www.wernerschell.de
Pflege - Patientenrecht
& Gesundheitswesen

www.wernerschell.de

Aktuelles

Forum (Beiträge ab 2021)
Archiviertes Forum

Rechtsalmanach

Pflege

Patientenrecht
Sozialmedizin - Telemedizin
Publikationen
Links
Datenschutz
Impressum

Pro Pflege-Selbsthilfenetzwerk

>> Aktivitäten im Überblick! <<

Besuchen Sie uns auf Facebook

Von der Zuwendungs- zur Zuteilungsmedizin?
Statement von Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer

(PdÄ) Gemeinsam mit dem Präsidenten der Bundesapothekerkammer, Herrn Metzger, und dem Präsidenten der Bundeszahnärztekammer, Herrn Weitkamp, hat Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe heute vor der Bundespressekonferenz ausführlich zu aktuellen und grundsätzlichen gesundheitspolitischen Themen Stellung bezogen. Erneut betonte er die Notwendigkeit einer bürgernahen Gesundheitspolitik vor den kurzatmigen und selbstgefälligen Konzepten parlamentarisch nicht legitimierter Expertokraten. Duchökonomisierung und verbindliche Standards der Behandlungsläufe seien die Rufe der expertokratischen Heilsbringer. "Doch Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung kann es nur mit der Bundesärztekammer und den medizinischen Fachgesellschaften geben", unterstrich Hoppe. Die Expertokraten setzen dagegen auf einen Kassenversorgungsstaat. Das aber würde die endgültige Abkehr von der Zuwendungsmedizin zur Zuteilungsmedizin bedeuten. Im Original:

Offener Dialog statt Expertokratie
Der offene Dialog in der Politik und zwischen den Bürgern muss bei einfachen Fragestellungen beginnen. Zum Beispiel mit der Frage: Liegen wir überhaupt in der Zielvorstellung richtig, wenn ein immer größeres Angebot an medizinischer Leistung bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung durch einen konstanten Beitragssatz gesetzlicher Kassen finanziert werden soll?" Diese von Wirtschaftsminister Müller mutig aufgeworfene Frage sollte Gegenstand der Diskussion sein, zwingt sie doch endlich zu einer langfristigen gesundheitspolitischen Ausrichtung. Die kurzatmigen und selbstgefälligen Konzepte parlamentarisch nicht legitimierter Expertokraten hingegen sind zum Teil von höchst eigenen Interessen geprägt und weniger von Gemeinwohlorientierung. Die Politik sollte deshalb lernen, eigenständig zu entscheiden und mit den direkt Beteiligten und Betroffenen zusammenzuarbeiten. Gesundheitspolitik muss wieder bürgernah werden, muss den Patienten wieder in den Mittelpunkt der Überlegung rücken.

Gesellschaft des langen Lebens hat ihren Preis
Bedingt durch die Mär von der Kostenexplosion gibt es die politische Vorgabe der völligen Durchökonomisierung des Gesundheitswesens. Dabei ist der Anteil der Gesundheitsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt mit 6 % im Jahre 1975 zu 6,6 % im Jahre 2000 relativ konstant geblieben. Der Anstieg der Beitragssätze ergab sich vor allem aus der schmaler werdenden Bemessungsgrundlage für die Beitragssätze der GKV. Das Problem sind die erodierenden Finanzierungsgrundlagen der GKV einerseits, die gewachsenen Möglichkeiten durch den medizinischen Fortschritt andererseits. Die derzeit diskutierten gesundheitspolitischen Konzepte können der gesellschaftlich gewünschten medizinischen Betreuung nicht gerecht werden. Denn was von manchen als Leistungsexplosion verurteilt wird, ist die Grundlage unserer Gesellschaft des langen Lebens.

Die GKV – politisch missbraucht
Zur Erosion der GKV hat die Politik selbst maßgeblich beigetragen. In den letzten Jahren sind der GKV (nach Angaben des VdAK) annähernd 50 Milliarden DM entzogen worden, weil Löcher in der Rentenkasse und der Arbeitslosenversicherung gestopft werden mussten. Damit bewahrheitet sich einmal mehr die Diagnose: Unser Gesundheitssystem wird zwar solidarisch finanziert, aber unsolidarisch in Anspruch genommen und politisch missbraucht. Die Politik allein ist für diese Missstände verantwortlich. Ohne die beschriebenen Milliardenlasten hätten wir in diesem Jahr kein Defizit und folglich auch keine Beitragserhöhungen zu beklagen.

Bürokratisierung statt Bürgernähe
Verbindliche Behandlungsstandards und Durchökonomisierung der Behandlungsabläufe – das sind die Rufe der expertokratischen Heilsbringer. Ständig suggerieren sie Einsparpotentiale in Milliardenhöhe und stellen mit ihren planwirtschaftlichen Spielereien das Vertrauen in unser Gesundheitswesen nachhaltig in Frage. Einsparpotentiale gibt es natürlich, aber doch vor allem zu Lasten der Lebensqualität. Standardisierung ist möglich, aber welcher Patient fühlt sich dann noch individuell und ausreichend behandelt.

Die parlamentarisch nicht legitimierten Expertokraten lassen sich Institute und Behörden in Gesetze schreiben, versprechen Patentlösungen, werden aber niemals wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung kann es nur mit der Bundesärztekammer und den medizinischen Fachgesellschaften geben. Qualitätssicherung von Verwaltungsexperten ist nicht mehr als Verwaltungsmedizin, sie geht an den praxisrelevanten Erfordernissen völlig vorbei.

Es ist an der Zeit, dass die Politik diese patientenfernen Vordenker ersetzt und mit eigenständigem Nachdenken beginnt.

Kaputtreden, was gesund macht
Es gehört leider mittlerweile zum guten Ton, das deutsche Gesundheitswesen in seiner Qualität wie auch in seinen Strukturen grundsätzlich in Frage zu stellen. Unabhängig von der Art der Versorgung – und diese ist in Deutschland nahezu umfassend – werden in internationalen Vergleichen die Leistungen des deutschen Systems heruntergerechnet, bei den Lebenserwartungen genetische Bedingungen ignoriert und bei Krankheitsstatistiken die Grundlagen nicht überprüft. Schuld sei das System und eine "Zerschlagung der Monopole oder der Anbieterkartelle zwingend notwendig, lautet die gefällige Antwort der Expertokraten.

Trotz der hohen Akzeptanz im eigenen Land und der internationalen Vorbildfunktion unserer gemeinsamen Selbstverwaltung sehen sie das Heil im Aufbau eines Kassenversorgungsstaates. Das aber würde die endgültige Abkehr von der Zuwendungsmedizin hin zur Zuteilungsmedizin bedeuten. Der Anspruch des Patienten auf individuelle Betreuung ließe sich dann nicht mehr realisieren, die gemeinsame Selbstverwaltung könnte dann nicht mehr als Korrektiv zur Politik wirken und die Ärzteschaft könnte bei diesem Weg in die Staatsmedizin nicht mehr ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Denn Verantwortung setzt auch Rechte zur Mitgestaltung voraus und wenn diese weiter eingeschränkt werden, dann stellt sich für die deutsche Ärzteschaft die Systemfrage.

Drehtüreffekt durch DRG‘s
Deutsche Patienten kennen keine Wartezeiten von einem Jahr oder mehr für eine Operation, wie sie zum Beispiel in England üblich sind. Sie wollen auch keine Listenmedizin und keinen Wettbewerb um jeden Preis. Denn wenn Wettbewerb bedeutet, dass Patienten vorzeitig entlassen werden, um Platz für die nächste Fallpauschale zu machen – wie das im neuen DRG-Abrechnungssystem für Krankenhäuser nicht ausgeschlossen werden kann -, dann werden die Patienten rebellieren.

Wir haben deshalb mehrfach gewarnt, die DRG’s im geplanten Terminschema ablaufen zu lassen. Ohne die notwendigen Ausgleichsmechanismen in diesem Fallpauschalsystem können erhebliche Risiken für die Aufrechterhaltung eines hochqualifizierten und flächendeckenden stationären Versorgungsangebotes entstehen. Die gesetzlich vorgesehene abrechnungswirksame freiwillige Einführung der DRG-Fallpauschalen ab dem 1. Januar 2003 geht an den Realitäten vorbei. Den größten Umstrukturierungsprozeß der Krankenhauslandschaft in einem medizinisch nicht vertretbaren Zeitplan durchzuführen, hieße, dass zunächst nicht die effizienten Krankenhäuser, sondern diejenigen Einrichtungen belohnt würden, die am schnellsten in das System übergehen.

Qualitätsverbesserungen werden auch nicht dadurch erreicht, dass Patienten von einem Versorgungssektor zum nächsten geschickt werden. Einen solchen Drehtür-Effekt aber wird es geben, wenn es zu immer kürzeren Verweildauern im Krankenhaus kommt und gerade entlassene Patienten mit neuen Diagnosen wieder ins Krankenhaus überwiesen werden, wenn eine Behandlung mehrerer aufwändiger Erkrankungen während desselben stationären Aufenthaltes oder die bei früher Entlassung umfassend notwendige Nachbetreuung nicht hinreichend finanziert werden kann.

Patient ist keine Kostengröße
Eine Medizin unter dem totalen Dogma der Ökonomie reduziert den Patienten auf eine Kosten- und Normgröße. Das gilt insbesondere auch bei einer hohen Verbindlichkeit von Behandlungsstandards. Denn einige Befürworter der neuen Disease-Management-Programme streben damit eine Checklisten-Medizin an, vermeintlich objektivierbar. Doch nur etwa ein Drittel in der Medizin lässt sich über Leitlinien erfassen und selbst dann muss noch die Freiheit der Therapien im individuellen Behandlungsfall gewahrt bleiben können. Die Alternative der Expertokraten hingegen lautet: Typisierung der Krankenbehandlung. Der Patient könnte in einem solchen System dann nicht mehr darauf vertrauen, individuell behandelt und betreut zu werden.

Doch das Behandlungsspektrum ist kein Sonderservice und der Dienst am Kranken nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet. Die Prämissen im Gesundheitswesen dürfen nicht allein ökonomischen Wettbewerbsregeln folgen. Kranke Menschen zu versorgen erfordert nicht nur Professionalität, sondern auch Menschlichkeit. Notwendig sind deshalb in behutsamer Sacharbeit entwickelte evidenzbasierte Leitlinien zum Wohle des Patienten und nicht etwa zur Optimierung von Verwaltungsabläufen. In diesem Sinne können DMP eine wohlverstandene Hilfe sein. Kaltes betriebswirtschaftliche Denken aber, das wir aus anderen Bereichen der Industrie kennen, ist im Gesundheitswesen fehl am Platz.

Der Versorgungsnotstand ist programmiert
Die zunehmende Durchökonomisierung unseres Gesundheitswesens hat bereits zu Rationierungen geführt. Allein das hohe Engagement der im Gesundheitswesen Beschäftigten hat Versorgungsenpässe bisher vermeiden können. Doch eine ruinöse Kostengesetzgebung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und der diffamierende Umgang mit dem Arztberuf haben die Motivation unter Deutschlands Jungmedizinern auf den Nullpunkt sinken lassen. Die Zahl der Medizinstudenten nimmt ab (in sieben Jahren von 90.600 auf 80.200). In fünf Ärztekammerbezirken ist die Zahl der stationär tätigen Ärzte bereits zurückgegangen. Bis zum Jahre 2010 werden vermutlich 22.000 Hausärzte, vor allem im Osten, ausscheiden. Besonders dramatisch ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes zu den gesetzlichen Arbeitsbedingungen für Ärzte zu sehen. Unter Anwendung des EuGH-Urteils werden bis zu 27.000 Ärztinnen und Ärzte mehr als bisher im Krankenhaus benötigt.

Es gibt nichts zu beschönigen: die Nachwuchsprobleme in der deutschen Ärzteschaft sind gravierend. Verschärfend kommt die ebenfalls brisante Entwicklung in der Altersstruktur der Bevölkerung hinzu. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter, wenn oft auch nur um den Preis der Dauerbehandlungsbedürftigkeit. Die Schere zwischen angeforderten notwendigen Leistungen und den tatsächlich möglichen Leistungen wird immer weiter auseinander gehen. Der Versorgungsnotstand ist somit programmiert, wenn wir nicht endlich ein Umdenken hin zur Medizin schaffen und die Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung so gestalten, dass junge Menschen diesen Beruf wieder mit Freude ergreifen, weil sie ihren Beruf als Berufung sehen.

Quelle: Pressemitteilung der Bundesärztekammer vom 19.4.2002