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Statement von NRW-Justizminister Wolfgang Gerhards anlässlich der Pressekonferenz im Düsseldorfer Landtag zum Thema: Einleitung Worum geht es? Ein 20jähriger Mann ist an Schizophrenie erkrankt; ein 40jähriger Mann erleidet bei einem Verkehrsunfall schwere Gehirnverletzungen; eine 80jährige Frau wird aufgrund einer altersbedingten Demenz zunehmend verwirrt. In diesen Fällen bedarf es einer intensiven medizinischen und sozialen Versorgung. Daneben kann nach den Umständen des Einzelfalls aber auch eine rechtliche Hilfestellung – die Betreuung - notwendig sein. Die Betreuung hat die Aufgabe, krankheitsbedingte rechtliche Defizite auszugleichen. So werden geistig behinderte und psychisch oder seelisch kranke Menschen vielfach nicht in der Lage sein, Verträge abzuschließen oder zu erfüllen, dem Beratungsgespräch eines Arztes zur Vorbereitung einer medizinischen Behandlung zu folgen oder im Umgang mit Behörden ihre Rechte zu vertreten. Sie bedürfen deshalb eines Betreuers für Rechtsangelegenheiten. Mit dieser Hilfestellung ist jedoch auch eine Entrechtung verbunden, da der Betreuer anstelle des betroffenen Menschen als gesetzlicher Vertreter handelt. Diese Entrechtung, die von Vielen als Bevormundung und Entmündigung empfunden wird, ist nur gerechtfertigt, wenn andere Hilfen nicht zur Verfügung stehen oder versagen. Das Betreuungsrecht enthält deshalb die Prinzipien der Subsidiarität, der Erforderlichkeit und der Rehabilitation: Nach dem Prinzip der Subsidiarität darf ein Betreuer nicht bestellt werden, wenn die Betroffenen ihre Angelegenheiten mittels einer Vorsorgevollmacht geregelt haben oder andere Hilfestellungen wie die eigene Familie, Nachbarn und Bekannte, das Heimpersonal oder allgemeine soziale Dienste vorhanden sind, die die rechtlichen Defizite ausgleichen können. Das Prinzip der Erforderlichkeit bestimmt weitergehend, dass selbst im Falle einer Betreuungsbedürftigkeit die Betreuung nur und insoweit angeordnet werden darf, wie der Betroffene seine rechtlichen Angelegenheiten selbst nicht mehr verantwortlich regeln kann. Schließlich verlangt das Prinzip der Rehabilitation, dass die Betreuung darauf ausgerichtet ist, die Defizite der betroffenen Menschen - soweit möglich - zu beseitigen und sie in ein vollständig selbst bestimmtes Leben zurückzuführen. Diese Prinzipien werden in der alltäglichen Praxis des Betreuungsrechts nicht immer umgesetzt. Es bestehen keine hinreichenden Instrumentarien, das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenwürde der Betroffenen vollständig zu verwirklichen und ihren Willen umzusetzen. Es hat sich vielmehr ein justizlastiges und bürokratisches Verfahren herausgebildet, das einerseits die gewünschte Qualität nicht gewährleisten kann und andererseits erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen in Anspruch nimmt, die den Menschen nicht zugute kommen: Seit In-Kraft-Treten des Betreuungsrechts sind die Kosten im Betreuungswesen explodiert. In Nordrhein-Westfalen haben sich die Betreuungsfallzahlen von 112.000 1992 auf 237.000 2002 mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum sind die Kosten von 2,57 Mio. DM auf 104,6 Mio. Euro um ca. 8.000% gestiegen. Bundesweit wurden Ende 2001 knapp eine Million Betreuungen geführt. Aufwendungsersatz und Vergütungen beanspruchten ca. 655 Mio. DM. Zusätzlich ist ein erheblicher personeller Aufwand nur dafür nötig, die Vergütungsabrechnungen der Berufsbetreuer zu überprüfen. Gleichwohl wird nach Berichten von Landesrechnungshöfen das Vergütungssystem dazu benutzt, nicht notwendige oder nicht erbrachte Leistungen abzurechnen, und sind die Gerichte kaum in der Lage, dem entgegenzuwirken. Erforderlich ist deshalb eine Reform des Betreuungsrechtes, die die Missstände beseitigt und damit die Möglichkeit schafft, die staatlichen Mittel dort einzusetzen, wo sie nötig sind: zum Schutz der geistig behinderten und psychisch oder seelisch kranken Menschen. Mit diesem Ziel hat die Justizministerkonferenz im Juni 2001 eine Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Nordrhein-Westfalen eingesetzt. Die Arbeitsgruppe hat nunmehr ihren Abschlussbericht vorgelegt, der auf ca. 400 Seiten Reformvorschläge unterbreitet, die auf der Grundlage der Diskussion mit allen am Betreuungsverfahren Beteiligten entwickelt worden sind. Die wesentlichen Forderungen des Berichts, die ich sehr begrüße, möchte ich Ihnen nachfolgend vorstellen. I. Selbstbestimmungsrecht verwirklichen – Vorsorgevollmacht stärken! Staatlichen Institutionen ist es verwehrt, durch die Bestellung eines Betreuers Grundrechte der betroffenen Menschen einzuschränken, wenn und soweit durch einen Bevollmächtigten die notwendigen Angelegenheiten wahrgenommen werden können. Die sogenannte Vorsorgevollmacht ist damit als einziges Rechtsinstitut geeignet, das Selbstbestimmungsrecht für den Fall einer psychischen Erkrankung sowie einer geistigen oder seelischen Behinderung umfassend zu sichern. Das Interesse der Bevölkerung ist dementsprechend groß. Informationsveranstaltungen zu diesem Thema sind gut besucht, und unsere Broschüre, von der 220.000 Exemplare in vier Jahren gedruckt und verteilt wurden, ist sehr gefragt. Diesem starken Interesse an der Vermeidung staatlicher Eingriffe und der Führung eines eigenbestimmten Lebens wird die gegenwärtige Rechtslage nicht gerecht. Notwendig ist eine bürgerorientierte Ausgestaltung des Rechtsinstituts. Dazu sind u.a. folgende Maßnahmen notwendig: 1. Informationsbroschüre und Mustervollmacht Die von der Arbeitsgruppe entwickelte Informationsbroschüre mit Mustervollmacht wird von den Landesjustizverwaltungen und dem Bundesministerium der Justiz in Kooperation mit den Betreuungsbehörden und Betreuungsvereinen flächendeckend verteilt werden. 2. Zentrale Registrierung Es ist deshalb von grundlegender Bedeutung, durch ein zentrales Registrierungssystem die notwendige Information des Vormundschaftsgerichts sicherzustellen. Zu diesem Zweck hat sich die Bundesnotarkammer bereit erklärt, ein Registrierungssystem zu schaffen, das alle Vorsorgevollmachten erfasst. Die Betroffenen können daher von ihnen erstellte Vollmachten selbst zur Registrierung anmelden. Zusätzlich werden Notare, Rechtsanwälte, Betreuungsstellen und Betreuungsvereine im Auftrag der Betroffenen Vollmachten anmelden dürfen. 3. Beglaubigung durch Betreuungsbehörden Dazu bietet es sich an, den Betreuungsbehörden die Kompetenz einzuräumen, die - z.B. nach einem Informationsgespräch entsprechend dem Muster erstellte - Vorsorgevollmacht zu beglaubigen. Damit dürfte die Akzeptanz der Vollmacht für den Rechtsverkehr zu gewährleisten sein. Zugleich wird den Menschen ein Recht eingeräumt, das sie ohne Schwellenangst in Anspruch nehmen können. 4. Hilfe für die Bevollmächtigten II. Den Willen der Bürgerinnen und Bürger umsetzen – Gesetzliche Vertretungsmacht normieren! Im familiären Bereich ist es weit verbreitete, aber fehlgehende Auffassung, dass im Fall einer schweren Erkrankung die nahen Angehörigen, insbesondere der Ehegatte, befugt sind, die notwendigen – auch rechtlichen – Maßnahmen zu ergreifen. Viele Menschen setzen sich daher nicht mit den Möglichkeiten privatautonomer Vorsorge durch Vollmachten auseinander. Um so größer ist die Überraschung, Verunsicherung und Enttäuschung, wenn z.B. nach einem Unfall Ärzte, Behörden, Banken und Sparkassen eine Zusammenarbeit mit dem Ehegatten verweigern, der für seinen im Koma liegenden Partner die notwendigen Behandlungen abstimmen, Sozialleistungen beantragen und auf das Girokonto zugreifen will, von dem der Familienunterhalt bestritten wird. Dem Willen der betroffenen Menschen entspricht dies regelmäßig nicht. Notwendig ist deshalb eine gesetzliche Vertretungsmacht im familiären Bereich, um typische Lebensbereiche zu erfassen. 1. Gesetzesvorschlag Des Weiteren wird Eltern und Kindern eine gegenüber Ehegatten nachrangige Vertretungsbefugnis im Bereich der Gesundheitssorge eingeräumt. Damit sollen insbesondere folgende Fälle erfasst werden: - Ein alleinstehender Elternteil wird in einem nicht mehr ansprechbaren Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert. Das (einzige) volljährige Kind muss befugt sein, mit den Ärzten die notwendigen Maßnahmen zu besprechen und für Vater oder Mutter in die Behandlung einzuwilligen. Ist ein Kind nicht erreichbar, entscheiden die anderen Geschwister alleine. Können sich die Geschwister nicht einigen, muss ein Betreuer bestellt werden. - Das 19 Jahre alte, nicht verheiratete Kind wird bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt und komatös in ein Krankenhaus gebracht. Vater und/oder Mutter sind dazu berufen, mit den Ärzten zu sprechen und in die ärztliche Behandlung einzuwilligen. 2. Keine Missbrauchsgefahr 3. Hilfe für gesetzliche Vertreter III. Menschenwürde sichern – Vorrang des freien Willens normieren! Die mit der Bestellung eines Betreuers verbundene Entrechtung der Menschen wird in der betreuungsrechtlichen Praxis nicht hinreichend beachtet. Betreuung wird häufig als soziale Wohltat verstanden, die unabhängig von den gesetzlichen Voraussetzungen fürsorglich jedem kranken Menschen zukommen sollte. Dies entspricht nicht dem Willen der Betroffenen, die zwar eine soziale Hilfestellung begrüßen, eine Bevormundung aber ablehnen. Die Obergerichte sind deshalb mit konstanter Regelmäßigkeit gezwungen herauszustellen, dass allein die ärztliche Diagnose eine Betreuung nicht rechtfertigt. Ein Betreuer darf vielmehr nur bestellt werden, wenn der Betroffene aufgrund seiner psychischen Erkrankung, geistigen oder seelischen Behinderung zusätzlich seinen Willen nicht frei bestimmen kann. Dieser Vorrang des freien Willens eines jeden Menschen ist Ausdruck seiner Würde und seines Selbstbestimmungsrechts. Es ist notwendig, dies deutlicher als bisher im Gesetz zu verankern. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die betreuungsrechtliche Praxis mit größerer Sensibilität den Eingriffscharakter der Betreuung wahrnehmen wird. IV. Betreuungsverfahren entbürokratisieren - Missbräuche abstellen - Qualität steigern! Worin liegt – tatsächlich – der Schwerpunkt des Betreuungsverfahrens? In der Prüfung der Vergütungsabrechnungen der Berufsbetreuerinnen und –betreuer! Lassen Sie mich diese provokante These
erläutern: Trotz dieses Aufwands ist das Vergütungskontrollsystem nicht in der Lage, eine effektive Prüfung zu ermöglichen und Missbräuche zu verhindern. Untersuchungen verschiedener Rechnungshöfe der Länder haben gezeigt, dass das Vergütungssystem dazu benutzt wird, großzügig nach oben zu runden, nicht notwendige Aufgaben abzurechnen und in einigen Fällen nicht erbrachte Leistungen betrügerisch einzubringen. Schließlich kann eine auf Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung ausgerichtete Inhaltskontrolle nicht verwirklicht werden. Notwendig ist deshalb ein Systemwechsel. Um staatliche Mittel effektiv einzusetzen, bedarf es eines Verfahrens, das den Berufsbetreuerinnen und -betreuern ebenso wie den Vormundschaftsgerichten die Kapazität verschafft, sich auf die rechtliche Hilfe für die Betroffenen zu konzentrieren. Der Mensch und nicht die Vergütungsabrechnung haben im Mittelpunkt zu stehen. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat deshalb auf der Grundlage einer repräsentativen Erhebung folgendes Pauschalsystem entwickelt, das einfach, Streit vermeidend, an der Realität orientiert und für die Berufsbetreuerinnen und -betreuer auskömmlich ist.
Ausnahmetatbestände sind nicht vorgesehen, da sie den Vereinfachungseffekt der Pauschale konterkarieren. Die Pauschalen sind so gebildet, dass ein erhöhter Arbeitsaufwand in einem Fall durch einen geringeren Arbeitsaufwand in einem anderen Fall ausgeglichen wird (Mischkalkulation). Parallel zu diesem Systemwechsel kann die Institutionalisierung einer inhaltlichen ausgerichteten Qualitätskontrolle in Form der Betreuungsplanung verwirklicht werden. In den eingangs genannten Fällen des 20jährigen Schizophrenen und des 40jährigen Unfallopfers ist es notwendig, planmäßig alle Möglichkeiten einer Rehabilitation zu nutzen. Darüber sollen sich Betreuer bereits zu Beginn der Betreuung Gedanken machen und diese schriftlich fixieren, um eine effektive Inhaltskontrolle der Betreuungsarbeit zu ermöglichen. V. Verkrustete Strukturen aufbrechen – Aufgaben auf Betreuungsbehörden verlagern! Das Betreuungsrecht weist vier Institutionen Aufgaben zu: den Betreuungsbehörden, Betreuungsvereinen und Betreuern sowie dem Vormundschaftsgericht. Zentrale Stelle ist das Vormundschaftsgericht, in dessen Zuständigkeit sich die wesentlichen Aufgaben bündeln. Diese zentrale Rolle des Vormundschaftsgerichts ist historisch begründet. Das Betreuungsgesetz hat die Strukturen der Vormundschaft übernommen, wie sie seit dem Inkrafttreten des BGB zum 01.01.1900 im Wesentlichen unverändert bestehen. Für die Beurteilung betreuungsrechtlicher Sachverhalte nach der Reform von 1992 stehen jedoch juristische Fachkenntnisse nicht im Mittelpunkt. Wesentlich sind häufig vielmehr folgende Fragestellungen: - Über welche Fähigkeiten verfügt der Betroffene trotz seiner Erkrankung? - Welche anderweitigen Hilfen können für ihn organisiert werden? - Was kann getan werden, um den Betroffenen in die Selbständigkeit zu entlassen? - Kann der Betroffene noch allein in seiner Wohnung zurecht kommen? - Welche - wirklichen - Wünsche hat der Betroffene? - Ist die Führung der Betreuung inhaltlich sinnvoll? Die Entscheidungen des Vormundschaftsgerichts sind damit von Voraussetzungen abhängig, die es selbst nicht schaffen kann. Der Vorrangstellung der Vormundschaftsgerichte fehlt deshalb die inhaltliche Berechtigung. Es geht vielmehr um komplexe Problematiken, die auf der Ebene der Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine eigenverantwortlich zu lösen sind. Diese Funktion geht weit über das hinaus, was das BGB zum 01.01.1900 den Gemeinden an Aufgaben zugewiesen hat. Die bloße Unterstützungsfunktion ist einem eigenständigen Zuständigkeitsprofil gewichen. Die Betreuungsbehörden sollten deshalb stärker als bisher in das Verfahren eingebunden werden, um frühzeitig ihr Fachwissen nutzbar zu machen, betreuungsvermeidende Alternativen aufzuzeigen und unnötige Doppelarbeiten zu vermeiden. Dazu bietet es sich an, die Betreuungsbehörde zu einer Eingangsinstanz in Betreuungsverfahren auszubauen. Damit können Synergien erzielt und Qualitätssteigerungen erreicht werden. Es ist deshalb sinnvoll, gemeinsam mit den Kommunen die organisatorische und finanzielle Umsetzung voranzutreiben. Ausblick: Auf dieser Grundlage beabsichtigt die Arbeitsgruppe, im Herbst diesen Jahres einen Gesetzentwurf vorlegen, der mit Ausnahme der Strukturreformansätze alle Themenbereiche des Abschlussberichts umfasst. Ich gehe davon aus, dass sich der Deutsche Bundestag den berechtigten Anliegen dieses Entwurfs nicht verschließen wird und die Reformvorschläge schnell umgesetzt werden können. Zur Vorbereitung des Gesetzentwurfs werden wir im August/September eine Experten- und Verbändeanhörung durchführen, um ein möglichst breites Meinungsbild zu gewinnen. Quelle: Statement des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen |