Reformkommission Soziale Marktwirtschaft: Effiziente Krankenversicherung
als Voraussetzung für ein hohes Leistungsniveau im Gesundheitswesen
Die von der Reformkommission "Soziale Marktwirtschaft" am
16.11.1999 herausgegebenen umfangreichen Vorschläge zur Neuordnung des Gesundheitswesens
sorgten Ende 1999 für beträchtliche Aufregung. Die Vorschläge gehen weit über das
hinaus, was gegenwärtig als Gesundheitsreform in Deutschland diskutiert wird. Der
Reformkommission gehören aktive prominente Politiker wie CDU-Fraktionsvorsitzende
Friedrich Merz, der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf (SPD) und der
Haushaltsexperte von Bündnis 90/Die Grünen, Oswald Metzger, an. Das Papier kann
vollständig im Internet gelesen bzw. abgerufen werden.
http://www.stiftung.bertelsmann.de
Die einführenden Beschreibungen zu den einzelnen Vorschlägen
vermitteln einen ersten Eindruck zu den reformerischen Ansätzen der Kommission
Das Gesundheitswesen in Deutschland hat im historischen und im
internationalen Vergleich einen hohen Leistungsstand erreicht. Die medizinische Versorgung
kann für alle Bevölkerungsgruppen als gesichert angesehen werden. Abgesehen von
punktuellen Engpässen in den Pflegediensten gibt es keinen Mangel an Personal und
Einrichtungen im Gesundheitswesen. Grundsätzlich konnte bisher jedem Versicherten eine
hochwertige medizinische Versorgung auch nach neuestem medizinisch-technischen Stand
zugesichert werden.
Dieser Standard - mehr aber noch die Nutzung neuer kostenintensiver
Behandlungsmöglichkeiten - wird durch die Entwicklung der Gesundheitsausgaben und deren
Auswirkungen auf die Beitragssätze bedroht. Hohe Ausgaben sind zwar nicht zu beklagen,
wenn die Menschen eine große Vorliebe für umfassende Gesundheitsleistungen haben und
wenn sie die Kosten unmittelbar tragen, es also keine Fehlsteuerung gibt. Tatsächlich
entzieht sich das Gesundheitswesen aber weitgehend dem üblichen Steuerungsprozess durch
Angebot und Nachfrage. Das hat nicht nur damit zu tun, dass soziale Elemente in das System
eingebaut wurden, sondern auch damit, dass die Entscheidungen über Angebot und Nachfrage
praktisch in einer Hand liegen. Bewusst wird aus sozialpolitischen Motiven auf marktliche
Steuerungselemente verzichtet. Die Kosten in der Form von Beiträgen werden nicht nach
versicherungsmathematischen Grundsätzen, aber auch nicht nach klaren sozialen Merkmalen
angelastet. Der Zugang zu Gesundheitsleistungen ergibt sich aus einem schwer
durchschaubaren Zusammenwirken von bilateralen Verhandlungen und politischen Vorgaben. die
Knappheit der verfügbaren Mittel gebietet jedoch gerade im gesundheitswesen, Anreize zu
ungewollten Ausgabensteigerungen zu vermeiden. Auch für das Gesundheitswesen gilt, dass
die Abwägung über die Ressourcenverwendung mögliche Konflikte mit anderen
nutzenstiftenden alternativen berücksichtigen muss. Wenn den versicherten auch in Zukunft
der Zugang zu hochwertigen medizinischen Leistungen gesichert werden soll, muss die
Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung darauf geprüft werden, ob durch
falsche Anreize knappe Mittel verschwendet werden, die alternativ im Gesundheitswesen oder
in anderen Verwendungen eingesetzt werden können.
Unvereinbar mit dem Ziel, die Krankenversicherung dauerhaft finanzierbar
zu gestalten, erscheint der Anspruch auf eine medizinische Versorgung nach dem jeweils
neuesten technischen Stand ohne Abwägung der dadurch entstehenden Kosten. Für die
medizinische Versorgung gilt wie für andere Güter, dass zusätzliche Leistungen nur noch
einen abnehmenden Grenznutzen stiften.
Zudem schreitet der medizinisch-technische Fortschritt mit einem solchen
Tempo voran, dass es - abgesehen von kostensparenden Erfindungen -
ausgeschlossen ist, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die nur noch marginal den
Gesundheitszustand verbessern, die an die Grenze der normalen Erholung heranreichen oder
die potenziell das Leben verlängern. Der Anspruch auf eine jeweils bestmögliche und
solidarisch finanzierte medizinische Versorgung ist angesichts der nahezu unbegrenzten
Behandlungsmöglichkeiten nicht durchzuhalten. Die Gesellschaft kommt nicht an der Frage
vorbei, wer letztlich über eine Begrenzung des Aufwands entscheiden soll. Kostendämpfung
und Ausgabendeckelung sind Ausdruck dieser Entscheidungsnot, aber keine Strategie, die
grundlegenden Probleme befriedigend zu lösen. Dieses Problem wird in Abschnitt V.1.a)
"Abgrenzung einer Basisversorgung" ausführlich behandelt.
Außerdem besteht ein enger Zusammenhang zwischen Finanzierung des
Gesundheitswesens und Beschäftigung. Die gegenwärtige lohnbezogene Finanzierung der
gesetzlichen Krankenversicherung hat zur Folge, dass mit jeder Beitragssatzerhöhung die
Lohnzusatzkosten steigen und dass es schwieriger wird, den Beschäftigungsstand zu halten
oder auszuweiten. Umgekehrt schrumpft die Basis für Krankenversicherungsbeiträge, wenn
die Arbeitslosigkeit zunimmt und die Arbeitszeiten verringert werden, so dass ein Druck
entsteht, die Beitragssätze zu erhöhen. Gegenwärtig liegt die Summe der Beitragssätze
in den vier Sozialsystemen bei 42 Prozent der beitragspflichtigen Einkommen. Ohne
wesentliche Reformen wird die Gesamtbelastung auf 55 bis 60 Prozent bis zum Jahr 2030
ansteigen. Diese bereits angelegte Entwicklung steht im Gegensatz zu den Bestrebungen, die
Lohnzusatzkosten zu senken. Noch wird die Illusion gepflegt, man könne einer
Kostensenkung ausweichen, indem die Leistungen stärker über Steuern finanziert werden
(Mehrwertsteuererhöhung, Ökosteuer).
Schließlich liegt eine weitere Ursache für die Finanzierungsprobleme der
gesetzlichen Krankenversicherung in der Organisation sozialpolitischer Aufgaben. In der
Krankenversicherung soll ein Solidarausgleich zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und
Alten, Reichen und Armen sowie kinderlosen und kinderreichen Familien bewältigt werden.
Die Beiträge richten sich nicht nach dem Krankheitsrisiko, sondern - innerhalb der
Bemessungsgrenzen - nach der Höhe des Lohns. Ehegatten und Kinder ohne eigene
Einkommen sind beitragsfrei mitversichert. Da die verschiedenen sozialen Bedingungen mit
nur einem Kriterium, nämlich anhand des Lohnes, erfasst werden, sind die
Umverteilungswirkungen nicht hinreichend an der wirtschaftlichen und sozialen Situation
des Einzelnen ausgerichtet.
Um die sozialen Ziele nicht durch ungerechtfertigte Mitnahmeeffekte zu
gefährden, wird zu klären sein, ob die gesetzliche Krankenversicherung überhaupt mit
sozialen Aufgaben belastet oder zu einem reinen Versicherungssystem mit ergänzendem,
separat organisiertem Solidarausgleich umgestaltet werden sollte. Jedenfalls gehen von der
bestehenden Regelung, die wie eine Steuer auf abhängige Beschäftigung wirkt, erhebliche
Anreize aus, sich der steuerähnlichen Beitragsbelastung zumindest teilweise zu entziehen,
ohne auf Leistungen aus der Versicherung zu verzichten. Auch über diesen Weg entstehen
negative Rückwirkungen zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und dem
Arbeitsmarkt.
Ziel einer grundlegenden Reform muss die Aufrechterhaltung des
Leistungsniveaus sein, ohne die Wirtschaftskraft des Standortes Deutschland zu
beeinträchtigen. Der Risikoausgleich zwischen Gesunden und Kranken soll
selbstverständlich bestehen bleiben. Das Zusammenwirken einzelner Besonderheiten sowohl
auf der Anbieter- als auch der Versichertenseite sowie die sozialpolitischen Zielsetzungen
erfordern ein ganzes Bündel einzelner Reformschritte, um der komplexen Probleme Herr zu
werden. Deshalb sind die Therapievorschläge darauf zu prüfen, ob sie sowohl der Genesung
des Patienten "Gesundheitswesen" dienen als auch in ihrem Zusammenspiel
untereinander den grundlegenden Wertvorstellungen der Gesellschaft folgen.
Die Überlegungen der reformkommission knüpfen an den bestehenden
Regelungen an. Die Reformoptionen werden abgestuft nach Veränderungen im System und
systemverändernden Maßnahmen dargestellt. Zunächst werden Ansätze zur Verbreiterung
der Finanzierungsbasis diskutiert. Anschließend werden verschiedene Maßnahmen zur
Ausgabenbeschränkung und zur Reform der Beitragsfinanzierung analysiert. Das Papier
schließt mit einer Zusammenfassung der Vorschläge der Reformkommission Soziale
Marktwirtschaft.
Die Vorschläge der Reformkommission in ihrer Zusammenfassung
Das Gesundheitssystem in Deutschland hat zwar einen hohen Leistungsstand
erreicht, steht aber vor gravierenden Problemen, diesen Standard auch in der Zukunft zu
sichern. Sowohl die Besonderheiten des Leistungsgeschehens (Anbieter bestimmen
gleichzeitig die Nachfrage) als auch besondere Bedingungen der Krankenversicherung
(Versicherungsdilemma, demografische Entwicklung) führen zu gravierenden
Finanzierungsengpässen in der Zukunft, weil Angebot und Nachfrage über das
wirtschaftlich vertretbare Maß hinaus steigen. Neben den Fehlanreizen bei der
Leistungserstellung wirkt insbesondere die Beitragsfinanzierung negativ auf den
Arbeitsmarkt. Sinkende Beschäftigung führt aber zu steigender Beitragslast und stärkt
wiederum den Anreiz zur Beitragsvermeidung sowie zu Beschäftigungsabbau, weil die
Arbeitskosten steigen.
Dennoch müssen Wege gefunden werden, die ursprünglichen Zielsetzungen zu
erfüllen: Die gesetzliche Krankenversicherung soll auch in Zukunft ein ausreichendes
Leistungsniveau gewährleisten, die Solidarität der Gesunden mit den Kranken wahren und
dem Leistungsfähigkeitsprinzip Rechnung tragen.
Aufgrund der Vielschichtigkeit der Probleme im Gesundheitswesen kommt die
Reformkommission zu der Überzeugung, dass nur eine Kombination von verschiedenen
Maßnahmen sowohl auf der Seite des Leistungsgeschehens als auch auf der
Finanzierungsseite es ermöglicht, die gesundheitspolitischen und sozialen Ziele zu
erreichen, ohne die Beschäftigung und damit die wirtschaftliche Basis zu gefährden. Nur
das Zusammenwirken von kostenbewusster Nachfrage, effizientem Angebot medizinischer
Leistungen, gesetzlich garantiertem Versicherungsschutz sowie beschäftigungsunabhängiger
Finanzierung ermöglichen eine leistungsfähige und solidarische Krankenversicherung. Es
ist bislang keiner politischen Partei gelungen, ein diesen Überlegungen entsprechendes
Programm vorzulegen.
Deshalb fordert die Reformkommission:
- Die Leistungen im Rahmen des obligatorischen gesetzlichen
Krankenversicherungsschutzes sind auf eine notwendige Basisversorgung zu beschränken, und
der Wunsch nach einer weitergehenden Absicherung ist über Wahlleistungen oder
individuelle Zusatzversicherungen zu organisieren. Der Gesetzgeber hat die Aufgabe,
eine Kommission zu berufen, in der sich verantwortliche Persönlichkeiten der
herausforderung zur Festlegung des Basiskatalogs stellen. Da die Bestimmung einer solche
Basisversorgung auf einem breiten Konsens beruhen muss und zahlreiche Experten zu
beteiligen sind, sollte bis zu einer Entscheidung der bereits definierte gesetzliche
Leistungsumfang als Basisversorgung festgeschrieben werden, um weitere
Leistungsausdehnungen in der Zukunft zu verhindern.
- Um Anreize zur Effizienzsteigerung zu schaffen, sollte vom
Sachleistungsprinzip auf das Kostenerstattungsprinzip umgestellt werden, ohne dass der
Patient zwingend in Vorleistung treten muss. In Kombination mit Selbstbehalten wird das
Interesse der Patienten an kostenbewusster Nachfrage gestärkt. Überall dort, wo
die Kosten von Krankheiten überschaubar sind und der Patient Einfluss auf die Kosten hat,
kann ein Selbstbehalt dazu beitragen, dass die Versichertengemeinschaft nicht unnötig in
Anspruch genommen wird. Allerdings muss an der Schwelle zur Sozialhilfe sichergestellt
werden, dass Beitragsvorteile durch Selbstbehalte nicht zu einer Unterversicherung und der
Inanspruchnahme von Sozialhilfe führen
- Der Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungen sollte durch die
Umstellung der staatlichen Pflichtversicherung auf eine Versicherungspflicht für alle
Bürger intensiviert werden. Alle Krankenversicherer agieren auf einem wettbewerblich
organisierten Markt. Die Versicherungsanbieter werden verpflichtet, den gesetzlichen
Basisleistungskatalog zu garantieren, sie sind aber in der Gestaltung von Zusatzangeboten
frei. Der Gesetzgeber hat die Einhaltung der Mindestleistungsverpflichtung durch die
Versicherungsaufsicht zu gewährleisten.
- Bei einer allgemeinen Versicherungspflicht kann der Wettbewerb unter den
Anbietern ärztlicher Leistungen durch den Abbau von Zulassungsbeschränkungen, die Abkehr
von zentralen Honorarvereinbarungen sowie die Einführung eines Optionsrechtes auf freie
Arztwahl intensiviert werden.Beitragsvorteile, die durch eine freiwillige
Beschränkung der freien Arztwahl und der selektiven Honorarvereinbarung zwischen
einzelnen Anbietern und Krankenkassen realisiert werden können, geben Anreize zu
kostenbewusster Nachfrage. Die verstärkte Konkurrenz zwischen den Anbietern zwingt zur
Mobilisierung von Effizienzreserven.
- Um stark steigenden Prämien im Alter vorzubeugen, müssen die privaten
Versicherungen verstärkt verpflichtet werden, ausreichende Altersrückstellungen zu
bilden. Um den Wettbewerb zwischen privaten Krankenversicherern zu intensivieren, müssen
die Rückstellungen bei einem Wechsel zwischen Versicherungsunternehmen übertragbar sein.
- Für die Versicherung des Basisleistungsumfangs wird eine ergänzende
individuelle Kapitalrückstellung empfohlen, weil aufgrund der demografischen Entwicklung
bereits heute absehbar die finanziellen Mittel zur Aufrechterhaltung des medizinischen
Leistungsniveaus nicht ausreichen werden. Verzichtet man auf eine Verpflichtung zur
individuellen kapitalbildung - wie von einem Kommissionsmitglied gefordert -
müssen entweder die Beiträge entsprechend erhöht oder Einbußen bei der individuellen
Basisversorgung hingenommen werden, es sei denn, die Versicherten sorgen freiwillig für
Zeiten mit höherer Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen vor.
- Die Beiträge zur Krankenversicherung werden von den Löhnen und
Gehältern gelöst. Bemessungsgrundlage für die Beitragserhebung ist das steuerpflichtige
Gesamteinkommen, um so die Leistungsfähigkeit bzw. Bedürftigkeit einzelner Personen
realistischer abzubilden. Ein Mindestbeitrag wird aus verwaltungstechnischen Gründen
eingeführt. Gesonderte Erhebungsverfahren für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
oder gesonderte Beiträge für Familienmitglieder entfallen.
- Ein weitergehender Vorschlag einiger Kommissionsmitglieder zielt auf
feste personenbezogene Beiträge für die Versicherung des Basiskatalogs. Der
Solidarausgleich soll ausschließlich über das Steuer-Transfer-System gewährleistet
werden.
- Die Arbeitgeberbeiträge sollen in vollem Umfang an die Arbeitnehmer
ausgeschüttet werden. der Grundfreibetrag ist entsprechend anzuheben. Damit werden die
Beitragsänderungen und die Lohnverhandlungen entkoppelt. Die kosten der Versicherung
werden transparent. Ein Kommissionsmitglied spricht sich für die Beibehaltung von
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag aus. Der Arbeitgeberbeitrag soll auf einen bestimmten
Prozentsatz des Lohnes festgesetzt werden, z. B. auf sechs Prozent. Der ergänzende
Beitrag des Arbeitnehmers würde individuell bestimmt, weil der Gesamtbeitrag vom
steuerpflichtigen Gesamteinkommen abhängt. Die "paritätische Finanzierung"
bzw. Mitfinanzierung wird mit der sozialen Verantwortung der Arbeitgeber begründet, die
in allen Zweigen der Sozialversicherung eingefordert
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