Von der Zuwendungs- zur Zuteilungsmedizin?
Statement von Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer
(PdÄ) Gemeinsam mit dem Präsidenten der
Bundesapothekerkammer, Herrn Metzger, und dem Präsidenten der
Bundeszahnärztekammer, Herrn Weitkamp, hat Bundesärztekammerpräsident
Jörg-Dietrich Hoppe heute vor der Bundespressekonferenz ausführlich zu
aktuellen und grundsätzlichen gesundheitspolitischen Themen Stellung bezogen.
Erneut betonte er die Notwendigkeit einer bürgernahen Gesundheitspolitik vor
den kurzatmigen und selbstgefälligen Konzepten parlamentarisch nicht
legitimierter Expertokraten. Duchökonomisierung und verbindliche Standards der
Behandlungsläufe seien die Rufe der expertokratischen Heilsbringer. "Doch
Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung kann es nur mit der
Bundesärztekammer und den medizinischen Fachgesellschaften geben",
unterstrich Hoppe. Die Expertokraten setzen dagegen auf einen
Kassenversorgungsstaat. Das aber würde die endgültige Abkehr von der
Zuwendungsmedizin zur Zuteilungsmedizin bedeuten. Im Original:
Offener Dialog statt Expertokratie
Der offene Dialog in der Politik und zwischen den Bürgern muss bei einfachen
Fragestellungen beginnen. Zum Beispiel mit der Frage: Liegen wir überhaupt in
der Zielvorstellung richtig, wenn ein immer größeres Angebot an medizinischer
Leistung bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung durch einen
konstanten Beitragssatz gesetzlicher Kassen finanziert werden soll?" Diese
von Wirtschaftsminister Müller mutig aufgeworfene Frage sollte Gegenstand der
Diskussion sein, zwingt sie doch endlich zu einer langfristigen
gesundheitspolitischen Ausrichtung. Die kurzatmigen und selbstgefälligen
Konzepte parlamentarisch nicht legitimierter Expertokraten hingegen sind zum
Teil von höchst eigenen Interessen geprägt und weniger von
Gemeinwohlorientierung. Die Politik sollte deshalb lernen, eigenständig zu
entscheiden und mit den direkt Beteiligten und Betroffenen zusammenzuarbeiten.
Gesundheitspolitik muss wieder bürgernah werden, muss den Patienten wieder in
den Mittelpunkt der Überlegung rücken.
Gesellschaft des langen Lebens hat
ihren Preis
Bedingt durch die Mär von der Kostenexplosion gibt es die politische Vorgabe
der völligen Durchökonomisierung des Gesundheitswesens. Dabei ist der Anteil
der Gesundheitsausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt mit 6 % im Jahre
1975 zu 6,6 % im Jahre 2000 relativ konstant geblieben. Der Anstieg der
Beitragssätze ergab sich vor allem aus der schmaler werdenden
Bemessungsgrundlage für die Beitragssätze der GKV. Das Problem sind die
erodierenden Finanzierungsgrundlagen der GKV einerseits, die gewachsenen
Möglichkeiten durch den medizinischen Fortschritt andererseits. Die derzeit
diskutierten gesundheitspolitischen Konzepte können der gesellschaftlich
gewünschten medizinischen Betreuung nicht gerecht werden. Denn was von manchen
als Leistungsexplosion verurteilt wird, ist die Grundlage unserer Gesellschaft
des langen Lebens.
Die GKV – politisch missbraucht
Zur Erosion der GKV hat die Politik selbst maßgeblich beigetragen. In den
letzten Jahren sind der GKV (nach Angaben des VdAK) annähernd 50 Milliarden DM
entzogen worden, weil Löcher in der Rentenkasse und der
Arbeitslosenversicherung gestopft werden mussten. Damit bewahrheitet sich einmal
mehr die Diagnose: Unser Gesundheitssystem wird zwar solidarisch finanziert,
aber unsolidarisch in Anspruch genommen und politisch missbraucht. Die Politik
allein ist für diese Missstände verantwortlich. Ohne die beschriebenen
Milliardenlasten hätten wir in diesem Jahr kein Defizit und folglich auch keine
Beitragserhöhungen zu beklagen.
Bürokratisierung statt Bürgernähe
Verbindliche Behandlungsstandards und Durchökonomisierung der
Behandlungsabläufe – das sind die Rufe der expertokratischen Heilsbringer.
Ständig suggerieren sie Einsparpotentiale in Milliardenhöhe und stellen mit
ihren planwirtschaftlichen Spielereien das Vertrauen in unser Gesundheitswesen
nachhaltig in Frage. Einsparpotentiale gibt es natürlich, aber doch vor allem
zu Lasten der Lebensqualität. Standardisierung ist möglich, aber welcher
Patient fühlt sich dann noch individuell und ausreichend behandelt.
Die parlamentarisch nicht legitimierten
Expertokraten lassen sich Institute und Behörden in Gesetze schreiben,
versprechen Patentlösungen, werden aber niemals wirklich zur Verantwortung
gezogen werden. Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung kann es nur
mit der Bundesärztekammer und den medizinischen Fachgesellschaften geben.
Qualitätssicherung von Verwaltungsexperten ist nicht mehr als
Verwaltungsmedizin, sie geht an den praxisrelevanten Erfordernissen völlig
vorbei.
Es ist an der Zeit, dass die Politik diese
patientenfernen Vordenker ersetzt und mit eigenständigem Nachdenken beginnt.
Kaputtreden, was gesund macht
Es gehört leider mittlerweile zum guten Ton, das deutsche Gesundheitswesen in
seiner Qualität wie auch in seinen Strukturen grundsätzlich in Frage zu
stellen. Unabhängig von der Art der Versorgung – und diese ist in Deutschland
nahezu umfassend – werden in internationalen Vergleichen die Leistungen des
deutschen Systems heruntergerechnet, bei den Lebenserwartungen genetische
Bedingungen ignoriert und bei Krankheitsstatistiken die Grundlagen nicht
überprüft. Schuld sei das System und eine "Zerschlagung der Monopole oder
der Anbieterkartelle zwingend notwendig, lautet die gefällige Antwort der
Expertokraten.
Trotz der hohen Akzeptanz im eigenen Land und der
internationalen Vorbildfunktion unserer gemeinsamen Selbstverwaltung sehen sie
das Heil im Aufbau eines Kassenversorgungsstaates. Das aber würde die
endgültige Abkehr von der Zuwendungsmedizin hin zur Zuteilungsmedizin bedeuten.
Der Anspruch des Patienten auf individuelle Betreuung ließe sich dann nicht
mehr realisieren, die gemeinsame Selbstverwaltung könnte dann nicht mehr als
Korrektiv zur Politik wirken und die Ärzteschaft könnte bei diesem Weg in die
Staatsmedizin nicht mehr ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. Denn
Verantwortung setzt auch Rechte zur Mitgestaltung voraus und wenn diese weiter
eingeschränkt werden, dann stellt sich für die deutsche Ärzteschaft die
Systemfrage.
Drehtüreffekt durch DRG‘s
Deutsche Patienten kennen keine Wartezeiten von einem Jahr oder mehr für eine
Operation, wie sie zum Beispiel in England üblich sind. Sie wollen auch keine
Listenmedizin und keinen Wettbewerb um jeden Preis. Denn wenn Wettbewerb
bedeutet, dass Patienten vorzeitig entlassen werden, um Platz für die nächste
Fallpauschale zu machen – wie das im neuen DRG-Abrechnungssystem für
Krankenhäuser nicht ausgeschlossen werden kann -, dann werden die Patienten
rebellieren.
Wir haben deshalb mehrfach gewarnt, die DRG’s
im geplanten Terminschema ablaufen zu lassen. Ohne die notwendigen
Ausgleichsmechanismen in diesem Fallpauschalsystem können erhebliche Risiken
für die Aufrechterhaltung eines hochqualifizierten und flächendeckenden
stationären Versorgungsangebotes entstehen. Die gesetzlich vorgesehene
abrechnungswirksame freiwillige Einführung der DRG-Fallpauschalen ab dem 1.
Januar 2003 geht an den Realitäten vorbei. Den größten
Umstrukturierungsprozeß der Krankenhauslandschaft in einem medizinisch nicht
vertretbaren Zeitplan durchzuführen, hieße, dass zunächst nicht die
effizienten Krankenhäuser, sondern diejenigen Einrichtungen belohnt würden,
die am schnellsten in das System übergehen.
Qualitätsverbesserungen werden auch nicht
dadurch erreicht, dass Patienten von einem Versorgungssektor zum nächsten
geschickt werden. Einen solchen Drehtür-Effekt aber wird es geben, wenn es zu
immer kürzeren Verweildauern im Krankenhaus kommt und gerade entlassene
Patienten mit neuen Diagnosen wieder ins Krankenhaus überwiesen werden, wenn
eine Behandlung mehrerer aufwändiger Erkrankungen während desselben
stationären Aufenthaltes oder die bei früher Entlassung umfassend notwendige
Nachbetreuung nicht hinreichend finanziert werden kann.
Patient ist keine Kostengröße
Eine Medizin unter dem totalen Dogma der Ökonomie reduziert den Patienten auf
eine Kosten- und Normgröße. Das gilt insbesondere auch bei einer hohen
Verbindlichkeit von Behandlungsstandards. Denn einige Befürworter der neuen
Disease-Management-Programme streben damit eine Checklisten-Medizin an,
vermeintlich objektivierbar. Doch nur etwa ein Drittel in der Medizin lässt
sich über Leitlinien erfassen und selbst dann muss noch die Freiheit der
Therapien im individuellen Behandlungsfall gewahrt bleiben können. Die
Alternative der Expertokraten hingegen lautet: Typisierung der
Krankenbehandlung. Der Patient könnte in einem solchen System dann nicht mehr
darauf vertrauen, individuell behandelt und betreut zu werden.
Doch das Behandlungsspektrum ist kein
Sonderservice und der Dienst am Kranken nicht auf Gewinnmaximierung
ausgerichtet. Die Prämissen im Gesundheitswesen dürfen nicht allein
ökonomischen Wettbewerbsregeln folgen. Kranke Menschen zu versorgen erfordert
nicht nur Professionalität, sondern auch Menschlichkeit. Notwendig sind deshalb
in behutsamer Sacharbeit entwickelte evidenzbasierte Leitlinien zum Wohle des
Patienten und nicht etwa zur Optimierung von Verwaltungsabläufen. In diesem
Sinne können DMP eine wohlverstandene Hilfe sein. Kaltes
betriebswirtschaftliche Denken aber, das wir aus anderen Bereichen der Industrie
kennen, ist im Gesundheitswesen fehl am Platz.
Der Versorgungsnotstand ist programmiert
Die zunehmende Durchökonomisierung unseres Gesundheitswesens hat bereits zu
Rationierungen geführt. Allein das hohe Engagement der im Gesundheitswesen
Beschäftigten hat Versorgungsenpässe bisher vermeiden können. Doch eine
ruinöse Kostengesetzgebung, unmenschliche Arbeitsbedingungen und der
diffamierende Umgang mit dem Arztberuf haben die Motivation unter Deutschlands
Jungmedizinern auf den Nullpunkt sinken lassen. Die Zahl der Medizinstudenten
nimmt ab (in sieben Jahren von 90.600 auf 80.200). In fünf Ärztekammerbezirken
ist die Zahl der stationär tätigen Ärzte bereits zurückgegangen. Bis zum
Jahre 2010 werden vermutlich 22.000 Hausärzte, vor allem im Osten, ausscheiden.
Besonders dramatisch ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund des Urteils des
Europäischen Gerichtshofes zu den gesetzlichen Arbeitsbedingungen für Ärzte
zu sehen. Unter Anwendung des EuGH-Urteils werden bis zu 27.000 Ärztinnen und
Ärzte mehr als bisher im Krankenhaus benötigt.
Es gibt nichts zu beschönigen: die
Nachwuchsprobleme in der deutschen Ärzteschaft sind gravierend. Verschärfend
kommt die ebenfalls brisante Entwicklung in der Altersstruktur der Bevölkerung
hinzu. Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Alter, wenn oft auch nur um den
Preis der Dauerbehandlungsbedürftigkeit. Die Schere zwischen angeforderten
notwendigen Leistungen und den tatsächlich möglichen Leistungen wird immer
weiter auseinander gehen. Der Versorgungsnotstand ist somit programmiert, wenn
wir nicht endlich ein Umdenken hin zur Medizin schaffen und die
Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung so gestalten, dass junge Menschen
diesen Beruf wieder mit Freude ergreifen, weil sie ihren Beruf als Berufung
sehen.
Quelle: Pressemitteilung der Bundesärztekammer vom 19.4.2002
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