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Das Bundessozialgericht (BSG) entschied (mit Urteil vom 3.4.2001 - B 1 KR
40/00 und andere -): ICSI ist eine Kassenleistung!
In Grundsatzurteilen zur künstlichen Befruchtung hat das Bundessozialgericht
(BSG) in Kassel den Entscheidungsspielraum des Bundesausschusses der Ärzte und
Krankenkassen bei künstlicher Befruchtung deutlich begrenzt.
Es hob einen Beschluß von 1997 auf und verpflichtete den Ausschuß, die
Intracytoplasmatische Spermainjektion (ICSI) in den Leistungskatalog mit
aufzunehmen.
Danach müssen die gesetzlichen Krankenkassen Methoden der künstlichen
Befruchtung unabhängig davon bezahlen, ob ein erhöhtes Risiko von
Mißbildungen besteht. Denn die Entscheidung, ob sie ein solches Risiko eingehen
wollen, habe der Gesetzgeber "den Eltern überlassen".
ICSI ist ein Verfahren der künstlichen Befruchtung, bei dem ein einzelnes
Spermium mittels einer Nadel in die Eizelle injiziert und das so befruchtete Ei
in den Körper der Frau zurückverpflanzt wird. Die Methode gilt als die einzige
Chance bei schwerer Zeugungsunfähigkeit des Mannes, wenn die Spermien nicht aus
eigener Kraft in die Eizelle eindringen können.
Bei vier Versuchen liegt die Erfolgsquote zwischen 50 und 60 Prozent. Über
10 000 mittels ICSI gezeugte Kinder sollen in Deutschland bereits leben. Die
Kosten je Versuch liegen zwischen 7000 und 8000 DM, etwa 2400 DM mehr als bei
"normaler" künstlicher Befruchtung (Quelle: Ärzte Zeitung vom 4.4.2001).
Kassel, den 3. April 2001
Presse-Mitteilung Nr. 19/01 (zum Presse-Vorbericht Nr. 19/01)
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 3. April 2001:
1) Die Revision des Klägers erwies sich als unbegründet.
Seine Klage scheitert nicht schon deshalb, weil die streitigen Leistungen
außerhalb des Körpers zu erbringen waren und daher dem Versicherten nicht ohne
weiteres zuzuordnen sind. Allerdings beschränkt § 27a Abs 3 SGB V die
Leistungspflicht der Krankenkasse bei der künstlichen Befruchtung auf
diejenigen Maßnahmen, die "bei" ihrem Versicherten durchgeführt
werden. Andererseits ist der Anspruch nach § 27a SGB V nicht auf körperliche
Maßnahmen "bei" Mann oder Frau beschränkt; vielmehr gehören auch
extrakorporale Maßnahmen dazu. Insgesamt sollen sich die Einzelansprüche der
Ehegatten lückenlos zu einem gemeinschaftlichen Anspruch des Ehepaares
ergänzen, ohne daß es darauf ankommt, bei wem die Ursache für die
Kinderlosigkeit zu suchen ist. Versicherungsfall bei den Maßnahmen nach § 27a
SGB V ist demnach nicht die Krankheit eines der Ehepartner, sondern die
ungewollte Kinderlosigkeit des Ehepaares und die daraus resultierende
Notwendigkeit einer künstlichen Befruchtung zur Herbeiführung der gewünschten
Schwangerschaft. Die daraus entstehende Kostenlast soll durch § 27a Abs 3 SGB V
auf die für das Ehepaar zuständigen Kassen aufgeteilt werden, wenn es sich um
verschiedene gesetzliche Krankenkassen handelt.
Wenn wie im Falle des Klägers neben einer gesetzlichen eine private
Krankenkasse beteiligt ist, kann diese Vorschrift nicht eingreifen. Anders als
in der gesetzlichen Krankenversicherung kann in der privaten Versicherung nicht
das Ehepaar, sondern nur der jeweils unfruchtbare und damit "kranke"
Ehegatte die Maßnahmen der künstlichen Befruchtung als medizinisch notwendige
Heilbehandlung von seiner Versicherung beanspruchen. Ist nur der eine Ehepartner
Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse, muß diese zur Wahrung des
Gleichbehandlungsgebotes auch die bei dem anderen Ehepartner durchgeführten
Maßnahmen bezahlen, wenn dessen Zeugungsfähigkeit nicht beeinträchtigt ist
und er deshalb von seiner privaten Krankenversicherung keine Leistungen erhält.
Deshalb bestehen gegen die erhobene Klage unter dem Gesichtspunkt des möglichen
Anspruchsinhabers keine Bedenken.
Einem Kostenerstattungsanspruch steht hier aber der Erlaubnisvorbehalt des §
135 Abs 1 SGB V entgegen, denn danach darf eine neue Untersuchungs- und
Behandlungsmethode zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der
Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen ihren diagnostischen bzw
therapeutischen Nutzen geprüft und in den Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2
Nr 5 SGB V eine entsprechende Empfehlung abgegeben hat. Die Anwendbarkeit dieser
Bestimmung wird durch § 27a SGB V nicht berührt. Die ICSI ist eine neue
Behandlungsmethode, denn sie ist bisher nicht Gegenstand der vertragsärztlichen
Versorgung und auch nicht mit der Verabschiedung von § 27a SGB V durch das
Gesetz selbst in die Krankenversicherung eingeführt worden. Im Zeitpunkt der
Behandlung im August 1996 war eine Entscheidung des Bundesausschusses zur ICSI
noch nicht ergangen. Da es auch keinen Anhaltspunkt dafür gibt, daß das
Unterlassen einen Systemfehler darstellt, war die streitige Methode seinerzeit
keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung.
SG Köln - S 19 KR 42/98 -
LSG Nordrhein-Westfalen - L 5 KR 99/98 - - B 1 KR 22/00 R -
2) Die Revision der Beklagten hatte Erfolg.
Das LSG hat zu Recht die klagende Ehefrau als Inhaberin des
streitgegenständlichen Anspruchs angesehen. Sind wie hier beide Eheleute bei
derselben gesetzlichen Krankenkasse versichert, ist § 27a Abs 3 SGB V für die
Bestimmung der Leistungszuständigkeit sinngemäß heranzuziehen. Für die hier
in Rede stehenden Leistungen der In-Vitro-Fertilisation mit
intrazytoplasmatischer Spermieninjektion, die außerhalb des Körpers erfolgen,
ist in Ermangelung einer eindeutigen Zuordnungsregel die Krankenkasse der
Ehefrau zuständig, da sie schwanger werden soll.
Ebenso wie im ersten Fall besteht aber deshalb kein Anspruch, weil die ICSI bei
Durchführung der streitigen Behandlung im August 1996 nicht zu Lasten der
Krankenversicherung erbracht werden durfte. Nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts kommt es nicht auf den Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung,
sondern auf denjenigen der Behandlung an. Deshalb ist es für die Entscheidung
des Senats unerheblich, ob der vom Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen
im Oktober 1997 beschlossene und in die Richtlinien über die künstliche
Befruchtung aufgenommene Ausschluß der ICSI aus der vertragsärztlichen
Versorgung gegen höherrangiges Recht verstößt und welche Konsequenzen daraus
gegebenenfalls zu ziehen wären. Die verfassungsrechtlichen Einwände, die das
Berufungsgericht gegen die Rechtsprechung des BSG zu § 135 Abs 1 SGB V erhebt,
hat der Senat nicht für durchgreifend gehalten.
SG Hannover - S 11 KR 166/96 -
LSG Niedersachsen - L 4 KR 130/98 - - B 1 KR 17/00 R -
3) In dieser Sache wurde der Revision der Klägerin stattgegeben und die
Beklagte zur Kostentragung verurteilt.
Im Unterschied zu den beiden anderen Verfahren ging es hier darum, ob die
Krankenkasse die Kosten einer noch bevorstehenden Behandlung mit der ICSI zu
übernehmen hat. Das beurteilt sich - anders als bei der Kostenerstattung - nach
der aktuellen Rechtslage, so daß der im Oktober 1997 gefaßte Beschluß des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in die rechtliche Bewertung
einzubeziehen ist.
Der vom Bundesausschuß verfügte Ausschluß der intrazytoplasmatischen
Spermieninjektion aus der vertragsärztlichen Versorgung ist mit höherrangigem
Recht unvereinbar und daher unwirksam. Im Hinblick auf den Zweck des § 27a SGB
V und die dahinterstehenden gesetzgeberischen Wertungen durfte der Methode die
Anerkennung nicht versagt werden. Das Fehlen der in § 135 Abs 1 SGB V
geforderten Empfehlung ist deshalb seit der Entscheidung des Bundesausschusses
als Systemmangel zu werten. Im konkreten Fall hat das zur Folge, daß der
Erlaubnisvorbehalt dem Begehren der Klägerin nicht mehr entgegengehalten werden
kann.
Gemessen an den für die (eigentliche) Krankenbehandlung geltenden Maßstäben
wäre die Entscheidung des Bundesausschusses freilich nicht zu beanstanden, denn
über die Unbedenklichkeit der umstrittenen Befruchtungstechnik liegen - vor
allem in Bezug auf das Fehlbildungsrisiko bei den damit erzeugten Kindern -
keine aussagekräftigen Daten vor. Ähnliche Bedenken werden aber auch gegen die
dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 27a SGB V im Jahr 1990 bekannte
In-Vitro-Fertilisation erhoben. Soweit es sich um die Risiken für nach
künstlicher Befruchtung geborene Kinder handelt, fehlt es mangels eindeutiger
Daten über normal gezeugte Kinder auch für diese Befruchtungstechnik an einem
verläßlichen Vergleichsmaßstab. In der Gesetzesbegründung zu § 27a SGB V
wird darauf hingewiesen, daß bestenfalls 20 bis 25 von hundert
Befruchtungsversuchen erfolgreich verliefen und es bei einem Drittel der
künstlich erzeugten Schwangerschaften zu Fehlgeburten komme. Der
Leistungsanspruch wird gleichwohl allein davon abhängig gemacht, daß die
Versicherten hierüber und über die mit der hormonellen Stimulation verbundenen
Risiken beraten wurden. Ob die dabei erörterten Risiken in Kauf genommen werden
sollen, wird somit der Entscheidung der Eheleute überlassen; die Krankenkasse
darf die Leistung unter diesem Gesichtspunkt nicht ablehnen.
All dies macht deutlich, daß die Qualitätskontrolle bei Maßnahmen, die auf
die Herbeiführung einer Schwangerschaft mittels künstlicher Befruchtung
abzielen, nach dem Willen des Gesetzgebers eingeschränkt sind und die Kriterien
des § 135 Abs 1 SGB V durch die Sondervorschrift des § 27a SGB V modifiziert
werden. Ob diese Abweichung von üblichen krankenversicherungsrechtlichen
Maßstäben auf der Erwägung beruht, daß der natürliche Weg der Befruchtung
auch nicht wesentlich häufiger zum Erfolg führt und ebenfalls mit einem
Fehlbildungsrisiko belastet ist und ob es deshalb geboten ist, das in der
gesetzlichen Krankenversicherung geltende Wirtschaftlichkeitsgebot
zurückzustellen, um Ehepaaren mit Fertilitätsstörungen eine vergleichbare
Chance auf eigenen Nachwuchs zu ermöglichen, hatte der Senat weder zu
untersuchen, noch rechtspolitisch zu bewerten. Solange sich nicht belegen läßt,
daß die Spermieninjektion als solche eine ganz erheblich höhere Gefährdung
für den gewünschten Nachwuchs mit sich bringt, als sie bei anderen Techniken
der künstlichen Befruchtung vom Gesetz in Kauf genommen wird, läßt sich eine
unterschiedliche rechtliche Behandlung der beiden Befruchtungsmethoden nicht
begründen.
Der Klägerin und ihrem Ehemann ist es nach den Umständen des Falles nicht
zuzumuten, mit einem Befruchtungsversuch abzuwarten, bis der Bundesausschuß die
ICSI in den Katalog der zulässigen Maßnahmen aufgenommen und die näheren
medizinischen Leistungsvoraussetzungen festgelegt hat. Deshalb war die Beklagte
unter dem Gesichtspunkt der unaufschiebbaren Leistung zur Kostenübernahme zu
verurteilen.
SG Stade - S 1 KR 53/00 - - B 1 KR 40/00 R -
Werner Schell (13.04.2001)
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