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Versorgung alter Menschen:
Droht der Pflegenotstand?
Tacheles am 30. September 2003 um 19.00 Uhr in der Marktkirche Hannover
Tacheles -Talk am roten Tisch ist die Talkshow der
evangelischen Kirche, die ausgestrahlt wird auf Phoenix, dem Ereignis- und
Dokumentationskanal von ARD und ZDF. Mehr dazu unter http://www.tacheles.net
Unsere Gesellschaft altert, und die Kosten der
Versorgung alter Menschen ist immer schwieriger zu finanzieren. Viele alte
Menschen fürchten den Gang ins Altenheim – droht ihnen die Versorgung nach
der Stoppuhr? Kritiker fordern, neue Modelle der Altersvorsorge zu entwickeln
und Altenheime abzuschaffen.
Die Debatte am roten Tisch
Unsere Gesellschaft altert, und die Kosten der Versorgung
alter Menschen ist immer schwieriger zu finanzieren. Viele alte Menschen
fürchten den Gang ins Altenheim – droht ihnen die Versorgung nach der
Stoppuhr? Oder sprechen Kritiker zu Unrecht bereits von einem Pflegenotstand in
Deutschland? Darum ging es mit Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, der
Parlamentspräsidentin der Evangelischen Kirche in Deutschland und
Oberbürgermeisterin Barbara Rinke, dem CDU-Politiker und früheren Vorsitzenden
der Bundestagskommission „Demographischer Wandel", Walter Link, dem
Pflegekritiker Claus Fussek, dem Chef der Rummelsberger Anstalten, Karl Heinz
Bierlein, der Angehörigen Astrid Wörn sowie dem Mediziner und Publizisten
Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner.
Ihre Mutter war in den letzten acht Jahren vor ihrem Tod in mehreren Heimen untergebracht, wie kam es dazu?
Astrid Wörn
Sie war siebzig Jahre alt, sie wurde vergesslich und kam nicht mehr alleine
zurecht. Wir hatten anfangs noch versucht, sie zu Hause zu pflegen. Was aber das
Problem bei vielen alten Menschen ist, sie wollte sich nicht helfen lassen. Als
sie lungenkrank wurde und ins Krankenhaus kam, war das der Anlass, sie ins
Pflegeheim zu bringen.
Als Angehöriger wünscht man sich ja, dass die Pflegekräfte liebevoll und
geduldig mit den alten Menschen umgehen, wie haben Sie das erlebt?
Wörn
Wir haben leider eine Pflegeodyssee hinter uns, wir haben achtmal die
Pflegeheime gewechselt. Dieser Wechsel war immer das Ende einer Katastrophe –
einmal die alltäglichen Lieblosigkeiten, die uns sehr verletzt haben. Meine
Mutter brauchte Hilfe beim Essen, aber ihr wurde nicht vernünftig das Essen
gereicht, man lief am Tisch vorbei und stopfte ihr das Essen hinein,
Toilettengänge wurden nicht mehr gemacht, ihr wurde die Hose wortlos
runtergerissen – das sind alles auch seelische Verletzungen, die ein alter
Mensch dabei erlebt.
Wie war das Zusammenspiel zwischen Ihnen als Angehöriger und den
Pflegerinnen, waren Sie gern gesehen?
Wörn
Ehrlich gesagt, nein. Ich habe über all die Jahre meine Hilfe angeboten und
habe auch geholfen. Aber mein Eindruck war, ich wurde eher als Eindringling oder
Kontrolleur gesehen. Ich habe mich immer wieder um Gespräche bemüht, aber es
hat nie eine konstruktive Zusammenarbeit gegeben, bis auf wenige Ausnahmen.
Herr Bierlein, Sie leiten mit den Rummelsberger Anstalten eine sehr große
Einrichtung, was sagen Sie zu diesen Erfahrungen?
Karl Heinz Bierlein
Das berührt mich sehr. Nach vielen Krisen kommt jemand in ein Altenpflegeheim,
niemand geht da freiwillig hin, weil das die schönste Form des Wohnens ist. Ich
trete dafür ein, dass wir von der Betrachtung von Einzelfällen zur Diskussion
über die strukturellen Probleme kommen.
Renate Schmidt
Ich habe meine Mutter und meine Schwiegermutter in einem Heim gehabt, meine
Mutter übrigens freiwillig, weil sie sich mit der ambulanten Versorgung nicht
mehr sicher gefühlt hat, und ich war nun mal in einem Beruf, der es nicht
möglich gemacht hat, mich dauernd zu kümmern. Sie hat sich im Heim anfangs
wohl gefühlt, meine Schwiegermutter auch. Trotzdem sage ich: Es sind viele
Einzelfälle. Und sie deuten darauf hin, dass es auch strukturelle Mängel gibt.
Nur dürfen wir nicht so weit gehen zu sagen, nun brauchen wir überhaupt kein
Heim mehr. Aber es ist zu fragen, wie Heime aussehen sollten. Was müssen wir
tun, damit Pflegerinnen, meistens sind es ja Frauen, und Pfleger genügend Zeit
haben. Ich besuche häufig Altenheime – wenn wir dort häufig gesagt wird,
dass 35 Prozent der Arbeitszeit einer Pflegerin für Bürokratie drauf geht,
dann müssen wir was ändern. Und das werden wir auch ändern, weil damit zu
wenig Zeit für die Pflegenden selbst investiert wird.
Haben wir den Pflegenotstand bereits?
Claus Fussek
Wir haben den Pflegenotstand seit vielen Jahren, seit Jahrzehnten. Die
Gesellschaft hüllt darüber den Mantel des Schweigens, mit dem Unwort
Einzelfall. Ich habe allein in den letzten sechs Jahren 30.000 Briefe, Faxe und
Emails bekommen von Menschen, die über Missstände in der Altenpflege klagen.
Über 70 Prozent sind traumatisierte Pflegekräfte, die so nicht mehr arbeiten
können, wollen und dürfen. Die Arbeitsbedingungen sind vielfach kriminell. Sie
schildern, dass sie keine Zeit mehr haben, Menschen würdig das Essen
einzugeben, stattdessen werden Magensonden angewandt. Dass sie keine Zeit haben,
mit den alten Menschen zur Toilette zu gehen, wie soll das gehen, wenn zwei
Pflegekräfte nachts für 150 alte Menschen da sind. Dass sie keine Zeit haben,
einem Sterbenden die Hand zu halten.
Walter Link
Wenn wir von alten Menschen sprechen, geht es meist um Krankheit. Aber 70
Prozent der 80-jährigen sind zu Hause und leisten alleine ihren Tagesablauf.
Ich habe in meiner Ausbildung zum Diakon selber alte Menschen gepflegt und bin
immer wieder in Altenheimen gewesen. Die 120.000 Pflegerinnen und Pfleger
leisten hervorragende Arbeit. Aber da, wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler.
Das müssen wir abstellen. Der Medizinische Dienst ist ständig unterwegs, um in
den Einrichtungen nachzuschauen, läuft das so, wie wir uns das vorstellen.
Eines ist schwer zu verstehen, dass die Arbeit am Menschen so viel schlechter
bezahlt wird als die Arbeit an der Maschine. Daran müssen wir etwas ändern.
Barbara Rinke
Ich komme aus dem Osten – durch das Glück der Wende hat sich die bis dahin
katastrophale Situation in der Altenpflege entscheidend gebessert. Dafür sind
wir dankbar. Gleichwohl haben wir die selben Probleme im Blick. Wir geben viel
Geld aus der Pflegeversicherung aus, aber davon kommt zu wenig bei den zu
Pflegenden an. Für mich als Vertreterin der Evangelischen Kirche ist wichtig,
dass der pflegebedürftige Mensch im Mittelpunkt steht, dass er in Würde alt
werden und sterben kann. Das ist Thema, über das wir nicht gern reden.
Wörn
Es wird auch schön geredet. Sonst würden nicht so viele schrecklichen Dinge im
Pflegeheim passieren. Die Pflegekräfte leisten eine unheimlich schwere Arbeit,
aber sie machen diese Arbeit großenteils nicht gut, sonst würde es solche
Erscheinungen wie Druckgeschwüre im Heim nicht geben, dass Menschen dort
verhungern und verdursten, wie kann das passieren, wenn die Pflege so gut ist?
Link
Die Bundesministerin Schmidt hat großen Anteil daran, dass wir seit dem 1.
August eine einheitliche Pflegeausbildung in Deutschland haben. Damit kommen wir
einen ersten Schritt weiter.
Bierlein
Und wir haben einen stark wachsenden Anteil von Fachkräften. Die Pflegekräfte
arbeiten oft unter größter Anspannung, das bringt die Situation mit sich.
Schmidt
Wir haben manche Verbesserungen auf den Weg gebracht. Nicht alles wirkt schon.
Ich will nichts schönreden, ich weiß, dass es nicht gut ist. Ich möchte nicht
fragen, wer sich hier in dieser Kirche darauf freut, dass er später mal ins
Heim kommt. Da dürfte keine einzige Hand hoch gehen. Wenn wir das für uns
selber am liebsten nicht wollen, dann müssen wir uns fragen, warum nicht. Und
was wir verändern müssen, dass wir zwar nicht begeistert ins Pflegeheim
ziehen, aber dass uns das keine Angst macht.
Wir haben heute gerade entschieden, dass wir in einem Modellvorhaben
Altenpflege- und Krankenausbildung mehr zusammenbringen, da müssen Kenntnisse
verbessert werden. Und ich werde jetzt gemeinsam mit Ulla Schmidt einen Runden
Tisch Pflege einrichten, um gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir die Pflege
verbessern können, damit am Ende eine Charta der Hilfsbedürftigen steht.
Vielleicht geht es dann schneller als in den letzten Jahren, ich habe mir das zu
meinem Anliegen gemacht.
Fussek
Ich habe viele Veranstaltungen erlebt, und es immer wieder dasselbe. Reflexartig
wird das Personal immer wieder durchgelobt. Das Personal klatscht dann gern,
auch wenn man sagt, dass es zu wenig verdient. Wie hoch ist die
Leidensfähigkeit der Pflegekräfte? Für mich ist gespenstisch, wenn mir
Menschen Zustände schildern, dass ich denke, die rufen aus Afghanistan an. Wie
halten sie das aus? Sie haben Angst zu reden, viele fürchten ihre Heimleitung
offenbar mehr als den Staatsanwalt.
Für mich ist die Nagelprobe: Welches Heim kann es sich leisten, dass ein
Bewohner so oft zur Toilette gehen kann, wie er muss und möchte? Dass jeder
pflegebedürftige Mensch das Essen in dem Tempo bekommt, wie er kauen und
schlucken kann? Dass jeder pflegebedürftige Mensch auch nur einmal in der Woche
an die frische Luft kommt? Dass man den Menschen in den Arm nimmt und mit ihm
spricht? Dass man sie nicht zwangsweise in Doppelzimmer einquartiert? Denn wer
von uns kann sich schon vorstellen, das Frühstück zu bekommen, während der
andere im Zimmer gerade seine Notdurft verrichtet.
Wie konnte es in Deutschland dazu kommen, dass die Menschen auf diese Weise
altern?
Klaus Dörner
Ähnlich wie in anderen Ländern geschah im 19. Jahrhundert etwas, das es zuvor
nicht gab: der Versuch, schwer hilfsbedürftige Menschen aus ihren Familien und
Lebenswelten herauszunehmen, um sie in dafür geschaffenen sozialen
Einrichtungen tendenziell lebenslänglich zusammenzufassen. Mit der
Industrialisierung wurde Vollbeschäftigung möglich – man wollte alle
erwerbsfähigen Menschen in der Produktion haben und hat ihnen vermittelt, lasst
euch die Sorge für die sorgebedürftigen Menschen von Profis abnehmen.
Woher kommen dann die Klagen über die Altenpflege?
Dörner
Es war zunächst eine Erfolgsstory, Steuern statt Zeit zu geben. Daran haben wir
hundert Jahre geglaubt. Mittlerweile gibt es immer mehr Alte, und damit auch
immer mehr Altersverwirrte, und das hat neue Fragen aufgeworfen...
Link
... sie wird weiter steigen, Experten erwarten eine weitere Verdopplung der Zahl
der Altersverwirrten.
Wir haben die Pflegeversicherung seit acht Jahren – ihr
Grundgedanke war, Pflegebedürftigkeit sollte kein Armutsrisiko mehr sein.
Dafür ist heute die Pflege durchbürokratisiert. Nach den Richtwerten darf das
Zubettgehen ein bis zwei Minuten dauern, Entkleiden zuvor vier bis sechs
Minuten, Haare kämmen höchstens drei Minuten – Nächstenliebe nach der
Stopphuhr?
Bierlein
Das ist unmenschlich. Wenn die Heimaufsicht zu uns kommt, muss ich zuvor vier
Kilo Papier abliefern, damit die sich überhaupt vorbereiten kann. Das halte ich
für pervers. Und wenn die Pflegeversicherung 135 Seiten umfasst und 870 Seiten
zusätzliche Verordnungen und Regelungen, kann man sich vorstellen, was das
bedeutet. Das hat dem Ethos der Pflegekräfte erheblich geschadet.
Wörn
Richtig, das Personal wird von den wichtigen Arbeiten abgezogen für
Büroarbeiten. Ich habe aber wiederholt erlebt, dass in der Pflegedokumentation
Dinge eingetragen waren, wie Trinkbesser geleert, Essen verabreicht, was meine
Mutter nie bekommen hat. Ich habe erlebt, dass ich mittags um zwölf kam, da
waren schon die Trinkbecher für nachmittags um vier verzeichnet.
Schmidt
Die Bürokratie wuchert. Aber nicht alles ist überflüssig. Die
Pflegedokumentation abzuschaffen – betrügerische Dinge jetzt mal außen vor
gelassen – wäre der größte Fehler, den wir machen könnten. Ich war
vergangene Woche in einem sehr gut geführten Heim der Diakonie, dessen Leiter
erzählte mir, dass es 41 Gesetze gibt, von denen er betroffen ist, bis hin zur
feuerpolizeilichen Verordnung. Sein Heim werde stärker kontrolliert als ein
Atomkraftwerk. Das möchte ich gern herauskriegen mit dem Runden Tisch Pflege,
was brauche ich an Sicherheit für die zu Pflegenden, und wie kann ich zugleich
Bürokratie abbauen.
Fussek
Herr Bierlein, Sie haben davon erzählt, dass sich die Heimaufsicht anmeldet.
Eine angemeldete Kontrolle, etwas Absurderes gibt es ja gar nicht...
Bierlein
... es gibt genügend unangemeldete!
Fussek
Ich würde gern an die Pflegekräfte appellieren: Konfrontiert die
Verantwortlichen mit de Realität. Das heißt, nur noch unangemeldete,
qualifizierte Kontrollen. Liebe Frau Schmidt, wenn sich mal ein politisch
Verantwortlicher in ein Pflegeheim verirrt...
Schmidt
...ich verirre mich nicht, ich gehe da regelmäßig hin.
Fussek
Mir geht es darum, wenn sich jemand von der Politik in ein Heim kommt, ist der
Termin angekündigt. Das heißt, das Haus ist präpariert.
Bierlein
Das ist bei uns nicht so.
Fussek
Ich möchte, dass die Kontrolleure wirklich mit der Wirklichkeit konfrontiert
werden – damit sie sehen, dass man mit zu wenig Pflegekräften nicht die
erforderliche Qualität bringen können.
Rinke
Wenn noch weniger junge Menschen geboren werden, werden immer weniger Junge da
sein, um eine wachsende Zahl alter Menschen zu pflegen. Darum müssen wir uns
heute schon Gedanken machen darüber, wie können wir die Systeme um das
Pflegeheim drumherum stabilisieren, von anderen Einrichtungen über die Familie
bis zur Kirchengemeinde.
Schmidt
Wir können viel von den Dänen und Niederländern lernen. Wir brauchen
beispielsweise mehr Tagespflegeheime, damit Erwerbstätige die Chance haben, am
Morgen ihre pflegebedürftigen Angehörigen dorthin zu bringen und sie am Abend
zu sich wieder abzuholen. Ambulant vor stationär, dieses Prinzip wird noch viel
zu wenig angewandt. Ohne dass ambulant immer gut ist, auch dort passieren Dinge,
die nicht vorkommen dürften. Und ich freue mich über jeden Menschen, der zu
Hause gepflegt werden kann. Aber bitte tun wir auch da nicht so, als ob zu Hause
überall alles in Ordnung wäre. Es ist nicht in einem Bereich alles Gold und im
anderen alles Mist. Wir müssen neue Formen mit mehr Selbstbestimmung
entwickeln. Viele ältere Menschen im Heim können und wollen noch was tun. Ich
habe mich bei meiner Mutter, als sie im Heim war, gefragt, warum die im Sommer
zu den Rindsrouladen Rotkraut aus der Dose bekommen haben, aber kein einziges
Mal frischen Spargel, obwohl mindestens zwanzig Bewohnerinnen gern bereit
gewesen wären, beim Spargelschälen zu helfen. So etwas hilft den Menschen ein
Stück weiter.
Ist nicht genug Geld im Pflegesystem da – sollten auch Steuergelder in die
Pflege fließen, brauchen wir mehr persönliche Vorsorge?
Bierlein
Mit den Pflegeentgelten, die wir jetzt haben, ist das nicht alles zu schaffen,
was wir uns vorstellen. Für die Altenpflege brauchen wir mehr Ressourcen –
aber das ist nicht nur Geld, sondern auch Mithilfe von Menschen, die dafür
nichts bezahlt bekommen, das sage ich ganz offen. Eine bezahlte Pflegekraft kann
nun mal nicht im Sommer einen gebrechlichen Menschen spazieren fahren und dafür
volles Entgelt bekommen. Wir haben mit Ehrenamtlichen gute Erfahrungen gemacht,
etwa mit den Grünen Damen, Frauen, die Besuchsdienste machen. Oder mit
Hospizgruppen, die bei uns ihr Büro haben und Sterbende begleiten.
Link
Ich möchte selbstkritisch sagen, ich habe Jahre lang auf der Straße gestanden
mit Norbert Blüm, um für die Pflegeversicherung zu streiten, aber ich bin
nicht mehr bereit, die Pflege auf die Sekunde mitzumachen. Für mich gehört zur
Pflege, nicht nur etwas für den Körper, sondern auch für die Seele zu tun,
Zeit zu haben, um mit dem Menschen, der den ganzen Tag auf die Pflegekraft
wartet, zu reden und ihn in den Arm zu nehmen. Ich wäre bereit, noch einen
Feiertag zu opfern, damit wir mehr Geld in die Kassen bekommen. Die Japaner
haben einen Feiertag für die alten Menschen in ihrem Land. Da ist die Würde
des alten Menschen hoch angesehen. Wir haben in Deutschland 1,8 Millionen
Pflegebedürftige, diese Zahl wird sich in Zukunft verdoppeln. Dafür brauchen
wir eine kapitalgedeckte Pflegeversicherung, um mehr Geld für eine Pflege von
Körper, Seele und Geist zu haben.
Fussek
Warum verlangt die Politik nicht endlich, dass die Pflegeheime ihre Buchführung
offen legen müssen? Es kann nicht sein, dass manche Heime mit ihrem Geld gute
Arbeit machen und andere mit dem selben Etat nicht klar kommen.
Bierlein
Wir legen unsere Bilanzen offen.
Ich habe als evangelischer Pfarrer rund hundert Paare getraut, und bei der Frage
nach der Kollekte wünschte sich die große Mehrheit Geld für eine
Kinderkrebsstation oder Terre des hommes, aber nie habe ich erlebt, dass ein
Paar für ein Altenpflegeheim spenden wollte. Fehlt es da an Bewusstsein, auch
in der Kirche?
Rinke
Ja, zu viele glauben, dass mit der Pflegeversicherung alles geregelt sei. Wenn
etwas institutionalisiert ist, verabschieden sich die Menschen im Geist davon.
Schmidt
Wir verdrängen gründlich, dass wir schwer erkranken und hilfsbedürftig werden
können und dass wir sicher sterben werden. Darum kommen wir da nicht weiter,
denn auch die Politik braucht doch die Zustimmung, für die Altenpflege mehr zu
tun. Heute werden noch immer 70 Prozent der hilfsbedürftigen Menschen zu Hause
gepflegt und nur 30 Prozent in Heimen. Dieses Verhältnis wird sich zugunsten
der Heime verschieben, weil keine Kinder da sind oder in anderen Orten
erwerbstätig sind. Dann werden wir mehr Geld für die Pflege brauchen. Ich
schließe mich Franz Müntefering an, der mal gesagt hat, es gibt ein Recht auf
eine menschenwürdige Pflege, aber es gibt kein Recht auf ein ungeschmälertes
Erbe. Ich sehe nicht ein, dass einer vermögenden Witwe ihr Vermögen belässt
und dafür die Verkäuferin höhere Beiträge zahlen muss.
Wörn
Was ich all die Jahre, während meine Mutter gepflegt wurde, in den Heimen
vermisst habe, war eine Gesprächskultur. Hier sollten Heimleiter bei ihrem
Personal mehr für eine innere Bildung sorgen. Wenn eine Pflegerin morgens in
das Zimmer eines alten Menschen kommt, wortlos das Deckenlicht anknipst und ihm
die Bettdecke vom Körper reißt, oder ihn mit ein paar netten Worten weckt,
dann hat das nichts mit Geld zu tun.
Was können wir verändern?
Dörner
Ich will nicht alle Heime auflösen, aber angesichts einer immer mehr alternden
Gesellschaft wird das Geld nicht mehr ausreichen. Wir sollten den Bürgern
reinen Wein einschenken und ihnen sagen, euer Geld brauchen wir weiter, aber
auch etwas von eurer Zeit.
Also lassen wir die Heime, wie sie sind, und appellieren an das
Gutmenschentum?
Dörner
Das reicht sowieso nicht. Wir können nicht mit der Zahl der Heimbewohner die
Zahl der Pflegekräfte mitwachsen lassen. Und da müssen wir von den Heimen
wegkommen, das mag 50 oder 100 Jahre dauern und es wird vielleicht nie ganz ohne
Heime gehen. Ich komme aus der Psychiatrie und habe es mit psychisch Kranken
vorgemacht. Die Norweger und Schweden brauchen für Behinderte schon keine Heime
mehr, und da kommen wir auch bei den Alten weiter. Die Bürger wollen immer
weniger ins Heim, und mit betreutem Wohnen werden die Selbstständigsten
abgeschöpft. Damit bricht die früher gesunde Mischung von sehr gebrechlichen
und eher selbstständigen Alten bricht zusammen. Die Menschen kommen erst mit
immer höherem Alter ins Heim. Heimleiter sagen, die Pflegekräfte haben gar
keine Zeit mehr, mit den alten Menschen eine Beziehung zu knüpfen, bevor sie
schon Sterbende sind. Damit macht sich das Heimsystem selber zum Auslaufmodell.
Was ist die Alternative?
Dörner
Eine Idee haben die Skandinavier vorgemacht, also Menschen beim Leben in den
eigenen vier Wänden zu unterstützen, und wenn das nicht mehr geht, nicht
gleich zu sagen, ab ins Heim, sondern möglichst in jedem Stadtviertel ambulante
Pflegegruppen zu schaffen in familienähnlicher Größe mit sechs bis acht
altersverwirrten Menschen – damit sie, wenn sie die Vertrautheit ihrer vier
Wände aufgeben müssen, nicht auch noch die Vertrautheit ihres Stadtviertels
verlieren. Das hat den Begleiteffekt, dass die bisherigen Bezugspersonen wie
Familienangehörige, Freunde, Nachbarn oder auch Menschen, die sich zu diesem
Viertel bekennen, sich eher bereit finden werden, sie weiter zu begleiten.
Im Schnitt würde eine Gruppe von acht altersverwirrten Menschen auf 1600
Menschen im Wohnviertel kommen, da werden sich doch einige finden, die in der
ambulanten Wohnpflegegruppe mitarbeiten werden, weil dies zehn, zwanzig Jahre
ihnen selber zu gute kommen würde.
Schmidt
Das finde ich wunderbar, wohnortnah alle Einrichtungen zu haben, vom Leben in
den eigenen vier Wänden über die Tagespflege über das Altenpflegeheim bis zum
Hospiz. Ich meine, dass ehrenamtliches Engagement zusätzlich die professionelle
Pflege ergänzen muss. Dabei denke ich an die Generation der gewonnenen Jahre,
die Menschen zwischen 60 und 80, die im Vollbesitz ihrer geistigen und
körperlichen Kräfte sind. Die jüngere Generation muss Geld verdienen und ihre
Kinder groß ziehen, da wird es ein bisschen viel. Aber wer diese Pflichten
nicht mehr hat, mag vielleicht hier Pflichten übernehmen. Ich bin im Moment
dabei, durch eine Kommission zur Zukunft der Zivilgesellschaft herausfinden zu
lassen, ob wir nicht ein freiwilliges soziales Jahr nicht nur in jungen Jahren,
sondern auch in älteren Jahren einführen sollten.
Dörner
Das nehme ich wohlwollend zur Kenntnis...
Schmidt
...und ich nehme ihre Äußerung zu den Heimen wohlwollend zur Kenntnis, die hat
sich ja etwas abgeschliffen in den letzten Monaten.
Dörner
An vielen Stellen sind Bürger dabei, Schritte in diese Richtung zu übernehmen.
Da schicken Dörfer eine Delegation zum Sozialhilfeträger und sagen, wir wollen
unsere Alten selber betreuen und lassen sich ausrechnen, ob das mit einem
Kleinstheim oder einer ambulanten Pflegegruppe zu schaffen ist, und wollen das
dann selber betreiben. Das mag mit professionellen Pflegekräften gemacht
werden, aber ich denke an die Zeit, wo das nicht mehr reichen wird. Es muss
Bürgern zugemutet werden, sich zu beteiligen, und sie werden es machen.
Fussek
Das können wir sofort umsetzen. Aber die häusliche Pflege kämpft um die
Existenz. Warum ist es nicht möglich, die Familien mehr zu stärken – sie
sind der größte und billigste Pflegedienst der Nation. Es gibt viele, die
würden ihre Angehörigen gern selbst versorgen, aber brauchen dafür
bedarfsgerechte und bezahlbare Unterstützung.
Schmidt
Die Sätze der Pflegeversicherung zu erhöhen, wäre derzeit eine absolute
Illusion. Wenn ich bei vielen Besuchen in Heimen höre, dass Pflegebedürftige
vor kurzem noch als schwer pflegebedürftig nach Stufe 3 galten, und dann
plötzlich nur noch Stufe 2 sein sollen, also weniger Geld bekommen, da ist der
Medizinische Dienst so pingelig geworden, dass die Einstufung in Stufe 3 immer
weniger vorkommt. Da müssen wir mal fragen, ob das korrekt ist. Auch mir kommt
es eigenartig vor, dass es am einen Ort mit einem niedrigen Pflegesatz wunderbar
läuft, und an einem anderen vergleichbaren Ort mit mehr Geld katastrophal ist.
Rinke
Wir müssen alle selber mehr vorsorgen für das Alter, wer das kann. Ich kenne
Pflegeheime, die mit richtig Gewinn arbeiten, das finde ich nicht angemessen.
Man sollte sich an der Pflege alter Menschen nicht bereichern und Geschäfte
machen. Dazu wäre die Offenlegung der Bilanzen ein wichtiger Schritt.
Bierlein
Wir sind weit davon entfernt, mit der Altenpflege das große Geschäft zu
machen. Das ist nur dann möglich, wenn man das Personal so herunterfährt, dass
menschliche Pflege nicht mehr möglich ist.
Fussek
Aber es werden Geschäfte mit der Altenpflege gemacht, und das war politisch so
gewollt. Die Pflege ist der freien Marktwirtschaft übergeben worden. Da wird
die Behandlung eines Druckgeschwürs penibel abgerechnet, aber wenn der alte
Mensch ins Krankenhaus kommt, kostet das an die 30.000 Euro, das Jahresgehalt
einer Altenpflegerin. Man könnte mit besserer Prävention Milliarden einsparen.
Wörn
Es gibt Heimbetreiber, die innerhalb weniger Jahre ein Dutzend neuer Heime aus
dem Boden gestampft haben, da frage ich mich, woher das Geld kommt.
Fussek
Es liegt an der Haltung. Die fängt mit der Heimleitung an, ob es Supervision
gibt, ob es Mobbing gibt, und ob ein großer Träger mit einem Wasserkopf
dahinter steht.
Link
Manches von dem, was sie sagen, finde ich überzeugend, und manches sehr lieblos
vorgetragen. Ich komme aus der Diakonie, und was die Diakonie und die Caritas
geleistet haben, ist großartig. Ich halte trotzdem für richtig, dass wir den
Markt freigegeben und Konkurrenz zugelassen haben. 23 Prozent unserer Mitbürger
sind heute über 60 Jahre alt, im Jahr 2040 werden es fast 40 Prozent sein. Wir
brauchen barrierefreie Stadtteile, altenfreundliche Straßenbahnen, um ihre
Beweglichkeit nicht einzuengen.
Das gehört zu der Haltung gegenüber älteren Menschen – wie können wir
sie weiter verbessern?
Rinke
Es ist schwierig, von heute auf morgen umzusteuern. Wir sind ja eine
Gesellschaft der Ichlinge geworden. Die meisten denken vor allem an sich selbst,
und die Schwächeren werden an den Rand gedrängt. Die evangelische Kirche steht
für ein christliches Menschenbild, und das wieder stärker zu entwickeln, ist
noch ein weiter Weg.
Wörn
Wir haben in unserer Gesellschaft ein geistiges und menschliches Niemandsland.
Ich habe es in Gesprächen mit Altenpflegekräften freundlich probiert, mit
Nachdruck probiert, um etwas für meine Mutter durchzusetzen. Angehörige
sollten auf die Pflegekräfte umgehen, und andersherum, um gemeinsam etwas für
die Alten und Bedürftigen zu tun.
Das vierte Gebot lautet, du sollst Vater und Mutter ehren, auf
dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden. Leben wir danach, und was
heißt das für unseren Umgang mit alten Menschen?
Rinke
Das muss jeder für sich selber beantworten. Ich empfinde den Familienverbund
als ideal, aber nicht erst im Alter. Vater und Mutter zu ehren heißt für mich,
möglichst lange Kraft zu haben, um sie selber zu begleiten, und wenn sie in ein
Heim müssen, dass man sie regelmäßig besucht und ein zuverlässiger Partner
ist, um sie am Leben teilhaben zu lassen. Dass man von der Liebe, die man als
Kind bekommen hat, etwas zurückgeben möchte.
Bierlein
Auf den Ernstfall des Lebens, dass ein alter Mensch ins Pflegeheim kommt,
bereiten sich viele nicht vor. Und dann bricht die Katastrophe an. Das hängt
damit zusammen, dass die Heime noch zu sehr isolierte Einrichtungen sind. Die
Türen müssen weit aufgehen, von beiden Seiten. Wenn ich meine Mutter besuche,
nehme ich regelmäßig meine Tochter und den Hund mit, und da ist eine andere
Stimmung da.
Schmidt
Es gibt Dinge, die kann und muss die Politik tun – aber auch darum, was
müssen wir selber tun. Wenn ich meine Mutter und meine Schwiegermutter zu
Weihnachten nach Hause genommen habe, habe ich manchmal noch jemanden
zusätzlich mit nach Hause genommen, weil ich nicht ertragen habe, dass jemand
zu Weihnachten alleine im Heim ist. Und die Alleingelassenen waren nicht alle
kinderlos. Wieso schiebt man sie ab? Das kann keine Politik lösen, diese
Verantwortung hat jeder von uns.
Fussek
Meine beiden Kinder haben mir eine Tafel geschenkt, darauf steht: Sei lieb zu
deinen Kindern, denn sie suchen dir später das Altersheim aus. Da ist was dran.
Manchmal werden alte Rechnungen beglichen, und ich unterscheide zwischen
Angehörigen und Erben.
Schmidt
Es gibt viel zu viele Altenheime in Gegenden, die zwar schön sind, aber so
entlegen, dass selbst die Rüstigen am menschlichen Leben nicht mehr teilnehmen
können. Sie gehören mitten in den Ort und nicht auf die grüne Wiese.
Fussek
Ich habe noch keinen Bundeskanzler oder Bundespräsidenten erlebt, der das Thema
pflegebedürftige Menschen zur Chefsache gemacht hat. Bei keiner
Weihnachtsansprache, bei keiner Neujahrsansprache, nirgends.
Schmidt
Ich werde es weitergeben.
Wörn
Ich habe meine Mutter mehrmals in der Woche besucht und würde es immer wieder
machen, trotz aller Belastungen. Wenn man in die Sphäre eintritt, einem kranken
oder sterbenden Menschen zu begegnen, kann das auch ganz kraftvoll für einen
selber sein, weil man plötzlich mit ganz anderen Dingen konfrontiert ist.
Dieser Sinn in der Begegnung sollte wieder mehr Einzug in die Pflege halten.
Link
Vater und Mutter ehren heißt für mich, die alten Menschen nicht abzuschieben,
sondern sie mitten unter uns zu haben.
Moderation: Hanna Legatis und Pastor Jan Dieckmann
Dokumentation: Thomas Hestermann
© 2002 Tacheles-Redaktion c/o ekn-TV
Königstraße 7, 30175 Hannover
Tel. (0511) 388 57 58, Fax 388 57 59
http://www.tacheles.net
Die Vorstellung der Diskussionstexte unter wurde von Herrn Thomas Hestermann, Redaktion Tacheles, mit E-Mail-Zuschrift vom 6.10.2003 genehmigt!
Werner Schell, 08.10.2003
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