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Telemedizin: Zwischen Zukunftsvision und Realität

Stein, Rosemarie

Zahlreiche ungeklärte Fragen hindern Ärzte und Ärztinnen am Einsatz von Telemedizin.

Ehe die elektronische Kommunikation den Nutzen bringen kann, der in ihr steckt, sind noch viele Hindernisse zu überwinden. Das zeigte sich beim 25. Symposion für Juristen und Ärzte der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen Mitte Februar in Berlin.
Eine verlockende Vorstellung: Jeder Arzt kann sich das beste verfügbare Expertenwissen für jeden Patienten umstandslos jederzeit nutzbar machen. Die Telemedizin – als anwendungsbezogener elektronischer Austausch klinischer Daten zwischen räumlich entfernten Ärzten – macht’s möglich, hier und da ist sie schon Wirklichkeit. Nicht zufällig war es Prof. Dr. med. Manfred Dietel, der zum ersten Vortrag gebeten wurde. Denn der Direktor des Pathologischen Instituts der Berliner Charité konnte über Erfahrungen mit einem der wenigen telemedizinischen Systeme Deutschlands berichten.
Sein Institut ist seit Juli 2000 Sitz des telepathologischen Konsultationszentrums der Weltkrebsgesellschaft (Union Internatio-nale Contre le Cancer). Über diese Drehscheibe kann jeder Pathologe der Welt rund um die Uhr per Internet (www.uicc-tpcc.charite.de) die zweite Meinung eines Experten einholen. Man schickt Informationen über den Patienten, Röntgenbilder und bis zu 40 mikroskopische Schnittbilder elektronisch nach Berlin und erhält binnen zwei, drei Tagen die Antwort von einem (ehrenamtlich tätigen) international bekannten Fachkollegen, vor allem auf die Frage nach der Malignität von Tumorgewebe.
Wie Dietel erläuterte, geht die neuste Entwicklung hin zum direkten Online-Tele-Mikroskopieren mit elektronischer Steuerung des Mikroskops aus der Ferne. Innerhalb Europas sei dies schon Realität. Der globale Einsatz werde aber noch behindert, weil der interkontinentale Bilddatentransfer langsam und kostspielig ist. Auch in vielen anderen Fachgebieten entwickeln sich solche Informationsnetze. Dietel sprach zum Beispiel von Tele-Radiologie,
-Dermatologie und -Chirurgie. Der Zwang zur vernetzten Information ergebe sich nicht nur aus der zunehmend verfeinerten Diagnostik und individualisierten Therapie, sondern auch aus ökonomischen Gründen (zum Beispiel der Vermeidung von Doppeluntersuchungen). Dietel prognostizierte komplexe Systeme, die alle medizinischen Daten eines Patienten immer und überall verfügbar machen, „beim Hausarzt ebenso wie für den akuten Notfall oder den Krankheitsfall in China".
Die Berliner Realität aber sei noch geprägt von unvollständigen Krankengeschichten und handgeschriebenen Notizen, sagte C. Peter Waegemann, Direktor des Medical Record Institute in Newton/Massachusetts. Mehr und mehr würden dennoch alle Möglichkeiten des Zugriffs auf medizinisch-wissenschaftliche Daten im Internet wahrgenommen – letztes Jahr von nicht weniger als 84 Millionen Menschen. Die Nutzer sind offenbar mehrheitlich Patienten und nicht Ärzte, zumindest in Deutschland. Wie Waegemann berichtete, klickten sich 700 deutsche Kinderärzte im Jahr, aber 2 000 deutsche Eltern im Monat auf der Suche nach pädiatrischen Informationen durch das Internet. Den Patienten werde zunehmend bewusst, dass der „mehrwissende Facharzt" für ihre Krankheit auch dann gefragt werden kann, wenn er nicht im selben Ort oder auch nur im selben Land sitzt.
„Der Zug ist abgefahren", sagte Waegemann. Bleiben die Ärzte zurück? Ohne die nötigen rechtlichen und ökonomischen Voraussetzungen fehle ihnen der Investitionsanreiz für eine umfassende Telemedizin, meinte Peter Kleinschmid, bei Siemens verantwortlich für Medizintechnik. Auch für seine Firma sei die Sache noch nicht wirtschaftlich: „Wir sind noch bei vorbereitenden Aktionen." Das heißt: Siemens stellt Geräte und Tele-Dienste aus Marketingerwägungen vorerst teilweise unentgeltlich zur Verfügung. Kleinschmidt glaubt aber an eine Zukunft, in der „der virtuelle Patient von einem elektronischen Schutzengel überwacht wird". Die technischen Probleme seien jedoch leichter zu lösen „als das Problem, was wer sehen und tun darf".
Dies ist eine der vielen Schwierigkeiten, deren Diskussion am Ende die Darstellung der positiven telemedizinischen Möglichkeiten überwog. Die Selbstbestimmungsrechte aller Beteiligten müssten gewahrt bleiben, auch wenn Patientenakte, Arztbriefe, Rezepte und ärztliches Konsil in elektronischer Form existieren, sagte der bayerische Datenschutzbeauftragte Reinhard Vetter. Telemedizin müsse datenschutzgerecht konzipiert sein. Das bedeute Wahrung des Arztgeheimnisses und der Rechte des Patienten auf Information und Transparenz sowie auf Berichtigung falscher beziehungsweise zeitgerechte Löschung nicht mehr erforderlicher Daten. Selbst ein elektronisches Rezept bedürfe der Einwilligung des Patienten, sagte der Münchner Jurist. Der Kölner Anwalt Dr. jur. Albrecht Wienke riet, sich als Arzt – nach Aufklärung über Umfang, Risiken und Alternativen – auf jeden Fall schriftlich bestätigen zu lassen, dass der Patient der elektronischen Übermittlung seiner Daten zustimmt.

Tele-Radiologe haftet für Fehlbefundung

Eine andere ungelöste Rechtsfrage ist die der Haftung, etwa beim Telekonsil. Ein Konsiliararzt, der die Behandlung nicht mitübernimmt, sondern nur einen Beitrag dazu leistet, hafte zivilrechtlich in der Regel nur für eigenes Verschulden, sagte der Münchener Rechtsanwalt Prof. Dr. jur. Dr. rer. pol. Klaus Ulsenheimer. Darunter fallen falsche Diagnosen, Auskünfte oder Anweisungen, aber auch das Übersehen offensichtlicher Fehler des behandelnden Arztes, außerdem Kooperations- und Organisationsmängel. Letztere könnten auch zu strafrechtlichen Folgen führen, selbst zu einer Klage wegen fahrlässiger Körperverletzung oder sogar fahrlässiger Tötung. Ulsenheimers Beispiel: Ein zugeschalteter Konsiliar-Radiologe befundet ein CT falsch, weil die Grauwerte fehlerhaft übertragen wurden.
Auch ein ganz neues strafrechtliches Problem ist erst durch die Telemedizin aufgetreten: Muss ein entfernt wohnender Spezialist bei einem Unglücksfall Hilfe leisten, wie es ja allgemein Pflicht ist, nur weil er telemedizinisch zugeschaltet wird? Ulsenheimer bejahte das, der Arzt könne sich sonst der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Noch kompliziertere medizinrechtliche Fragen ergeben sich aus den zunehmenden Grenzüberschreitungen innerhalb Europas. Wie der Berliner Rechtsanwalt Priv.-Doz. Dr. jur. Dr. med. Christian Dierks mitteilte, sei man sich in verschiedenen europäischen Gremien einig, zunächst einen informellen „Code of Good Practice" und später schrittweise EG-Richtlinien und -Verordnungen zu erarbeiten, um einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen für die Telemedizin zu schaffen.
Am Beispiel eines englischen Patienten in einem holländischen Krankenhaus, das einen deutschen Konsiliararzt elektronisch hinzuzieht, zeigte der Berliner Anwalt Dr. jur. Martin H. Stellpflug die kniffligen Arzthaftungsprobleme einer grenzüberschreitenden telemedizinischen Kooperation auf. Nach welchem Recht haftet der Konsiliararzt? Vor welchem Gericht kann er wegen eines behaupteten Behandlungsfehlers verklagt werden? Infrage kämen England, die Niederlande und Deutschland. Einfluss auf die Wahl könnte der deutsche Arzt nur nehmen, wenn er mit dem Patienten vor Behandlungsbeginn eine schriftliche Vereinbarung getroffen hätte. Sie sei jedoch unwirksam, wenn der Patient als „Verbraucher" nach dem Recht eines anderen der zur Wahl stehenden Länder besser geschützt wäre.
Man solle seine Versicherung fragen, ob die telemedizinische Tätigkeit eingeschlossen sei, denn in der Regel müsse dies ausdrücklich vereinbart werden, riet der Pathologe Dietel – und meinte im Übrigen, wenn man alles das vorher gewusst hätte, was jetzt die Juristen zu bedenken gäben, „dann hätte man mit der Telemedizin nie angefangen". Die Juristen hingegen glauben nicht, dass das Recht die Telemedizin behindern wird. Es habe sich jedoch auf die neuen Probleme einzustellen, sagte Stellpflug.
In mehreren Vorträgen des Symposions ging es darum, was die breite Einführung der Telemedizin behindere, auch abgesehen von den Rechtsproblemen. Im Hinblick auf die wünschenswerte Vernetzung der Arztpraxen untereinander und mit Kliniken zeichnete Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Erster Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), ein ebenso umfassendes wie illusionsloses Bild. Er nannte als Voraussetzung an erster Stelle eine bessere Kommunikation und Zusammenarbeit ambulant und stationär tätiger Ärzte. Ziel der Vernetzung müsse die optimale Behandlung der Patienten auf der jeweils angemessenen Versorgungsebene sein.

Hemmnisse für die Telemedizin


Erstes Hemmnis ist nach Richter-Reichhelms Worten der Datenschutz. Die Einwilligung der Patienten oder aber eine gesetzliche Ermächtigung muss vorliegen, ehe man Daten elektronisch übermittelt. Ihre Verschlüsselung wird von der KBV begrüßt. Unnötige und ungezielte Datenerhebungen sind nicht zulässig. Außenstehende dürfen keinesfalls Zugriff haben, und die Identifizierung von sendendem und empfangendem Arzt muss sicher sein.
Zweitens gibt es noch technische Probleme. Die unterschiedlichen EDV-Systeme sind nicht alle kompatibel, es fehlen noch Standards, und die Sicherheit bei der Übertragung personenbezogener Daten ist auch technisch nicht gewährleistet. Drittens bestehen bei vielen Ärzten und ihren Teams noch Ausbildungs- und Informationsdefizite. Viertens schlägt sich die telemedizinische Leistung noch nicht in der Vergütung nieder. Es sind dafür aber zunächst erhebliche Investitionen notwendig.
Um diese Hindernisse zu überwinden, forderte Richter-Reichhelm alle Akteure im Gesundheitswesen auf, an einer „einheitlichen, interoperablen, sicheren und konsensfähigen Grundlage" für die Telemedizin mitzuarbeiten. Von wirklichem Nutzen wird sie seiner Einschätzung nach erst dann sein, wenn alle Ärzte und Ärztinnen sich beteiligen. Und noch einen Punkt erwähnte Richter-Reichhelm, den auch der stellvertretende Vorsitzende der Kaiserin-Friedrich-Stiftung, Prof. Dr. med. Werner Schlungbaum, im Schlusswort ausdrücklich hervorhob: Keinesfalls darf die Arzt-Patient-Beziehung unter der neuen Technik leiden. Rosemarie Stein

Quelle: Deutsches Ärzteblatt 98, Heft 18 vom 04.05.2001, Seite A-1161 [POLITIK]