel geprüft werden, ob die Vorimpfung mit dem MVA-Serum nicht die
Schutzfunktion der Hauptimpfung mit dem alten Serum beeinträchtigt. Das Design
der entsprechenden Studien wird sicher nicht ganz einfach.
Rechtsanwalt Andreas Jungk, Jahrgang 1956, ist Pharma- und Arzneimittelrechtler
in München. Die Kanzlei Jungk & Jungk beschäftigt sich primär mit Themen
aus dem Bereich Pharma- Arzneimittelrecht/Klinischer Forschung. Einen besonderen
Schwerpunkt bilden die Vertragsgestaltung in der KliFo (CRO-Vertrag,
Prüfarztvertrag), Rechtsfragen der §§ 40 ff AMG und der bei der KliFo zu
beachtenden Vorschriften. Darüber hinaus beschäftigt sich die Kanzlei mit
Schiedsgerichtsbarkeit und Schiedsverfahren im Gesundheitswesen.
Quelle: Pressemitteilung MedizinRecht.de vom 21.2.2003
www.MedizinRecht.de
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