Prof. Dr. rer. nat. Gerd Glaeske, Forschungseinheit
"Gesundheitspolitik und Evaluation medizinischer Versorgung" - Schwerpunkt
»Arzneimittelversorgungsforschung« - Zentrum für Sozialpolitik (ZeS), Universität
Bremen, Parkallee 39, 28209 Bremen
Informationen für die Pressekonferenz am 12. April 2000 in Berlin -
vorläufiges Manuskript
Arzneimittel für Kinder: zu viele von zweifelhaftem Nutzen, auffälliger
Anstieg von Psychostimulanzien !
Auf den ersten Blick ist bereits die Menge überraschend: Unter den Versicherten der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bekommen Kinder bis zum 5. Lebensjahr im
Durchschnitt eine Tablettenmenge verordnet, die genauso hoch ist wie die Verordnungsmenge
für die 45-49jährigen Versicherten. Bei genauerem Hinsehen fallen allerdings die
Unterschiede auf: Kinder bekommen vor allem Vitamin D-Tabletten und Flouride für ihren
Knochenbau und Zahnwuchs, Schnupfen-, Husten-, Fieber- und Erkältungsmittel sowie
Hautpflege- und Wundpräparate, bei den Erwachsenen führen dagegen Mittel gegen den zu
hohen Blutdruck, Schilddrüsen-, Rheuma- und Asthmamittel sowie Beruhigungsmittel im
weitesten Sinne.
Verbrauchszahlen von Arzneimitteln bei Kindern haben immer wieder für Schlagzeilen
gesorgt, die allerdings zum Teil undifferenziert wiedergegeben wurden. Von Pharma-Kids war
da die Rede, von Ruhigstellung hunderttausender Kinder mit Psycho-Pillen. Nach wie vor
sind jedoch zu wenige Analysen auf der Basis valider Daten durchgeführt wurden, die ein
wenig Licht in das Dunkel der Arzneimittelversorgung für Kinder bringen könnten. Die
Gmünder Ersatzkasse (GEK) hat daher in Kooperation mit Prof. Gerd Glaeske vom Zentrum
für Sozialpolitik der Universität Bremen eine Untersuchung begonnen, in der alle
Arzneimittelverordnungen des Jahres 1999, zum Teil auch mit Vergleichen gegenüber
früheren Jahren, analysiert und im Hinblick auf die Verordnungen bei Kindern genauer
betrachtet wurden.
Die Ergebnisse werden im Folgenden dargestellt. Zunächst einige allgemeine Daten im
Überblick:
Insgesamt hat die Gmünder Ersatzkasse (GEK) im Berichtszeitraum 1.412.204 Versicherte
betreut, für diese Gesamtzahl an Versicherten wurden knapp über 9,2 Mio.
Arzneimittelverordnungen ausgestellt. 58,2% der Versicherten sind Männer, 41,8% Frauen.
Für die hier dargestellte Untersuchung wurden alle Arzneiverordnungen für die
6-14jährigen Kinder analysiert, auf diese Altersgruppe entfielen 184.298 Versicherte,
für die 903.126 Verordnungen ausgestellt wurden. Der Anteil der Kinder die überhaupt
keine Arzneimittel erhielten, ist übrigens ähnlich hoch wie bei Erwachsenen: 21,9%
bekamen während des Jahres 1999 kein Arzneimittel verordnet, 78,1% bekamen zumindest eine
Verordnung. Bei den Kosten für die Arzneimitteltherapie fallen Unterschiede zwischen den
Erwachsenen und Kindern auf - während die durchschnittlichen Verordnungskosten bei
den erwachsenen Versicherten der GEK bei 41,26 DM liegen, kosten Verordnungen für die bei
der GEK versicherten Kinder im Schnitt 21,92 DM.
Wie verteilen sich nun die knapp über 900.000 Verordnungen auf die
einzelnen Indikationsgebiete:
- Führend mit 16,4% sind Hustenmittel, sowohl Hustenblocker als auch
hustenlösende Präparate,
- es folgen Schnupfenmittel mit 9,6%,
- Antibiotika mit 9,5%,
- chmerzmittel und Mittel gegen rheumatische (!) Beschwerden mit 8,4%,
- Mittel zur Behandlung von Hauterkrankungen mit 7,2%,
- Asthmamittel mit 4,9%,
- Mittel gegen allergische Erkrankungen mit 3,5%,
- Arzneimittel bei Mund- und Rachenerkrankungen mit 3,4%,
- Magen-Darm-Mittel mit 3,2%
- und schließlich Präparate zur Kariesprophylaxe bzw. Präparate bei
Paradontose mit 2,2%.
Auf diese 10 Indikationsgruppen entfallen damit bereits knapp 70% aller
Verordnungen.
Noch einige Angaben zur Mengenverteilung:
Jeweils etwa 13% der Kinder bekommen 1-3 Arzneimittel.
- ein Arzneimittel 13,7%,
- zwei Arzneimittel 13,1%,
- drei Arzneimittel 12,4%,
- vier Arzneimittel während des Jahreszeitraums bekamen 10,3%,
- fünf Arzneimittel 8,8%,
- sechs Arzneimittel 7,3%,
- sieben Arzneimittel 6%,
- acht Arzneimittel 5%, neun Arzneimittel 4,1%
- und zehn Arzneimittel 3,4%.
- Immerhin 1% aller Kinder bekamen 16 Arzneimittel,
- einzelne Kinder bekamen auch über 100 Arzneimittel - sicherlich
ein Anzeichen dafür, dass hier schwere chronische Krankheiten zu behandeln sind, dies
drücken jedenfalls die Arzneimittelspektren aus.
Wer verordnet die Mittel ?
- Am häufigsten werden Kinder von allgemeinärztlich tätigen Hausärzten
mit Arzneimitteln behandelt, 39,3% aller Arzneimittel wurden zumindest in diesen Praxen
ausgestellt.
- mit 33,5% folgen die Kinderärzte,
- die nächstgrößere Gruppe sind die Hautärzte mit 4,5%,
- die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte mit 3,9%
- und die internistisch tätigen Ärzte mit 3,6%.
Im Rahmen erweiterter Analysen einzelner Indikationsgruppen wurden drei
Indikationsbereiche genauer untersucht, da sie immer wieder im Mittelpunkt der
Diskussionen bei der Arzneimittelversorgung für Kinder stehen. Dabei geht es um die Schmerzmittel
inklusive der Mittel bei rheumatischen Beschwerden, es geht um Schlaf- und
Beruhigungsmittel sowie um Psychopharmaka.
1. Schmerzmittelverordnungen
Insgesamt wurden knapp 80.000 Schmerzmittel und Mittel zur Behandlung rheumatischer
Beschwerden verordnet. Dabei entfiel der größte Anteil der Verordnungen mit rund 75% auf
Präparate, die ausschließlich Paracetamol enthalten. Dieser Wirkstoff ist sicherlich der
am besten untersuchte Wirkstoff zur Behandlung von Schmerz- und Fieberzuständen bei
Kindern, hier sind auch Dosierungsangaben für Kinder gut dokumentiert und für die
Verordnung empfohlen. Andererseits werden aber auch rund 1.300 Verordnungen mit
Diclofenac-haltigen Präparaten zum Einnehmen ausgestellt (z.B. Voltaren), einem typischen
Mittel zur Behandlung rheumatischer Beschwerden, für das bei der Anwendung bei Kindern
keine gesicherten Dosierungsempfehlungen vorliegen. Dies deutet auf ein großes Problem
bei der Arzneimittelversorgung bei Kindern hin: In klinischen Studien werden vor allem
Arzneimittel an gesunden erwachsenen Männern geprüft, hier kommt es auch zu
Dosis-Findungs-Studien, Dosierungsempfehlungen der selben Arzneimittel für Kinder sind
meist theoretisch abgeleitet, sie sind nie kontrolliert in klinischen Prüfungen
untersucht wurden, weil sich die Teilnahme von Kindern an klinischen Prüfungen verbietet.
Die Frage ist daher, warum Ärztinnen und Ärzte solche Arzneimittel bei Kindern einsetzen
und ob die Indikation für die Anwendung solcher Arzneimittel gerechtfertigt ist ? Den
Herstellern muß an dieser Stelle empfohlen werden, sehr viel mehr Forschungsaufwand nach
der Zulassung von Arzneimitteln zu betreiben, damit im Rahmen von kontrollierten
Anwendungsstudien Erkenntnisse darüber zusammengetragen werden können, wie bestimmte
Arzneimittel, die auch bei Kindern einen Nutzen haben können, verwendet werden sollen.
Hinweise auf die Dosierung bei Kindern sind oft mangelhaft, Ärztinnen und Ärzte sind
vielfach auf sich gestellt, um die adäquaten Dosierungen für Kinder zu finden. Darum ist
es für die Arzneimittelsicherheit besonders wichtig, verläßliche Dosierungsempfehlungen
für solche Arzneimittel zu haben, die zwar typischerweise bei Erwachsenen eingesetzt
werden, aber auch bei Kindern Verwendung finden.
Bei Kindern werden im Übrigen auch noch häufig, nämlich in knapp 5% der Verordnungen,
Kombinationsschmerzmittel eingesetzt, die zwei Schmerzwirkstoffe und Kodein oder auch
Coffein enthalten. Es ist längst pharmakologisch gesichertes Wissen, dass solche
Mischpräparate nicht sinnvoll kombiniert sind und möglicherweise ein höheres Risiko
für unerwünschte Wirkungen bieten. Solche Mittel sind zum Beispiel Gelonida NA Saft,
der Paracetamol, Natriumsalizylat und Kodein enthält, oder - was leider auch in
einzelnen Fällen verordnet wird - Thomapyrin, das neben Acetylsalizylsäure und
Paracetamol zusätzlich Koffein enthält. Solche Kombinationsmittel sind unnötig, sie
sollten nicht mehr verordnet werden, es sind viele Monopräparate, als Mittel mit nur
einem Wirkstoff auf dem Markt. Mit knapp 4% werden übrigens Arzneimittel für Kinder
verordnet, die Metamizol enthalten, typisches Arzneimittel ist das Novalgin. Auch
bei diesem Mittel wird seit langem diskutiert, ob die möglichen unerwünschten Wirkungen
(Verringerung der weißen Blutkörperchen, allergische Reaktionen bis hin zum Schock)
wegen ihres überraschenden und nicht vorhersehbaren Auftretens nicht so gravierend sein
können, dass auf Arzneimittel mit diesem Inhaltsstoff lieber verzichtet werden sollte.
Bei Kindern ist insbesondere deutliche Vorsicht angebracht.
Mit knapp 2% ist die Verordnung von acetylsalizylhaltigen Arzneimittel (z.B. Aspirin) bei
Kindern relativ gering, was sicherlich auf die Warnhinweise zurückzuführen ist, dass bei
Kindern, die unter virusbedingten Infektionen leiden, Präparate mit dem Wirkstoff
Acetylsalizylsäure ein sogenanntes Reye-Syndrom auslösen können, ein Syndrom mit
Hirnhautentzündung und Leberschädigung. Dieses ist sicherlich einer der Gründe warum
solche Arzneimitteln bei Kinder relativ selten angewendet werden. Solche früher noch
wenig bekannten Informationen haben offensichtlich Wirkung gezeigt.
Auffällig bei den Verordnungen sind aber auch die Anwendungen von äußerlich
aufzutragenden Mittel, die vor allem bei rheumatischen Schmerzen oder bei Verspannungen
eingesetzt werden. Mittel wie Mobilat, Voltaren Emulgel oder andere Gele und Salben sind
typische Pärparate, die bei Verstauchungen und Sportverletzungen zwar immer wieder
Verwendung finden, nichts desto trotz aber pharmakologisch zu den umstrittenen Mitteln
gehören. Die Frage nach dem Nutzen solcher Arzneimittel bei der Anwendung im
Erwachsenenbereich wird schon seit langem gestellt, warum sollten diese Mittel bei Kindern
einen besseren Nutzen aufweisen ?
Dies wirft im übrigen ein besonderes Problem auf: Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch
bei Kindern werden in erheblichen Umfang Arzneimittel eingesetzt, deren therapeutische
Wirksamkeit und deren therapeutischer Nutzen als nicht gesichert gilt, die sich aber
dennoch offensichtlich immer noch erheblicher Beliebtheit erfreuen. Allein im
Schmerzmittelbereich entfallen knapp 20% der Verordnungen auf Arzneimittel, die entweder
ganz wegfallen sollten oder die durch sinnvolle Alternativen ersetzt werden müssen. Hier
sollten Ärztinnen und Ärzte ganz besondere Sorgfalt walten lassen, damit nicht schon
Kinder mit "falschen"; Arzneimitteln aufwachsen und an die Anwendung solcher
überflüssig kombinierter oder in ihrer Wirksamkeit nicht ausreichend bestätigter
Arzneimittel gewöhnt werden. Ärztinnen und Ärzte haben gerade bei Kindern eine hohe
Verpflichtung auf die richtige Arzneimittelversorgung zu achten - knapp 20% an
Arzneimitteln mit pharmakologisch zweifelhaftem Nutzen sind ein Signal, dass die
Arzneimittelversorgung für Kinder dringend verbessert werden muß. Außerdem ist die
Verwendung solcher Mittel unwirtschaftlich. Es ist daher schwer verständlich, wenn wegen
des Budgets bestimmte Leistungen gekürzt werden, andererseits allerdings Arzneimittel mit
zweifelhaften Nutzen zur Anwendung kommen. Hier liegen Sparpotentiale, die genutzt werden
sollen, bevor es zu Einschränkungen in der Behandlung kommt.
2. Schlaf- und Beruhigungsmittel
Die zweite Indikation, die genauer analysiert wurde, war der Bereich der Schlaf- und
Beruhigungsmittel. Hier haben sich gegenüber früheren Untersuchungen aus dem Beginn der
80er Jahre, in denen sich auch chemisch synthetisierte Schlafmittel unter den häufigen
bei Kinderverordnungen fanden, deutliche Verbesserungen ergeben. Der Anteil der
Verordnungen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln ist sehr gering und liegt bei 0,1% in
Bezug auf alle Verordnungen für Kinder. Die Arzneimittel stammen vor allem aus dem
pflanzlichen Bereich, Präparate aus der Benzodiazepin-Reihe, das bekannteste Mittel
dieser Reihe ist das Valium, werden ausgesprochen selten verordnet und wenn, dann in
Zubereitungsformen, die zum Beispiel bei Fieberkrämpfen angewendet werden. Hier haben
diese Mittel auch ihre therapeutische Berechtigung. Ansonsten ist die Anzahl der Schlaf-
und Beruhigungsmittel sehr gering, verordnet werden vor allem pflanzliche Arzneimittel mit
Baldrian und Hopfen, die allgemein als sicher in der Anwendung als Beruhigungsmittel
gelten. Dennoch muß natürlich trotz dieser geringen Menge von Schlaf- und
Beruhigungsmitteln nach den Ursachen für Schlafstörungen bei Kindern gefragt werden. Die
einfache Beantwortung durch ein solches Arzneimittel ist sicherlich auf Dauer kein
richtiger Weg, da die Gründe für Schlaflosigkeit und Unruhe bei Kindern nur verdeckt
werden. Diagnostik bedeutet aber "Aufdecken", ein "Zudecken" mit
Arzneimitteln ist sicherlich auf Dauer nie der richtige Weg, zumal bereits Kinder an eine
solche Bewältigungsform gewöhnt würden, die sie dann im späteren Leben immer wie auf
chemische Bewältigungshilfen zurückgreifen läßt.
3. Psychopharmaka
Auch bei den immer wieder diskutierten Psychopharmaka-Verordnungen könnte man aufgrund
der Menge von knapp 1,3% aller Kinder-Verordnungen kaum Auffälligkeiten vermuten. Daß
nach wie vor niedrig potente Neuroleptika wie Atosil bei allgerischen Erscheinungen
verordnet werden, ist vielfach bekannt. Es werden auch Arzneimittel verordnet, die bei
Fieberkrämpfen eine durchaus begründbare Indikation haben. Es werden allerdings auch
noch immer, wenn auch in geringem Umfang, Transquilizer verordnet, die bei Kindern
bekanntermaßen häufig paradoxe Effekte auslösen, also anregend wirken, und deren
Anwendung bei Kindern besonders kritisch gesehen werden sollte, In den
Verordnungsstatistiken wurden aber keine Dauerverordnungen gefunden, die bei diesen
Mitteln bekanntermaßen relativ rasch zur Abhängigkeit führen können.
Auffällig sind jedoch zwei Befunde: zum einen werden immer noch Imipramin-haltige Mittel
die eigentlich als Medikamente zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden
(bekanntes Mittel ist das Tofranil), bei Kindern aber auch zur Behandlung von nächtlichem
Bettnässen. Seit langem wird von Expertinnen und Experten darauf hingewiesen, dass diese
Indikation überholt ist, da vor allem wegen der Nebenwirkungen andere nicht
medikamentöse Maßnahmen und psychotherapeutische Interventionen sehr viel sinnvoller
sind. Auf diese Mittel entfallen allerdings immer noch 2% aller
Psychopharmaka-Verordnungen für Kinder, eine Veränderung scheint hier dringend geboten.
Der größte Anteil der Psychopharmaka-Verordnungen für Kinder, nämlich knapp 80%,
entfallen aber auf Psychostimulanzien und hier vor allem auf das Arzneimittel Ritalin.
Ritalin wird bekanntermaßen eingesetzt beim sogenannten hyperkinetischen Syndrom, also
den Erscheinungsformen von absoluter körperlicher Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten
und großer Nervosität. Viele der Kinder, die mit diesen Mitteln behandelt werden, sind
außerordentlich intelligent, schaffen es aber leider nicht, diese Intelligenz in gute
schulische Leistungen umzusetzen. Schätzungen gingen bislang davon aus, dass für 11.000
bis 15.000 Kinder und Jugendliche pro Jahr in Deutschland solche Mittel, vor allem
Ritalin, verschrieben werden. Solche Psychopharmaka greifen in das Belohnungssystem des
Gehirns ein und manipulieren es letztlich. Sie sind deswegen psychoaktive Substanzen,
letztlich also "Drogen" im strengen Wortsinn. Und leider ist bei vielen
Ärztinnen und Ärzten noch immer zu beobachten, dass Ritalin und ähnliche Präparate
ohne notwendige psychotherapeutische Begleitung verschrieben wird. Nur allein durch eine
solche Verschreibung läßt sich allerdings das hyperkinetische Syndrom nicht behandeln,
sondern nur dann, wenn bestimmte Verhaltens- und Umgangsformen gelernt werden, um
Arbeitsprozesse und alltägliche soziale Anforderungen zu bewältigen. Deswegen ist es
auch berechtigt, kritisch mit den rein medikamentösen Behandlungen solcher Krankheiten
umzugehen. In den von uns analysierten Daten haben wir 1.553 Kinder gefunden, die während
des Jahres 1999 "Kontakt" mit Ritalin hatten. Dies auf die Bundesrepublik
Deutschland hochgerechnet bedeutet, dass rund 70.000 bis 75.000 Kinder pro Jahr zumindest
einmal, vielleicht auch nur versuchsweise, Ritalin verordnet bekommen. Die
Verordnungsdaten zeigen, dass bei rund 5% der Kinder nur einmal ein Therapieversuch
unternommen wird, dass aber bei etwa 18% aller Kinder die Verordnungen von Ritalin länger
als drei Monate andauern. Überträgt man dies auf die bundesrepublikanischen
Größenordnungen, würden rund 15.000 Kindern mehr oder weniger langfristige Verordnungen
mit Ritalin erhalten.
Das zusätzlich Auffällige bei der Ritalin-Verordnungen ist weniger die Tatsache, dass
sie insgesamt zu 72% auf Jungen entfallen und zu nur 28% auf Mädchen, wobei die
Dauerverordnungen allerdings noch deutlich zu Lasten der Jungen gehen (82-88% Jungen,
18-12% Mädchen), sondern vielmehr, dass nur 18% der Verordnungen von den zuständigen
Fachärzten, nämlich den Nervenärzten und Psychiatern ausgestellt werden, 51,5% dagegen
von Kinderärzten und immerhin 21,6% von allgemeinärztlichen tätigen Hausärzten.
Ritalin-Verordnungen sind spezielle und unter Umständen auch problematische Verordnungen.
Sie bedingen eine genaue Kenntnis von den Wirkungen des Arzneimittel und setzen eine
expertengestützte Diagnose voraus. Die Vermutung muß daher geäußert werden, dass
vielfach leichtfertig, vielleicht auch auf Drängen der Eltern oder Bezugspersonen der
Kinder, versucht wird, mit diesem Arzneimittel eine Verbesserung in den
Auffälligkeitssymptomen der Kinder herzustellen, ohne die Konsequenzen einer solchen
Therapie genau übersehen zu können.
Glücklicherweise haben sich die Schätzungen, dass solche Psychopharmaka wie in den USA
üblich, bei bis zu 10% der Kinder und Jugendlichen verbreitet seien, bei uns nicht
bestätigt. Bei uns muß aber immerhin davon ausgegangen werden, dass etwa 2% der Kinder
im Grundschulalter mit solchen Arzneimitteln in Kontakt kommen. Dennoch zeigen
erschreckende Steigungen über die letzten Jahre, dass auch bei uns das Problem der
Ritalin-Verordnungen dramatischer wird. So wurden Anfang der 80er Jahre so viele
Ritalin-Verordnungen ausgestellt, dass etwa 2.000 bis 4.000 Kinder damit ganzjährig
versorgt werden konnten, heute hat sich dieser Wert um das 4-5fache erhöht, so jedenfalls
die Hochrechnung aus den GEK-Statistiken. Es muß daher in den nächsten Jahren
sorgfältig beobachtet werden, ob es zu einem Mißbrauch bei Verordnung von Stimulanzien
oder anderen psychopharmakologischen Produkten kommt. Für dramatische Alarmsignale sind
die heute vorgelegten Analysen sicherlich noch nicht ausreichend, es kommt nur in
Einzelfällen zu einem aus unserer Sicht unproblematischen Mißbrauch im Rahmen einer
hochdosierten, langfristigen Anwendung. Es sollte aber sehr genau geprüft werden, wann
überhaupt solche Arzneimittel sinnvoll sind und ob nicht die Vergabe solcher
Arzneimittel, die bei Kindern zu einem sozial angepaßten Verhalten führen soll, nicht
für diese Kinder in deren Zukunft die große Versuchung darstellt, über andere
Arzneimittel oder andere Drogen eine Bewältigung von Alltagsproblemen herbeizuführen.
Der Konsum von Arzneimitteln könnte auf diese Weise Wegbereiter für kommende
Bewältigungsstrategien mit anderen chemischen Mitteln werden. Bei Schulkindern sind vor
allem auch Eltern mitbeteiligt an der Arzneimittelversorgung und der medizinischen
Behandlung ihrer Kinder. Auch sie müssen ein Verständnis dafür entwickeln, dass mit
Pillen alleine Schul- und Lebensprobleme nicht zu lösen sind. Hyperkinetische Kinder,
heute auch vielfach als ADHD-Kinder bezeichnet (Attention Deficite Hyperactivity Disorder)
sollten sicherlich nicht ausschließlich und im Sinne einer "Einbahnstraße" mit
Psychostimulantien behandelt werden. Es ist daher kritisch, wenn erkennbar ist, dass in
deutschen Arztpraxen in der Zwischenzeit viel und locker rezeptiert wird und dass nicht
nur Kinder mit schweren Beeinträchtigungen, sondern zunehmend auch rein aufmerksam
gestörte Kinder Ritalin bekommen. Eine solche Entwicklung muß aufmerksam beobachtet
werden, damit nicht die Gefahr erhöht wird, dass solche problematischen Arzneimittel, die
sicherlich in einzelnen Fällen hilfreich und wirkungsvoll sind, in breitem Umfang
mißbräuchlich eingesetzt werden. Die dramatischen Steigerungen von Ritalin und anderen
Psychostimulantien sollten nicht bagatellisiert werden, es scheinen dringend Leitlinien
für den Umgang mit diesen Mitteln erforderlich, wenn dem Mißbrauch vorgebeugt werden
soll - denn der schadet den Kindern auf Dauer!
Ausblick
Die Auswertungen im Rahmen der Arzneimittelversorgungsforschung zeigen, wie sehr die Daten
dazu geeignet sind, die Qualität der Arzneimittelversorgung zu bestimmen, gleichzeitig
aber auch Aufklärung und Patientenschutz zu betreiben. Insgesamt hat die Untersuchung
gezeigt, dass auch bei der Arzneimittelversorgung von Kindern Präparate mit zweifelhaftem
Nutzen eingesetzt werden und dass nicht unproblematische Arzneimittel wie Ritalin in
ständig steigendem Umfang verordnet werden. Kinder lernen durch den Umgang mit
Arzneimitteln in jungen Jahren auch für das spätere Leben, Arzneimittel einzusetzen.
Wenn allzu freizügig Arzneimittel verordnet werden und bei allen Problemen im Leben und
dem Alltag Arzneimittel als Hilfe zur Bewältigung angeboten werden, kann es nicht
erstaunen, dass auch im späteren Leben chemisch-basierte Bewältigungsmechanismen wie
Alkohol, Nikotin oder auch sogenannte illegale Drogen eine Rolle spielen. Hier gilt es,
den Nutzen der Arzneimittel richtig einzuschätzen, so dass Kinder nicht durch ein
Übermaß einer Arzneimitteltherapie darauf konditioniert werden, Arzneimittel als
Lebenshilfe einzusetzen - dies sind sie nicht und werden es auch in Zukunft nie sein
können.
Prof. Dr. Gerd Glaeske, Zentrum für Sozialpolitik - Schwerpunkt
Arzneimittelversorgungsforschung - Universität Bremen, Parkallee 39, 28209 Bremen.
Werner Schell (16.4.2000)
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