Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Patientenrechte gegen Sozialdarwinismus
Gesundheitsdebatte. Mit schön klingenden Umschreibungen sollen uns immer weitere Ausgabenkürzungen im Gesundheitswesen schmackhaft gemacht werden. Doch
auch das Argument des "optimalen Mitteleinsatzes" läuft und Leistungsabbau Patientenselektion hinaus.
Wer erinnert sich nicht an die dumm-dreisten Sprüche aus den Anfängen der
Gesundheitsreform-Debatten? Das "Anspruchsdenken" der Versicherten sei
schuld an einer vermeintlichen Kostenexplosion im Gesundheitswesen, deren
Forderungen auch kostenlosen "Bauchtanzkursen" und "Brillen mit
Scheibenwischern". Die Reformen seien nötig, "Überflüssiges"
abzubauen, um Rationierungen im Bereich der notwendigen medizinischen Behandlung
zu verhindern - so lautete bis heute das Credo jeder "Reform".
Doch was es tatsächlich an Überflüssigem, auch an
Wirtschaftlichkeitsreserven gab, ist längst abgebaut bzw. aufgezehrt. Mit den
heute der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Verfügung stehenden
Geldmitteln läßt sich eine adäquate, d.h. dem Stand des medizinischen Wissens
und Könnens entsprechende Patientenversorgung, nicht mehr gewährleisten. Die
Budgets sind so knapp bemessen, daß Leistungsverknappungen und Rationierungen
geradezu einprogrammiert sind - selbst dort, wo es um schwerkranke Menschen, um
Leben und Tod von Patienten geht.
Diese Entwicklung stellt die Mitarbeiter im Gesundheitswesen, allen voran die
Ärzte, vor schwere Gewissenskonflikte. Wider besseres Wissen und Können
Patienten Behandlungen und Therapien vorzuenthalten, das widerspricht eindeutig
dem ärztlichen Berufsbild und Ethos. Nicht zuletzt deswegen hat es im Vorfeld
der letzten Gesundheitsreform kraftvolle Demonstrationen gegen Leistungsabbau
und Rationierung im Gesundheitswesen gegeben, gab es erstmals
berufsgruppenübergreifende Allianzen zur Verteidigung der Patientenrechte.
Doch es gibt auch andere Reaktionen in der Ärzteschaft. Zusammengefaßt
lauten sie etwa folgendermaßen: Die finanziellen Ressourcen, die dem
Gesundheitswesen zur Verfügung stehen, sind aufgrund der Erhöhung der
allgemeinen Lebenserwartung, des medizinischen Fortschritts und der
Einnahmeschwäche in der GKV zu gering, um allen Patienten das medizinisch
Mögliche zu gewähren. Doch während sich die Politik aus der Verantwortung
stiehlt, wird der Arzt durch die Rolle des Verteilers rationierter Budgets in
die Rolle des Sündenbocks gezwungen. Die Ärzteschaft darf dies nicht
akzeptieren, sondern muß diesen "Schwarzen Peter" an Politik und
Gesellschaft zurückgeben.
Diese Haltung ist durchaus verständlich. Wichtig jedoch ist, welche
Schlüsse daraus gezogen werden. Gibt man den "Schwarzen Peter" mit
dem Auftrag an die Politik zurück, für eine ausreichende Mittelbeschaffung zu
sorgen, so daß kein Arzt der peinlichen Situation ausgesetzt ist, Triage
praktizieren zu müssen? Oder akzeptiert man die Mittelbegrenzung als
unabänderlich und reicht den "Schwarzen Peter" mit der Aufforderung
an Politik und Gesellschaft zurück, daß sie entscheiden solle, welche
Patienten, welche Krankheits- und Altersgruppen eingeschränkt oder garnicht
mehr behandelt werden?
Solch eine Herangehensweise ist inzwischen recht weit verbreitet. Als
Beispiel sei hier Prof. Weißbach, Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft
genannt, der am 21. März im Rahmen eines Interviews mit der Süddeutschen
Zeitung die Errichtung einer Bundestags-Enquete-Kommission forderte, die
diskutieren solle, "welche Medizin wir brauchen und welche wir auch
bezahlen können".
Beweggründe für solche Forderungen sind bei sonst wohlmeinenden Medizinern
Verärgerung über die Gesundheitspolitiker oder die fatalistische Überzeugung,
daß man an den finanziellen Gegebenheiten und Engpässen nichts ändern könne.
Gefährlicher sind hingegen die "Überzeugungstäter", und die haben
derzeit Hochkonjunktur. Es vergeht kaum ein medizinischer Kongreß, ohne daß
vermeintliche Ökonomen sich über "Ethik und Ökonomie" usw.
auslassen. In der Regel wird der Patient dabei zum bloßen Kostenverursacher
degradiert, die Sinnhaftigkeit seiner Behandlung nach rein
"ökonomischen" Gesichtspunkten diskutiert. Bisweilen wird allen
Ernstes gefragt, die meisten Krankheiten könne man ohnehin nicht heilen, wozu
also erst den Versuch unternehmen?
Nicht jeder solche "Ökonom" besitzt die Intelligenz, die praktischen
Auswirkungen seiner Aussagen zu überschauen. Aber die Urheber dieser
Geisteshaltung, die Sozialdarwinisten und Bioethiker, wissen durchaus was sie
tun. Sie leugnen die jüdisch-christliche Überzeugung, daß dem Menschen in der
Schöpfung eine besondere Rolle zukommt. Der Mensch stellt für sie kein
besonders schutz- und erhaltungswürdiges Lebewesen dar, insbesondere nicht die
schwachen und kränkelnden Geschöpfe unter ihnen, für die es sich erst recht
nicht "lohnt", ins Soll abzurutschen. Im Rahmen der Wirtschaftskrise
scheint die große Stunde gekommen zu sein, das Credo Darwins und verwandter
Lehren einer geneigten Öffentlichkeit zu präsentieren und politisch
umzusetzen.
Neu ist dieser Versuch nicht, der oft unter der Maske eines vermeintlichen
Humanitätsanspruchs daherkommt. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die
Sterbehilfe- und Euthanasiedebatte des zurückliegenden Jahrzehnts.
Und wieder wird ähnlich diabolisch vorgegangen, um Widerspruch und
Auflehnung unter den Ärzten gegen die ihnen auferlegte Rationiererrolle zu
brechen. Wie auf dem jüngsten Kongreß der Deutschen Krebshilfe in Berlin wird
über "medizinisch sinnvolle Prioriätensetzung" und "optimalen
Mitteleinsatz" doziert: Oh ja, man kenne die Konflikte der Ärzte, die
schließlich "andere Schwerpunkte setzten als bloße
Kostendämpfungspolitiker". Doch leider, leider sei das maximal Mögliche
selbst bei schweren Erkrankungen nicht länger realisierbar. Werde aber dennoch
mit allen Mitteln für ein Menschenleben gekämpft, dann fehlten diese Mittel an
anderer Stelle, bei einem anderen Patienten. Dies könne doch kein Arzt wollen.
Ein "optimaler Mitteleinsatz" verbiete eine "einseitige
Maximierung", wenn die Behandlungsansprüche aller Patienten gerecht
befriedigt werden sollten.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, solch eine vermeintliche
"Behandlungsgerechtigkeit" herzustellen. Entweder schließt man
bestimmte "teure" Krankheitsbilder und bestimmte Patienten, um deren
Leben noch unlängst gekämpft worden wäre, von vornherein von jeglicher
kostenintensiven Behandlung aus. Und/oder man macht die Behandlungsgewährung
von statistischen Erfolgsaussichten abhängig, die zuvor am grünen Tisch
festgelegt werden. "Weg vom Einzelfall", lautet die neue Devise, die
dem Arzt die Argumentation am Krankenbett erleichtern soll. Damit soll die
Entscheidung einen Patienten nicht zu behandeln, auf eine dritte
"zuständige Instanz" abgewälzt werden. Moralischen Einwänden gegen
diese Vorgehensweise wird stereotyp entgegnet, das Geld könne schließlich an
anderer Stelle "nutzbringender" verwendet werden. Und da Ärzten das
Patientenwohl eine Herzensangelegenheit sei, könnten sie auf diese Weise unter
den zwar beklagenswerten, aber gegebenen Umständen doch noch das Beste
herausholen.
Halten wir hier einen Moment inne: Ist es wirklich gut, daß ein
Mensch unnötiges Leid ertragen oder gar sterben muß, damit ein anderer leben
kann?!
Ist diese Form der Nützlichkeitsethik nicht ebenso brutal und eines Arztes
unwürdig wie ungeschminktere Varianten? Der Arzt wird so oder so mißbraucht
oder sogar in die Rolle des Henkers gedrängt. Und für den Patienten kommt es
allemal aufs Gleiche hinaus, wenn eine notwendige Behandlung unterbleibt: Er
muß leiden oder sogar früher sterben. Und diejenigen Patienten, die von dieser
Taktik des Gegeneinander- Ausspielens vielleicht anfänglich profitierten?
Werden sie wirklich so naiv sein zu glauben, dies werde auch so bleiben? Bei
sich weiter verschärfender Kassenlage sind auch sie nicht mehr sicher und
vielleicht die nächsten, deren Behandlung als "zu teuer" eingestuft
wird.
Zu teure Patienten über Bord!?
Dieser Prozeß hat längst begonnen. Die Gruppe der "teuren", sehr
betreuungsintensiven Wachkoma-Patienten war die erste, für die in diesem Lande
das Lebensrecht öffentlich in Frage gestellt wurde. Wir sagten frühzeitig
voraus, daß diese Entwicklung bei sich weiter verschärfender Kassenlage nach
und nach auch andere "teure" Patientengruppen beträfe. Leider hat
sich genau dies bewahrheitet. Spätestens der Deutsche Krebskongreß in Berlin
hat verdeutlicht, daß nun auch die zahlenmäßig weitaus größere Gruppe der
Krebskranken ins Visier der Kostensparer gerückt ist.
Mittlerweile erinnert das Szenario, das unserer Gesellschaft und insbesondere
den Ärzten aufgedrängt wird, zunehmend an die klassische
Schiffbruch-Situation: Ein enges Boot, einige Überlebende, wenig Proviant.
Anfangs zog man die Verletzten aus dem Wasser, man war froh über jeden
Geretteten. Nach wenigen Tagen wird der Proviant, das Wasser knapp. Man sieht
sich verstohlen um. Der unter der Plane, wird der nicht ohnehin sterben? Geben
wir das Wasser lieber denen, die noch eine Chance haben. Die Tage vergehen, und
sofern die Sozialdarwinisten in diesem Schiffbruch Drama Regie führen - wird es
schließlich der Stärkste sein, der die Vorräte gegen die Übrigen verteidigt.
Für seine Mitreisenden spielt es dabei eine untergeordnete Rolle, welche
Argumente jener dafür angibt, z.B. daß es schließlich immer noch besser sei,
einer überlebe als gar keiner.
Ein unnötiges Dilemma
Doch bevor der werte Leser jetzt bedrückt die Parallelen zur Wirklichkeit
zieht, halte er bitte einen Moment inne. Er muß sich diesem lähmenden Szenario
nämlich gar nicht aussetzen, der Vergleich mit der Lage im Rettungsboot
entspricht nämlich nicht der Wirklichkeit! Verlassen wir doch einmal die uns
zugedachte Statistenrolle und stellen uns vor, wir hätten das Kommando: Wir
könnten ebensogut ans Ufer rudern und den Verletzten und Schwachen dort Hilfe
verschaffen. Und niemand behaupte, dies sei nicht der Mühe wert.
Nächstenliebe und Menschlichkeit, sind das keine "Werte"? Oder unsere
berufliche und persönliche Integrität und Kreativität? Der Dank eines
Patienten und seiner Familie, um dessen Leben mit ärztlicher Hingabe gekämpft
wurde? Auch der Dank des Sterbenden, der ehrliches Bemühen und Mitgefühl
erfahren durfte, ist der Rudermühe wert.
Im Boot dagegen herrscht der Sozialdarwinismus, das Recht des Stärkeren und
wir - sind die Verlierer. Vertreten wir dagegen beherzt den Standpunkt der
Nächstenliebe, so sind wir plötzlich in der Lage, Alternativen zu erkennen und
Auswege aus scheinbar verfahrenen Situationen zu finden. Plötzlich wird klar:
Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, Triage oder Rationierung zu
betreiben! Wir befinden uns weder im Krieg noch auf besagtem Boot, wo die
Knappheit der Mittel zur Auswahl zwingen kann, sondern in einer Industrienation,
die immer noch über Infrastruktur und Mittel verfügt, relativ mühelos die
medizinischen Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung befriedigen zu können.
Wir nehmen wieder wahr, daß sich das Problem, mit dem wir es derzeit zu tun
haben, auf die Finanzierungsfrage und die Einnahmeschwäche der gesetzlichen
Krankenkassen reduziert. Hier müssen wir ansetzen? Wenn die Wirtschaftskrise
die Einnahmebasis der GKV schwächt, dann muß darüber nachgedacht werden, wie
diese zu beheben ist. Programme dazu liegen auf dem Tisch (siehe BüSo-Beitrag
Seite 1). Sie werden nicht von heute auf morgen, aber mittelfristig greifen. Und
in der Zwischenzeit hat die Regierung den gesetzlichen Auftrag, bestehende
Finanzierungslücken durch die Bereitstellung der benötigten Gelder zu
schließen - auch wenn Gesundheitsökonomen, denen ausgeglichene Bilanzen
wichtiger sind als Menschenleben, das nicht hören wollen.
Unterlassene medizinische Versorgung bricht geltendes Recht
Das bestehende Recht ist auf unserer Seite. Die diesbezüglichen
Gesetze in Grundgesetz und Sozialgesetzgebung bilden eine ausreichende Basis, um
das Recht jeden Bürgers auch eine moderne Medizin begründen und einklagen zu
können. Daß sie von den politisch Verantwortlichen in gröbster
Pflichtvergessenheit mißachtet, nach Belieben uminterpretiert oder angeblichen
"wirtschaftlichen Gegebenheiten" angepaßt werden, ist eine andere
Sache. So hat Gesundheitsministerin Fischer verfügt, "daß die Ausgaben
der gesetzlichen Krankenversicherung nicht schneller steigen dürfen als die
Einnahmen. Über dieses Ziel können wir nicht verhandeln." Wenn aber die
GKV ihre im Gesetzbuch definierte Aufgabe "die Gesundheit der Versicherten
zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern"
mangels ausreichender Finanzmittel nicht im notwendigen Maße erfüllen kann,
dann verstößt die Bundesgesundheitsministerin gegen ein verbindliches Gesetz.
Die Politiker sind für die Folgen ihrer Entscheidungen zur Verantwortung zu
ziehen. Wenn Patienten durch politische Kostensenkungsentscheidungen Schaden an
Leib und Leben entsteht, dann muß dies den dafür verantwortlichen Politikern
ebenso direkt zur Last gelegt werden, als hätten sie den Patienten selbst Leid
zugefügt oder sie getötet.
Wem dies zu "radikal" erscheint, der denke bedenke, wie
"radikal lebensbedrohend" ungezählte Patienten und deren Angehörige
die Verweigerung lebenserleichternder und lebenswichtiger Behandlungen empfinden
müssen. Und wie "radikal scheußlich" sich der Arzt fühlt, der
entscheiden soll, wer ein Intensivbett, eine Operation, eine Behandlung, ein
neues Medikament bekommen soll und wer nicht.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß nach den Nürnberger Statuten
für die Prozesse 1945-49 gegen führende Nazis nicht nur Kriegsverbrechen und
Völkermord als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" einsgestuft
worden, sondern auch die Tötung von Menschen "durch unzulängliche
Bereitstellung krankenhäuslicher und medizinischer Versorgung". Diese
Statuten sind geltendes Recht und sie gelten auch heute noch für jeden
Politiker, der eine Sparpolitik betreibt, die vorhersehbar Leben und Gesundheit
der Mitbürger aufs Spiel setzt.
Wir schlagen daher vor, bei einer geeigneten Institution eine Stelle
einzurichten, in der alle Todesfälle und sonstigen Vorfälle gemeldet wurden,
in denen aufgrund fehlender finanzieller Mittel Leben und Gesundheit der
Patienten gravierend gefährdet wurden. Zusammen mit den Berichten der
Patientenorganisationen dürfte schnell ein eindrucksvolles Dokument entstehen,
das in geeigneter Weise benutzt werden kann, um nötigenfalls die
verantwortlichen Gesundheitspolitiker- und Ökonomen von der Regierungs- auf die
Anklagebank zu befördern. Doch dies setzt voraus, dass die Ärzteschaft und die
übrigen Mitarbeiter im Gesundheitswesen endlich das unselige Boot verlassen und
die Offensive antreten.
Jutta Dinkermann
Aus der Neuen Solidarität Nr. 18/2000 (http://www.solidaritaet.com)
Werner Schell (13.1.2000)
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