Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Droht ein neuer Pflege-Notstand?
Anspruch und Wirklichkeit professioneller Pflege in Deutschland
P r e s s e s t a t e m e n t
Die Neuwahl seines Präsidiums 2001-2003 nimmt der Deutsche Pflegerat (DPR)
zum Anlass, um erneut öffentlich auf den Spagat zwischen Anspruch und
Wirklichkeit professioneller Pflege in Deutschland hinzuweisen: Die pflegerische
Versorgung der Bevölkerung ist gefährdet und macht die Stärkung der
beruflichen Pflege erforderlich. In der Praxis wird eine Bewegung zur
Deprofessionalisierung (Beschäftigung von gering oder gar nicht qualifizierten
Pflegepersonen) festgestellt, und es wird immer deutlicher, dass der Kostendruck
in vielen Einrichtungen des Gesundheitswesens eine höhere Priorität hat als
die Sicherung der Pflegequalität. Die Diskrepanz zwischen Berufsverständnis
und beruflicher Realität scheint zur Zeit ein unüberwindbares Hindernis zu
sein, welches darüber hinaus eher zur Berufsflucht führt als junge Menschen
für die Pflegeberufe zu begeistern.
Es besteht bereits wieder ein eklatanter Mangel an qualifizierten
Pflegekräften
Dieser wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass der
Gesetzgeber keine Entscheidung zur Sicherung der Ausbildungsfinanzierung in der
Krankenpflege trifft, sondern diese weiterhin in Abhängigkeit der
wirtschaftlichen Situation der Krankenhäuser belässt, und die Feststellung der
Rechtsmäßigkeit der Ausbildungsfinanzierung in der Altenpflege vom
Bundesverfassungsgericht noch aussteht. Die im Deutschen Pflegerat
zusammengeschlossenen Pflegeorganisationen haben rechtzeitig die Bundes- und
Landespolitik vor den Folgen unzureichender Einbeziehung der Pflegeinteressen
innerhalb der Gesundheitsgesetze gewarnt. Inzwischen werden die DPR-Argumente
durch die Realität eingeholt.
Nachfolgend sollen einige entscheidende Aspekte aufgeführt werden, die die
Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit beschreiben:
I Bedeutung von Pflege für die Gesellschaft
Pflege im ursprünglichen Sinn ist eine selbständige Tätigkeit, die ihren
"Auftrag" vom Bedürfnis des Betroffenen abhängig macht.
Die Angehörigen der pflegerischen Berufe legen dementsprechend der
Beschreibung von Pflege einen ganzheitlichen Gesundheitsbegriff zugrunde. Sie
verstehen unter pflegerischer Intervention die Wiederherstellung der
Selbstpflegefähigkeit des Einzelnen. Zur Erstellung der pflegerischen Diagnose
gehört daher die Ermittlung des Grades der Abhängigkeit oder Selbständigkeit
eines Patienten. Oder auch die Einschätzung nach Kriterien der
Funktionsfähigkeit versus Behinderung. Pflege, die nach diesen Erkenntnissen
innerhalb des Pflegeprozesses geplant, durchgeführt und evaluiert wird, bezieht
präventive, curative, rehabilitative, aber auch palliative Maßnahmen ein und
ist dementsprechend als hochkomplexe Aufgabe zu verstehen.
Während Pflege im beschriebenen Sinn sich auf die jeweilige Situation des
Patienten und seine Bedürfnisse bezieht, verliert der Pflegebegriff im Bereich
der Gesundheits- und Sozialpolitik seine Komplexität und wird im Gegenteil
funktionalisiert. Es entstehen plötzlich Differenzierungen des Pflegebegriffs
in Krankenhauspflege, Krankenhausvermeidungs- oder Krankenhausersatzpflege,
Krankenhausverkürzungspflege und schließlich Behandlungssicherungspflege.
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass diese Differenzierungen nicht
inhaltlich vorgenommen werden. Sie beschreiben keine speziellen Interventionen,
keinen fachlichen Anspruch, sondern dienen ausschließlich dem Zweck,
festzulegen, ob, in welcher Form und durch wen die jeweilige Kategorie Pflege zu
finanzieren ist. Sie dient also der Einteilung in vergütungsfähige Leistungen
und entscheidet über die Finanzierung nach den Sozialgesetzbüchern (SGB V, SGB
XI und neuerdings auch SGB IX). Das SGB XI nimmt im Übrigen noch eine andere
Einteilung vor. Es differenziert in "Pflege", für die Pflegegeld
gezahlt wird, und "Sachleistungen", die eigentlichen professionellen
Pflegeleistungen. Letztere gilt es aus Sicht der Kostenträger möglichst zu
vermeiden, da sie kostenintensiver sind.
II Keine Gesundheitsleistungen ohne Pflegeleistungen
Zur Verdeutlichung dieser These eignet sich das Bild eines Mobiles. Es macht
bewusst, was geschieht, wenn in dem System „Gesundheitswesen" die
Gewichte verschoben werden. Die folgende grobe Skizze des Gesundheitswesens
macht deutlich, wie viele Gewichte im System es gibt, die durch Pflege geprägt
sind.
Je nach Art von Kranken- und Kinderkrankenhäusern ist Pflege auf den
Allgemeinstationen und Intensivstationen, in Behandlungsräumen und Ambulanzen,
in Operationssälen und Anästhesieabteilungen nicht wegzudenken. Darüber
hinaus findet Pflege in Psychiatrischen Kliniken, in Rehakliniken, in
stationären und teilstationären Pflegeeinrichtungen, in Tages- und
Nachtkliniken, in Alten- und Behinderteneinrichtungen, in Hospizen und in
ambulanten Pflegediensten statt. Dieses Mobile, das sich einigermaßen im
Gleichgewicht befindet, lässt sich durch eine scheinbar geringfügige
Veränderung in ein Chaos verwandeln. Wenn nämlich für den Zeitraum einer
Woche für alle beruflich Pflegenden in allen genannten Einrichtungen
gleichzeitig "Dienst nach Vorschrift" angeordnet würde. Das würde
folgende Wirkung haben: Alle gemachten Überstunden werden in Freizeit
ausgeglichen, alle Bereitschaftszeiten werden als geleistete Überstunden
berechnet, jede vorgeschriebene Pause wird eingehalten, jeder Arbeitstag wird,
unabhängig vom Arbeitsanfall, pünktlich begonnen und beendet. In der
ambulanten Pflege werden, bei Pflegeverrichtungen exakt die Zeiten eingehalten,
die der Vergütung der Leistung zugrunde liegen, und nicht vergütungsfähige
Leistungen werden abgelehnt. Es braucht weder viel Phantasie noch pflegerisches
Insiderwissen, um sich die Turbulenzen vorzustellen, denen das vorgestellte
Mobile ausgesetzt ist.
III Keine Entgeltverordnungen ohne Pflegeentgelte
Das vorgestellte Bild macht die Wirkung pflegerischer Leistung im
Gesundheitswesen deutlich, erklärt die Bedeutung der Aussage „Es gibt keinen
pflegefreien Raum im Gesundheitswesen." Und es relativiert die
leistungsrechtliche Feststellung „Es gibt keinen arztfreien Raum."
Letztere soll festschreiben, dass für alle Leistungen im Gesundheitswesen eine
ärztliche Anordnung erforderlich ist, um zum einen ihre fachliche Richtigkeit
zu legitimieren und zum anderen ihre Vergütung nach SGB V zu rechtfertigen.
Im Krankenhaus scheint die durch Pflege erbrachte Leistung zumindest
grundsätzlich außer Frage zu stehen. Allerdings gibt es noch wichtige
Detailfragen zu klären. Die Erlösrelevanz einer Leistung kann und darf nicht
allein von der ärztlichen Diagnose abhängen, sondern auch pflegerelevante
Diagnosen und Prozeduren gehören dazu. Außerdem muss darüber verhandelt
werden, unter welchen Voraussetzungen und bis zu welchem Termin
pflegespezifische erlösrelevante Daten nach einem Versuchszeitraum noch
eingebracht werden können. Hier steht der Deutsche Pflegerat in Verhandlungen
mit den Vertragspartnern der Selbstverwaltung und hat auch zum Referentenentwurf
für das sich im Verfahren befindliche DRG-Gesetz diesbezüglich klar Position
bezogen (s. DPR-Stellungnahme v. 27.07.2001).
Für die Pflege außerhalb des Krankenhauses haben das
Pflegeversicherungsgesetz und juristische Entscheidungen die Arztabhängigkeit
pflegerischer Leistung zum Teil relativiert. Pflegeleistungen ergeben sich im
Bereich der stationären Altenhilfe und in der häuslichen Pflege aus dem
Versorgungsauftrag nach SGB XI und der Festlegung der Pflegestufe. Während
juristische Entscheidungen in den achtziger Jahren (z.B. das sogenannte
Dekubitusurteil) die Anordnung pflegerischer Prophylaxen noch in die ärztliche
Verantwortung stellten, gibt es inzwischen Urteile, die Pflegediensten oder
Alteneinrichtungen die unmittelbare Verantwortung für die entstandenen Schäden
durch vernachlässigte Prophylaxen zusprechen. Auch die Richtlinien nach §132
SGB V, die zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den
Spitzenverbänden der Krankenkassen vereinbart wurden, verändern das bisherige
Bild. Die neuen Richtlinien enthalten den eindeutigen Hinweis, dass
prophylaktische Maßnahmen unanhängig von ihrem Zusammenhang mit
Behandlungssicherungspflege in den Verantwortungsbereich der professionell
Pflegenden gehören.
Mit dieser Entwicklung wird die Autonomie pflegerischer Leistung hinsichtlich
ihrer Entscheidungsverantwortung vorangetrieben. Damit wird es notwendiger denn
je, für den ambulanten Bereich Entgeltverordnungen zu erlassen, die Erlöse
für pflegerische Leistungen ausdrücklich kostenträgerunabhängig festlegen.
Hier verweisen wir auf die Schnittstellen zwischen den Kostenträgern. Es ist
weder nutzerorientiert, den Betroffenen oder ihren Angehörigen zuzumuten, sich
die Erstattung sogenannter pflegerischer Sachleistungen zu erstreiten, noch
gehört es zum Aufgabenbereich der Pflegedienste, hier Lotsendienste zwischen
den unterschiedlichen Leistungsgesetzen und den von ihnen abgeleiteten
Verordnungen und Richtlinien zu erbringen. Vielmehr erwartet die Pflege als
unmittelbare Vertragspartnerin der Kostenträger, analog den kassenärztlichen
Vereinigungen, verpflichtend eingebunden und ernst genommen zu werden.
IV Spagat zwischen Sozialpflicht und Kommerz
Für die Pflege wird es daher wesentlich sein, die beschriebene Autonomie des
Berufes zu stärken. Dazu muss ein länderübergreifender Minimalkonsens zu
Aufgabenvorbehalten der Pflegeberufe entwickelt werden. Dies könnte über die
Gesundheitsministerkonferenz unter Einbeziehung des deutschen Pflegerates
erfolgen. Hier sollte die Zuständigkeit der Pflegeberufe für bestimmte
Leistungen, analog den Richtlinien der Selbstverwaltungspartner, in einem
Leistungskatalog festgelegt werden. Dieser Leistungskatalog, verbunden mit einer
entsprechenden Qualifikationsanforderung an die jeweils Pflegenden, würde die
Bürger bzw. Nutzer pflegerischer Leistung vor Missbrauch schützen, den Umweg
über ärztliche Verordnungen abkürzen und dabei möglicherweise Kosten
einsparen.
Es sollten die geforderten Berufsvorbehalte, die übrigens auch vom
Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen empfohlen
werden, in eine Berufsordnung eingehen (s. DPR-Stellungnahme v. 05/2001). Diese
muss - analog der Berufsordnung der Hebammen - länderübergreifend durch die
Berufsgruppe entwickelt und kontrolliert werden. Damit würde ein entscheidender
Schritt in Richtung berufliche Selbstverwaltung getan und die Autonomie
der Pflegeberufe gestärkt. Dass dazu eine Registrierung der professionell
Pflegenden erforderlich ist, versteht sich von selbst.
Zur Durchsetzung von Entscheidungen, die die aufgezeigten Türen öffnen
können, benötigt die Pflege auf diesem Weg in die Autonomie die Unterstützung
der Länder- und Bundespolitik sowie der betroffenen Gesellschaft.
1,2 Mio. Beschäftigte in der Pflege in Gesundheitseinrichtungen brauchen
Lösungen, um diesen Spagat zu meistern. Der DPR sieht seine politische Aufgabe
u.a. darin, zukunftsweisende Konzepte und Modelle aufzuzeigen und Wege der
Realisierbarkeit zu finden. Der DPR nimmt die Herausforderungen an, innovative
Ideen in die gesundheitspolitische Diskussion einzubringen. Inwieweit der Runde
Tisch des Bundesgesundheitsministeriums mit seinen Arbeitsgruppen eine
Modernisierungsplattform ist bzw. wird, muss erst noch erfahren werden.
Sicher ist jedenfalls, dass durch die deutliche Ausrichtung auf die
Ökonomisierung bereits heute die Schieflage (Personalflucht, Bewerberrückgang
für die Ausbildung, fehlende Fachkräfte etc.) zu erkennen und leidvoll für
viele Versicherte spürbar ist und zunehmen wird. Der DPR weiß um die Knappheit
der Ressourcen, erkennt aber zugleich die strukturellen Fehler durch die
Trennung der Sozialgesetze (z.B. SGB V und SGB XI), weiß aber auch vor allem in
der ambulanten Versorgung um die spürbaren Defizite, z.B. in Folge der
zunehmenden Verweildauerverkürzung im Krankenhaus. Des weiteren zeigen sich
Hemmnisse durch traditionelle Ansprüche von einigen am Gesundheitssystem
Beteiligten.
Die genannten Aspekte wirken sich nicht nur auf den Wettbewerb, die Qualität
und auf die internationalen Vergleiche unseres Gesundheitswesens aus, sondern
schaden letztendlich den Menschen unserer Gesellschaft.
Berlin, den 13. August 2001, Deutscher Pflegerat (DPR)
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