Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Ansprache von Bundespräsident Johannes Rau auf dem Deutschen
Schmerzkongress 2002 am 26. September 2002 in Aachen:
I.
Was ist das - Schmerz? Ist Schmerz die Reizung von peripheren Rezeptoren, von
Nerven, von Schmerzzentren im Gehirn durch Entzündungen und Verletzungen -
inneren wie äußeren? Hat der Schmerz eine bloße Signalfunktion? Ist er ein
Warnsignal, das uns sagt, etwas stimme nicht mit unserem Körper?
Warum aber lähmen uns Schmerzen dann so oft, weshalb mindern sie unseren
Antrieb? Warum können wir den Schmerz, den wir erleben, oft so schlecht
beschreiben? Es sei leichter, die Gedanken Hamlets zu erfassen, als einen
einfachen Kopfschmerz zu beschreiben, hat Virginia Woolf einmal gesagt.
Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Wir sprechen vom körperlichen Schmerz, vom
seelischen, vom Weltschmerz. Häufig treten sie zusammen auf: Wer körperlichen
Schmerz empfindet, sieht seine Umwelt in einem düstereren Licht, und wer an der
Welt leidet, kann das auch körperlich empfinden. Schmerzen können eine
zerstörerische Macht gewinnen. Sie können Menschen die Freude am Leben, den
Mut zum Leben nehmen, ihnen alle Zuversicht und Hoffnung rauben, ihnen den
Umgang mit anderen unerträglich machen.
Woher kommt diese Macht des Schmerzes? Starke Schmerzen können alle
Aufmerksamkeit beanspruchen, sie können andere Wahrnehmungen wie durch einen
Filter vom Bewusstsein des geplagten Menschen abhalten. Noch einmal Virginia
Woolf: "Etwas geschieht mit meinem Geist... er weigert sich, weitere
Eindrücke aufzunehmen."
Starke Schmerzen werfen Menschen auf sich selber und ihr eigenes Leid zurück;
sie verhindern die Kommunikation mit der Außenwelt und setzen Menschen den
Anforderungen der Außenwelt schutzloser aus. Vielleicht ist das ein Grund
dafür, dass es uns so schwer fällt, Schmerz zu beschreiben: Schmerz in seiner
äußersten Form ist eine Verhinderung aller anderen Wahrnehmungen, eine
Behinderung von bewusstem Leben.
II.
Die Mediziner unterscheiden ja zwischen den Akutschmerzen und den chronischen
Schmerzen, die über ein halbes Jahr dauern und nicht durch eine rasche
Bekämpfung der Schmerzursache behoben werden können.
Starke Schmerzen, die über einen längeren Zeitraum anhalten, können einen
"Lernprozess" in Gang setzen, der das Nervensystem für Schmerzreize
sensibilisiert: Damit setzt das ein, was in der Fachsprache Chronifizierung
genannt wird. Chronischer Schmerz ist ein eigenes Krankheitsbild, das schwere
und langfristige Erkrankungen begleiten kann.
Darum ist die Behandlung von Schmerzen mehr als die zeitweilige
Symptombekämpfung am Rande einer weiter- und tiefergehenden Therapie. Sie gibt
Menschen die Fähigkeit zurück, mit der ganzen Kraft ihres Bewusstseins am
Leben teilzuhaben. Die Therapie extremer Schmerzen macht den Menschen ein Leben
in Würde möglich - trotz aller anderen Einschränkungen, die die jeweilige
Krankheit mit sich bringt.
Frida Kahlo - die mexikanische "Schmerzensfrau" - hat ihren
Empfindungen künstlerisch Ausdruck verliehen. Auf diese Weise konnte sie ihren
Schmerz mitteilen und mit anderen teilen. Ihre Bilder beschönigen und
verklären nicht. Sie zeigen die brutale Gewalt des Schmerzes, und doch haben
ihre Bilder eine eigene Ästhetik; Carlos Fuentes hat sie
"schrecklich" und zugleich "schön" genannt.
Die Bilder der Frida Kahlo zeigen ihr ganzes Leid, und doch wird in ihnen auch
ihr ungeheurer Lebenswille deutlich; sie drücken die Kraft und die Hoffnung des
Lebens aus, das endlich ist und gerade deshalb so begehrenswert. Ich verstehe
diese Bilder so, dass sie uns etwas von der Würde erzählen, um die der von
Schmerzen geplagte Mensch kämpft.
Deshalb darf sich die Schmerztherapie nicht darauf beschränken, etwas zur
Reparatur der "Maschine Mensch" beizutragen. Sie ist selber von
elementarer Bedeutung, sie muss mithelfen, dass kranke Menschen ein Leben in
Würde führen können.
III.
In einer Erhebung Ende der 90er Jahre haben nur neun Prozent der Bundesbürger
angegeben, im zurückliegenden Jahr keine Schmerzen gehabt zu haben. Ich denke,
an dieser Zahl hat sich seither wenig geändert. Nach anderen Schätzungen
leiden in Deutschland etwa fünf bis acht Millionen Menschen an
behandlungsbedürftigen chronischen Schmerzen.
Noch immer gibt es freilich Vorbehalte gegen die Schmerztherapie. Das hängt zum
einen mit dem historisch gewachsenen Umgang unserer Gesellschaft mit dem
Phänomen Schmerz zusammen, zum anderen - und das vor allem - mit der
Befürchtung, dass kranke Menschen abhängig werden, wenn sie lange Zeit starke
Schmerzmittel nehmen.
Untersuchungen zeigen aber, dass eine qualifizierte Schmerztherapie nicht zum
Missbrauch von Betäubungsmitteln führt. Das gilt auch für die
Morphinderivate, die in der Schmerztherapie eine immer wichtigere Rolle spielen.
Darum ist es so wichtig, dass Patienten mit chronischen Schmerzen richtig
behandelt werden. Das ist nur möglich, wenn die Ärzte genügend Erfahrung in
der Schmerztherapie haben.
Sie alle wissen: Das Krankheitsbild eines Menschen, der an chronischen Schmerzen
leidet, ist häufig sehr komplex. Wer ihn gut behandeln will, der braucht
besondere schmerztherapeutische Kenntnisse.
Die Bundesärztekammer hat in den vergangenen Jahren für die Behandlung von
chronischen Kopf-, Rücken- und Tumorschmerzen Empfehlungen zusammengestellt.
Diese Empfehlungen haben aber bisher noch viel zu wenig Eingang in die tägliche
Praxis gefunden. Vor allem so genannte "multi-morbide" Patienten -
Patienten mit mehreren schweren Erkrankungen - stellen viele Ärzte vor große
Schwierigkeiten.
Bevor Patienten mit chronischen Schmerzen den Weg in eine spezialisierte
Schmerzambulanz oder Schmerzpraxis finden, vergehen oft viele Jahre, in denen
sie häufig erfolglos behandelt werden. Das führt auch zu Arbeitsunfähigkeit,
zu sozialem Abstieg und persönlicher Frustration. In vielen Fällen kommen
dadurch psychische Probleme dazu, die das häufig ohnehin komplexe
Krankheitsbild noch erweitern.
Darum brauchen wir mehr Ärzte mit speziellen Kenntnissen in der
Schmerzbehandlung, und das vor allem im ambulanten Bereich. Darum ist es gut,
dass die Schmerztherapie Eingang in die neue Approbationsordnung gefunden hat
und ab Herbst 2003 verbindlicher Prüfungsstoff am Ende der ärztlichen
Ausbildung sein wird.
IV.
Ich habe in einer Rede in Berlin vor einem Jahr davon gesprochen, dass wir
dringend eine bessere palliativmedizinische Versorgung für sterbende Menschen
brauchen statt über die Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe zu debattieren.
Das möchte ich heute gerne noch einmal aufgreifen.
Ich bin davon überzeugt, dass der Todeswunsch Schwerstkranker häufig nicht der
Krankheit selber entspringt, sondern der Angst vor qualvollem Sterben. Dieser
Angst können und müssen Angehörige und Pflegepersonal dadurch begegnen, dass
sie Trost spenden, sie dem Kranken nahe sind, sie ihn nicht sich selber
überlassen und seiner Krankheit ausliefern. Der großen Angst vor
unerträglichen Schmerzen kann und muss auch die Schmerzmedizin entgegenwirken,
indem sie wirksam hilft.
In diesem Jahr - vor wenigen Monaten - ist der Fall der an einer unheilbaren
Nervenkrankheit leidenden Diane Pretty aus England durch die Medien gegangen.
Sie hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dafür
gekämpft, dass ihr Mann sie ungestraft töten dürfe, damit sie nicht qualvoll
sterben müsse. Wenige Tage vor ihrem Tod hat das Gericht ihr Begehren
abgelehnt. Diane Pretty ist dann nicht qualvoll gestorben, sondern friedlich -
in einem Hospiz, das sich der Begleitung Todkranker und dem Eindämmen massiver
Schmerzen widmet.
Palliativmedizinische Behandlung hat für Krebspatienten besondere Bedeutung. 20
bis 25 Prozent der Krebspatienten brauchen am Ende ihres Lebens eine
palliativmedizinische Betreuung. Besonders betroffen sind
auch AIDS-Patienten und Patienten mit bestimmten neurologischen Erkrankungen.
Lange Zeit haben wir die medizinische und pflegerische Versorgung dieser
Patienten hier in Deutschland vernachlässigt. Inzwischen bewegt sich etwas:
* Die Gesundheitsminister der Länder haben im Juni dieses Jahres darüber
Einigkeit erzielt, dass Palliativmedizin, Palliativpflege und Sterbebegleitung
in die Aus- und Weiterbildung von Medizinern und Pflegekräften aufgenommen
werden.
* Die Bundesärztekammer hat angekündigt, dass auf dem Deutschen Ärztetag im
Mai kommenden Jahres eine Bereichsbezeichnung "Palliativmedizin" in
das Weiterbildungsrecht eingeführt werden soll.
* Während es 1990 gerade einmal drei Palliativstationen und drei Hospize mit
der Möglichkeit zur stationären Behandlung gab, waren es im Jahr 2001 immerhin
schon 74 Palliativstationen und
95 Hospize, und inzwischen sind es noch ein paar mehr geworden.
Ich weiß, dass gerade Ihnen diese Schritte nicht schnell und nicht weit genug
gehen. Ich kann das verstehen. Für mich ist aber entscheidend, dass die
Bewegung, die in Gang gekommen ist, in die richtige Richtung geht. Und wir
wissen doch alle: Kleine Schritte in die richtige Richtung sind besser als
große Worte, die keine praktischen Folgen haben.
Noch immer gibt es in Deutschland nicht einmal für Tumorpatienten ausreichend
viele stationäre palliativmedizinische Versorgungseinrichtungen. Noch
schlechter sieht die ambulante Betreuung aus: In Deutschland gibt es gerade
einmal 30 ambulante Palliativpflegedienste. Allerdings gibt es immer mehr
ambulante Hospizdienste, die meist ehrenamtlich arbeiten. Aber im ambulanten
Bereich gibt es zu wenig palliativmedizinisches Personal. Viele Menschen kommen
deshalb am Ende ihres Lebens in ein Krankenhaus, obwohl sie zu Hause genauso gut
versorgt werden könnten.
Ich wünsche mir, dass wir in Deutschland nicht den Weg gehen, der mit dem Wort
"Sterbehilfe" umschrieben wird. Ich halte das für einen Weg, der in
die Irre führt. Mit einer guten palliativmedizinischen Betreuung sollten wir
einen anderen Weg gehen. Schmerztherapie und Palliativmedizin müssen in
Deutschland deshalb in allen Bereichen weiter gestärkt werden - in der Aus- und
Weiterbildung, in der stationären und ambulanten Behandlung von Patienten und
in Forschung und Entwicklung.
V.
Es ist wichtig, dass Palliativmedizin und Schmerztherapie nicht darauf reduziert
werden, Schmerzen mit Medikamenten zu behandeln; auch die psychischen, die
sozialen, die geistigen Bedürfnisse von Kranken und ihrer Angehörigen müssen
einbezogen werden.
In Deutschland ist dieser "ganzheitliche" Ansatz zuerst in Hospizen
verwirklicht worden. In den 80er Jahren entstanden die ersten Hospize, meist in
der Trägerschaft privater Vereine, die oft von engagierten Christen gegründet
worden sind. In Hospizen werden Sterbende medizinisch gut versorgt und
individuell betreut. Die Angehörigen sind einbezogen. Hospize versuchen, der
Tendenz entgegen zu arbeiten, Sterben und Tod zunehmend ins Krankenhaus zu
verlagern und für die Gesellschaft unsichtbar zu machen.
Ich habe erst vor wenigen Wochen erleben dürfen, wie gelassen, ja fast heiter
eine gute Bekannte dem Tod entgegensehen konnte, weil sie sich in den letzten
Wochen ihres Lebens in einem Hospiz nicht nur gut betreut, sondern verstanden
und in eine größere Gemeinschaft aufgenommen fühlte.
Ich kenne viele Hospize, aber das, von dem ich erzähle, ist das Hospiz
"Zum Heiligen Franziskus" in Recklinghausen. Es ist beispielhaft: Es
wird von einem Verein getragen und hat acht Plätze für stationäre Betreuung;
die ärztliche Versorgung sichert das benachbarte Elisabeth Krankenhaus, mit dem
das Hospiz eng zusammenarbeitet.
Das Hospiz ist in einem kleinen Haus untergebracht, das äußerlich kaum von den
umliegenden Wohnhäusern zu unterscheiden ist; auch die Einrichtung des Hauses
erinnert nicht an eine Klinik. Die Patienten mieten sich im Hospiz ein, die
Pflegeleistungen werden so abgerechnet, wie sie in Anspruch genommen werden. Ein
solches Hospiz bietet den Sterbenden eine Art zweites "Zuhause", in
dem sie selber über ihre Pflege entscheiden können.
Es gibt in Deutschland mittlerweile über 100 Hospize und über 1.000 ambulante
Hospizdienste. Zunächst entwickelte sich die palliativmedizinische Betreuung an
Kliniken und in Hospizen parallel; inzwischen arbeiten die Deutsche Gesellschaft
für Palliativmedizin und die Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz gut zusammen. So
ist in Recklinghausen zum Beispiel, von dem ich erzählt habe, ein
Palliativ-Netzwerk entstanden, an dem neben dem Hospiz mehrere Krankenhäuser,
Onkologie-Praxen, eine Palliativambulanz und eine Ausbildungsstätte für
Palliative Care beteiligt sind.
Ich bin davon überzeugt, dass das ein guter Weg ist und es auf diese Weise
gelingen kann, die Möglichkeiten einer technisch hochentwickelten Medizin mit
psychologischen und sozialwissenschaftlichen Einsichten zusammenzuführen und
mit menschlicher Anteilnahme bei der Betreuung schwerstkranker und sterbender
Menschen zu verbinden.
VI.
Der Umgang mit Schmerz und der Umgang mit dem Sterben und dem Tod geben immer
auch Auskunft über das Selbstverständnis einer Gesellschaft. Im Mittelalter
galten Krankheit und Schmerz als Anzeichen dafür, dass der Betroffene sündig
gelebt und Schuld auf sich geladen habe. Die Neuzeit brachte auch in dieser
Frage eine Emanzipation; allerdings schlug das Pendel nun zu weit in die andere
Richtung aus: Weil die Würde des Menschen allein durch seine geistige Freiheit,
durch seine Vernunftfähigkeit begründet wurde, hatte der Körper zu
funktionieren, damit sich der Mensch seiner Vernunft folgend frei entfalten
konnte.
Etwas davon hat sich bis heute gehalten: Bis heute ist es unschicklich, über
Schmerzen allzu deutlich und allzu laut zu sprechen; Sterben und Tod werden
geradezu tabuisiert. Siegfried Lenz hat gesagt, dass es "charakteristisch
für unsere Zeit" sei, ich zitiere, "das persönliche Leiden zu
verbergen, es nur hinter einem Schirm geschehen zu lassen, in der Anonymität
von Hospitälern oder in der Verschwiegenheit ärztlicher Praxen". Soweit
Siegfried Lenz. Dazu hat auch die moderne medizinische Entwicklung beigetragen,
die Verletzungen und Krankheiten zunehmend als ein Problem interpretiert hat,
das man mit technischen Mitteln lösen kann.
Ich halte es für ein Glück, dass wir in der Medizin immer mehr und immer
bessere technische Möglichkeiten haben, kranken Menschen zu helfen. Je besser
aber die Medizintechnik, umso weniger dürfen wir vergessen, dass Menschen eben
keine Maschinen sind, die zur Reparatur in die Werkstatt kommen.
Die Schmerzmedizin, die Palliativmedizin und die Arbeit der Hospize machen uns
diese Einsicht stärker bewusst. Wirkungsvolle Hilfe gegen unerträgliche
Schmerzen hilft kranken Menschen, in Würde zu leben und zu sterben.
Ich wünsche dem Deutschen Schmerzkongress ein starkes Echo in der
Öffentlichkeit und möchte vor allem diejenigen ermuntern, diesen Weg weiter zu
gehen, die im und für das Gesundheitswesen Verantwortung tragen.
Quelle: Mitteilung vom 8.10.2002
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung http://www.bundesregierung.de/
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