Dr. Bernard Braun, Forschungseinheit "Gesundheitspolitik und
Evaluation medizinischer Versorgung" im Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) der
Universität Bremen - Schwerpunkt Gesundheitspolitikfolgenforschung -
Informationen für die Pressekonferenz am 12. April 2000 in Berlin
»Ablehnungen von Sachleistungen als Folge von Budgetierung sägen an den
Wurzeln des sozialen Gesundheitssystems - Zusammenfassung der Ergebnisse einer Versichertenbefragung«
1. Vertrauen in die zukünftige Leistungsfähigkeit des
Krankenversicherungssystems und in den Arzt als elementare Voraussetzungen für ein
soziales und wirksames Gesundheitssystem
Für die Funktionsfähigkeit und Stabilität eines sozialen Krankenversicherungs- und
Gesundheitssystems mit einem gleichen und diskriminierungsfreien Zugang zu einem
umfassenden Paket notwendiger Leistungen, gibt es eine Reihe unabdingbarer
Voraussetzungen. Zusammengenommen bilden diese die für diese Art soziale Systeme
notwendigen Vertrauensressourcen: Erstens gehört dazu die Fähigkeit und
Bereitschaft aller BürgerInnen, zu einer solidarischen Finanzierung beizutragen. Konkret
heißt dies für Gegenwart und Zukunft die Zahlung von einkommensabhängigen Beiträgen,
unabhängig vom individuellen gesundheitlichen Risiko und der persönlichen
Inanspruchnahme.
Diese ja keineswegs selbstverständliche Bereitschaft zum intertemporalen und
intergenerativen solidarischen Verhalten, oder profaner gesagt: der oft jahrzehntelangen
Zahlung von zigtausenden DM "ohne sofort etwas davon zu haben", beruht nach
empirischen Untersuchungen auf der Erwartungsgewissheit bzw. dem berechtigten Vertrauen in
die Sicherheit (F. X. Kaufmann), durch die Mitgliedschaft in einer gesetzlichen
Krankenkasse auch in einem zukünftigen Bedarfsfall ohne ökonomische und soziale
Diskriminierung umfassend und im Rahmen des Notwendigen gesundheitlich versorgt zu werden.
(vgl. C. Ullrich, 1998).
Die zweite wichtige Voraussetzung stellen Kernerwartungen der BürgerInnen an das
Agieren der Ärzte als dem unverändert wichtigsten Akteur auf der Anbieterseite
gesundheitsbezogener Dienstleistungen dar. Diese Erwartungen haben maßgeblich Einfluß
auf die gesundheitliche Wirksamkeit und Qualität der Arzt-/Patientbeziehung. Von
professionellem ärztlichen Handeln wird die uneingeschränkte Loyalität des Arztes
gegenüber seinem Patienten, ein treuhänderisches Handeln im Interesse des Patienten, die
Bereitschaft, das Wohlergehen des Patienten über das eigene wirtschaftliche Interesse zu
stellen und die Wahrung des Arztgeheimnisses (vgl. H. Kühn) erwartet.
Die genannten zentralen Voraussetzungen unseres Gesundheitssystems sind durch eine Erosion
des notwendigen Systemvertrauens und der Loyalität in der Arzt-Patientbeziehung bedroht.
Folgen für das System der solidarischen Finanzierung wären, dass
- diejenigen, die dazu in der Lage sind, das Solidarsystem verlassen oder gar nicht in es
eintreten,
- diejenigen, welche im Moment noch Pflichtmitglied sind, z.B. sofort versuchen, noch
"soviel wie möglich herauszuholen" (was bisher tatsächlich nur eine sehr
kleine Minderheit der Krankenversicherten tut),
- jene Mitglieder, die sich dies finanziell leisten können, ihre zukünftigen Risiken
anderweitig absichern und
- generell eine Offenheit für und Interesse an gesundheitspolitischen Um- wie
Abbaukonzepten entsteht, deren Gemeinsamkeit eine herrschende Orientierung auf
Privatisierung ist.
Für die eigenständige Effektivitäts- und Produktivitätsressource der
Arzt-Patientbeziehung bedeutet eine Einschränkung oder Verwässerung der genannten
Patientenerwartung beispielsweise eine weiter schwindende Bereitschaft, Ratschläge des
Arztes zur Compliance zu befolgen. Sofern Geld zum integralen Bestandteil der Beziehung
wird, fördert dies die nachweisbar problematische Vorstellung, die gesundheitliche
Wirksamkeit des Behandlungsgeschehens hänge entscheidend von der Höhe des finanziellen
Aufwands. Es entsteht der Eindruck, Gesundheit sei käuflich zu erwerben.
2. Erosionsspuren durch Budgetierung gesundheitlicher Leistungen
Für beide beschriebenen Arten von Erosionsprozessen häuften sich seit Einführung der
sektoralen Budgets Belege, die auch sofort konfrontativ diskutiert wurden. Meist fehlt es
jedoch an zuverlässigen Angaben über Umfang und Ausmaß der Erosionen, der je nach
Interessenlage unter- (z.B. "Einzelfälle" oder "schwarze Schafe")
oder übertrieben wird. Es fehlt außerdem an wissenschaftlichen Untersuchungen darüber,
ob und in welchem Umfang die theoretisch plausiblen Wirkungen auf die sozialen und
moralischen Wurzeln des Gesundheitssystems wirklich existieren.
Die Versichertenbefragung der GEK, deren Ergebnisse jetzt vorliegen, möchte hier einen
Beitrag zur Transparenz schaffen. In ihr wird ein Einblick in das Ausmaß der aktuellen
Verweigerung von ausgewählten ambulanten und stationären Leistungen im 4. Quartal 1999
gegeben. Ob und wie tiefe Erosionsspuren derartige Erfahrungen bei Krankenversicherten
hinterlassen, zeigt die zusätzliche Erhebung der Bewertung des sozialen
Krankenkassensystem durch die Versicherten.
Im zweiten Teil unserer empirischen Momentaufnahme wird nach der Situation der
Vertrauensressourcen unter Versicherten gefragt. Wie stark und in welcher Hinsicht hat
sich das Verhältnis von Patient und Arzt in letzter Zeit geändert. Die Erosionsspuren
sollen quantitativ abgeschätzt werden.
3. Privatisierung von Krankheitslasten im GKV-System
Um die Ergebnisse der aktuellen Befragung angemessen bewerten zu können, darf man nicht
nur die aktuellen Veränderungsprozesse berücksichtigen. Der aktuelle Schub der
Privatisierungen der Bewältigung gesundheitlicher Probleme den die Ablehnung von
Sachleistungen darstellt, erfolgt nämlich keineswegs vom Nullpunkt aus. Vielmehr liegt
ihm ein bereits aus der gesundheitspolitischen Vergangenheit existierender Sockel
zugrunde:
- Leistungsstreichungen, die einzeln geringfügig sind, in der Summe aber einen
gewichtigeren Eindruck hinterlassen,
- Zuzahlungen (1999 allein für Arzneimittel 6,5 Mrd. DM) zu einer nicht geringen Anzahl
von Leistungen samt den unzulänglichen Versuchen deren unerwünschten Wirkungen durch
Härtefallregelungen (rd. 10 Millionen Versicherte sind "ganz" oder
"teilweise" von Selbstbeteiligung befreit) zu kompensieren und
- Einschränkungen des Zugangs zu und des Umfangs von Leistungen (z.B. Verlängerung von
Wartezeiten auf Rehabilitationsmaßnahmen).
Bereits Millionen von Krankenversicherten haben damit Erfahrungen
gesammelt.
Inwieweit aktuelle Leistungsablehnungen das mit den gerade genannten Elementen bereits gut
gefüllte "Faß zum Überlaufen bringt", kann zwar nicht exakt prognostiziert
werden, sie machen es aber mit Sicherheit um ein gut Teil voller.
4. Rahmendaten der Befragung
Im Februar 2000 erhielten 10.000 per Zufallsstichprobe aus allen GEK-Versicherten über 18
Jahren ausgesuchte Personen einen weitgehend standardisierten, mit Antwortvorgaben
arbeitenden Fragebogen mit der ausdrücklichen Bitte zugesandt, ihn in jedem Fall (ob in
Behandlung oder nicht, ob mit oder ohne Leistungsablehnung) zu beantworten. Wegen der
Aktualität der Befragung mußte darauf verzichtet werden, die spontan nicht Antwortenden
nochmals zu erinnern.
Die inhaltlichen Schwerpunkte des vierseitigen Fragebogens richteten sich
auf
- erfahrene ambulante oder stationäre Behandlung im 4. Quartal 1999,
- Ablehnungen oder Verschiebungen im Bereich von fünf vorgegebenen Sachleistungsbereichen
der GKV(Heil-/Hilfsmittel, ambulante ärztliche Untersuchung und Behandlung, Verordnung
bisheriger Arzneimittel mit oder ohne Alternative und Krankenhausaufenthalt),
- Art und Umfang der Vermeidung oder Kompensation abgelehnter Leistungen,
- Häufigkeit und Art der Veränderungen des Verhältnisses von Arzt und Patient
- grundsätzliche Beurteilung des Krankenkassensystems.
Hinzu kamen noch eine Reihe soziodemographischer und anderer
Hintergrundfragen (z.B. die Dauer der Beziehung zum aktuell-behandelnden Arzt).
Bis zum 5. April lagen von 4.024 Versicherten (im weiteren die Befragten) auswertbare
Fragebögen vor. Der Rücklauf von knapp über 40% muß angesichts der methodischen
Umstände als befriedigend bezeichnet werden. Mit ihm können alle uns interessierenden
Fragen quantitativ zufriedenstellend untersucht werden.
Trotz leichter Übergewichte der über 40-jährigen Versicherten, der weiblichen
Versicherten (bei schriftlichen Befragungen oft zu finden) und der Angestellten,
entspricht die sozialdemographische Struktur und damit eine wichtige Determinante des
Verhaltens und der Erfahrungen der Befragten im großen und ganzen der Struktur der 10.000
ingesamt angeschriebenen Versicherten. Die Ergebnisse sind also für die GEK-Versicherten
insgesamt repräsentativ.
Von den Befragten waren
- 13,8% bis 30 Jahre, 25,7% 31-40 Jahre, 40,1% 41-60 Jahre und 20,4% über 60 Jahre alt,
- 30,6 % waren Frauen und 69,4 % Männer und
- 29 % arbeiten als Facharbeiter und 29 % als Angestellte; 22,1 % sind RentnerInnen und
mitversicherte Familienangehörige (meist Ehefrauen).
Ihren subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustand bezeichneten 9,8 % als
"sehr gut", 40,9 % als "gut", 36,1 % als
"zufriedenstellend", 10,9 % als "weniger gut" und 2,3 % als
"schlecht".
Von den Befragten waren nur 57,9% (= 2.299 Personen) überhaupt im letzten Quartal 1999 in
ambulanter oder stationärer Behandlung. Dass unsere Befragung den im Spiegel anderer
Untersuchungen auch realistischen Anteil von Versicherten ohne Leistungs-Inanspruchnahme
aufweist, widerlegt eindeutig die Befürchtung, hier wären einseitig und tendenziös
Antworten von Enttäuschten oder Verärgerten zusammengetragen worden (Befragung als
"Klagemauer").
85,8 % derjenigen mit ambulanter oder stationärer Behandlung kennen ihren Arzt
"länger als 2 Jahre".
5. Ablehnung oder Verschiebung von ambulanten und stationären Leistungen
5.1. Abgelehnte Leistungen insgesamt
Von den 2.299 Versicherten, die überhaupt in Behandlung waren, wurde
insgesamt 630 Personen, also 27,4 % allein im 4. Quartal 1999 mindestens eine der
abgefragten ambulanten Leistungen (Heil- und Hilfsmittel, Medikamentenverordnung,
ärztliche Untersuchung und Behandlung) abgelehnt/verweigert oder auf das Jahr 2000
verschoben.
Wenn schon in einem Quartal fast 30 % der behandelten Befragten Erfahrungen mit
Leistungsverweigerungen hatten, bedeutet dies, dass in einem gesamten Jahr bei
unveränderten Bedingungen deutlich mehr als ein Drittel der Krankenversicherten solche
Erfahrungen machen.
Da lediglich 19 Befragte (= 0,8 %) angaben, ihnen wäre im Betrachtungszeitraum die
Aufnahme in ein Krankenhaus verweigert worden, konzentriert sich unsere weitere
Darstellung ausschließlich auf das ambulante Versorgungsgeschehen.
Um einem voreiligen Mißverständnis gleich vorzubeugen: Es geht uns nicht darum, jede aus
welchen Gründen auch immer von Arzt oder Patient für sinnvoll gehaltene Leistung zu
verteidigen. Wie bekannt, und das ist eines der Hauptprobleme des Gesundheitssystems,
werden zuviele für die Gesundheitssicherung irrelevante, unsinnige oder gar gefährliche
Leistungen erbracht, die es im Rahmen einer Orientierung an Wirtschaftlichkeit durch
Ergebnisqualität einzugrenzen gilt. Dazu bedarf es u.a. aber eines möglichst fundierten
(Ein-)Verständnisses der Patienten und Versicherten. Durch die meist diffuse, fast
ausschließlich finanzielle Gründe hervorhebende oder gar die begründungslose Art der
Leistungsablehnung (so vorweggenommen unsere Befunde) kommt es aber gerade nicht zur
Verständigung und zum Verständnis, sondern zum Gefühl benachteiligt oder ungerecht
behandelt zu werden, wenn nicht gar gesundheitlich gefährdet zu werden. Die zuletzt
genannten Wahrnehmungen, Empfindungen und Bewertungen sind aber ausgesprochen wirksame
Faktoren für grundlegende Erosionsprozesse der Legitimation der sozialen Solidarität.
In der "Ablehnungsgruppe" sind Angestellte, Rentner und nichterwerbstätige
Mitversicherte, Frauen und Personen mit schlechterem Gesundheitszustand deutlich über-
und Facharbeiter deutlich unterrepräsentiert.
Auf dem Hintergrund der eingangs skizzierten Wichtigkeit des sozialen und interpersonalen
Vertrauens, sind die für Ablehnungen genannten Gründe besonders problematisch: Bei 43,6
% aller Ablehnungen von Untersuchungen und bei 68 % aller Ablehnungen der Verordnung eines
bisher verschriebenen Medikaments ohne Alternative erfolgt die Begründung, der Arzt
müsse wegen der Budgetierung die Leistungen aus eigener Tasche bezahlen. 20 % der
Personen, denen eine ärztliche Behandlung und 33,5 % der Versicherten, denen die
Verordnung eines vorher verordneten Medikaments mit dem Angebot einer Alternative
abgelehnt wurde, erhielten gar keine Begründung.
Dies steht im grellen Gegensatz zum allgemein anerkannten Konzept des "mündigen
Patienten" oder "souveränen Konsumenten". Verwunderlich ist, dass Ärzte
die naheliegende und anerkannteste Möglichkeit einer medizinisch-therapeutischen
Begründung, die in vielen Fällen ja durchaus möglich wäre, nur karg nutzen. Nur 33,3 %
der Ablehnungen einer Behandlung und nur noch 13,8 % der abgelehnten
Medikamentenverordnungen ohne Alternative werden so begründet.
Von den Versicherten mit mindestens einer Leistungsablehnung, nannten 59 % einen
Allgemeinarzt, 34,5 % einen Facharzt und 6,6 % einen Zahnarzt als "Ablehner".
Die Beteiligung der Arztgruppen variierte aber je nach Art der verweigerten Leistung
nochmals kräftig: So waren an der Ablehnung von Behandlungen die Zahnärzte mit 36,5 % am
stärksten beteiligt. Auf das Konto der Fachärzte gingen 43,7 % der Ablehnung von
Untersuchungsleistungen. Die Allgemeinärzte waren am Ablehnungsgeschehen in den drei
anderen Leistungsbereichen durchweg mit über 60 % beteiligt.
5.2. Auswirkungen von Leistungsablehnungen
5.2.1. Gesundheitliche Auswirkungen
Auf unsere Frage, ob sie wegen der Ablehnung oder Verschiebung von Leistungen
"spürbare gesundheitliche Nachteile" hatten oder haben, gaben beachtliche 24,2
% der Befragten an, es gäbe "viele" oder sogar "sehr viele".
Zur Aussagefähigkeit der von uns gewählten Methode subjektiver Gesundheitsbewertungen
kann allgemein festgestellt werden: Eine Vielzahl von Studien über subjektive Bewertung
von Gesundheit zeigt immer wieder, mit welcher Zuverlässigkeit Patienten in der Lage
sind, Aussagen zu ihrem Gesundheitszustand zu machen. Die Studien zeigen eine hohe
Übereinstimmung mit Ergebnissen objektiver oder professionell-ärztlicher Diagnostik.
Subjektive Gesundheitseinschätzungen haben teilweise sogar einen höheren prädiktiven
Wert als medizinisch-ärztliche Urteile. In vielen Ländern Europas (z.B. Schweden,
Niederlande) oder in den USA stützt sich daher die Gesundheitsberichterstattung stark auf
subjektive Daten aus Gesundheitssurveys.
5.2.2. Finanzielle Auswirkungen für die Versicherten
Mehr als die Hälfte der Versicherten mit abgelehnten Leistungen (353 Personen)
beantworteten die Frage, welche finanziellen Leistungen sie bei ihren Versuchen (zu den
Einzelheiten siehe unten), doch noch zu einem Ersatz für die abgelehnten Leistungen zu
kommen, aus der eigenen Tasche aufgebracht hätten. Der Durchschnittsbetrag lag bei DM
184,73. Die Spanne der Ausgaben reichte von DM 10 bis DM 1.500.
5.2.3. Auswirkungen auf die Vertrauensressourcen unseres
Gesundheitssystems
Ob und inwieweit Ablehnungen von Leistungen Schleifspuren beim Vertrauen in das bestehende
soziale Krankenversicherungssystem hinterlassen und damit mittel- bis langfristig zu
seiner Erosion beitragen haben wir geprüft. Wir haben dazu als erstes die Frage nach der
Beurteilung "unseres Krankenkassensystems" gestellt. Dies wird durch die Frage
nach der Häufigkeit und Art jüngster Veränderungen im Verhältnis von Arzt und Patient
abgerundet und ergänzt.
Ein Vergleich von Versicherten mit unterschiedlichen Behandlungs- und
Ablehnungserfahrungen zeigt deutlich, welche Spuren Ablehnungen beim GKV-Systemvertrauen
hinterlassen.
58,6 % der Versichertengruppe mit mindestens einer Leistungsablehnung haben ein
weitgehend eingeschränktes oder gänzlich verlorenes Vertrauen in den Status quo des
sozialen Krankenversicherungssystems ("müßte in vielen Punkten" oder "von
Grund auf geändert werden"). Dies wird in der Gruppe der behandelten Versicherten ohne
derartige Erfahrungen lediglich von 36,8 % artikuliert.
Auf die grundsätzliche Frage, ob sich "in den letzten ein bis zwei Jahren etwas an
ihrem Verhältnis zu Ihrem Arzt geändert" habe, antwortet mit 66,9 % aller Befragten
(also nicht nur der im 4. Quartal 1999 behandelten Befragten) immerhin eine
Zweidrittelmehrheit mit "nein", aber das restliche Drittel hat offensichtlich
andere Wahrnehmungen.
Was sich für 33,1 % der Befragten im Detail geändert hat, baten wir sie dadurch zu
präzisieren, dass sie ihre Erfahrungen mit sechs immer wieder zu hörenden Veränderungen
differenziert mitteilten. Außerdem bestand die Möglichkeit zusätzliche Erfahrungen
schriftlich zu nennen.
38 % der Versicherten, die eine Veränderung des Verhältnisses zu ihrem Arzt feststellen,
bestätigen uneingeschränkt ("trifft voll zu"), im Verhältnis zu ihrem Arzt
würden die Kosten immer öfter angesprochen und 35,7 % berichten ohne Abstriche,
kritische Bemerkungen ihrer Ärzte zum Kassensystem würden sich häufen. 23,6 % dieser
Versicherten wurden ein- oder mehrere Male Leistungen als Privatpatient angeboten. 22,1 %
geben uneingeschränkt an, ihr Arzt nähme sich immer weniger Zeit für sie.
Für besonders gravierend halten wir die Antworten auf die Frage nach zwei weiteren
möglichen Elementen der Veränderung des Verhältnisses von Arzt und Patient: 17,7 % der
Versicherten, die überhaupt von Veränderungen des Verhältnisses zu ihren Ärzten
berichten, haben uneingeschränkt ("trifft voll zu") den Eindruck, ihr Arzt tue
"nicht mehr alles" was ihrer Gesundheit nützt. Dies wird noch dadurch
verschärft, dass zusätzlich 41,1 % diese Veränderung immerhin für "etwas"
zutreffend halten. 18,8 % haben außerdem den Eindruck, bei ihrem Arzt spielten immer
stärker seine eigenen finanziellen Interessen eine Rolle.
Diese aktuellen Tendenzen müssen insofern sehr ernst genommen als es sich hier weder um
"Einzelfälle" handelt noch um Spitzenwerte, die nicht überschritten werden
könnten. Wie die Häufigkeit der Antwortmöglichkeit, von der Veränderung träfe
"etwas zu" indiziert, handelt es sich vielmehr um relativ hohe Ausgangsniveaus
für weitere, realistisch durchaus mögliche Veränderungen des
Arzt-/Patientverhältnisses: Je nach Einzelerscheinung geben zwischen 20 und 40 % der
Befragten, die überhaupt Veränderungen sehen, bei den genannten Veränderungsarten an,
davon träfe zumindest "etwas zu".
Ein Anhalten von Leistungsablehnungen im aktuell festgestellten Umfange und die dadurch
mitbedingte "Anreicherung" der Kommunikation in und Wahrnehmungen der
Arzt-Patientbeziehung zusammen, liefern also genügend Ausgangsstoff für weitere
folgenreiche Erosionen des Vertrauens gegenüber den ärztlichen Akteuren.
5.2.4. Zum praktischen Umgang mit Leistungsverweigerungen
Die Ablehnungen verschiedener ärztlicher Leistungen wirkt sich nicht nur erodierend auf
die genannten Vertrauensressourcen aus. Die davon betroffenen Versicherten und ein Teil
der Ärzte (!), die hieran aktiv beteiligt waren, versuchen außerdem in beträchtlichem
Umfang und mit einem dazu notwendigen zusätzlichen Aufwand, die offensichtlich spürbaren
direkten Folgen zu beseitigen oder doch zu vermeiden.
Die Reaktionen sahen im einzelnen so aus: 46,7 % der Versicherten beschafften sich die
abgelehnten Leistungen z.B. durch Selbstmedikation auf eigene Rechnung, 12,1 % wechselten
den Arzt und bekamen vom neuen Arzt die ursprünglich abgelehnte Leistung aber 3,2 %,
welche dies versuchten, bekamen auch beim zweiten Anlauf die Leistung nicht. 32,7 % der
Versicherten, denen irgendeine der ausgewählten Leistung vom behandelnden Arzt als
Sachleistung der GKV abgelehnt wurde, bot aber derselbe Arzt an, die Leistung privat zu
verordnen (Mehrfachreaktionen sind möglich).
5.3. Einzelne Arten abgelehnter ambulanter Leistungen
Von den 2.299 Versicherten, die im 4. Quartal 1999 überhaupt in ambulanter oder
stationärer Behandlung waren, wurden 333 oder 14,5 % Personen Heil- und Hilfsmittel
(z.B. Massagen, Gehhilfen u.ä.), 247 oder 10,7 % Personen Medikamente mit Alternative,
254 bzw. 11 % Personen Medikamente ohne Alternative, 117 oder 5,1 % Personen eine ärztliche
Untersuchung, 60 oder 2,6 % Personen eine ärztliche Behandlung und 19 oder 0,8
% Personen die Aufnahme in ein Krankenhaus verweigert bzw. auf das Jahr 2000
verschoben.
Da dies insgesamt 1.011 Erfahrungen mit der Verweigerung ambulanter Leistungen ausmacht,
gibt es unter unseren Befragten also auch eine Reihe Personen, denen mehr als eine
Leistung abgelehnt wurde.
Weitere Informationen sind erhältlich über: Dr. Bernard Braun, Forschungseinheit
Gesundheitspolitik und Evaluation medizinischer Versorgung im Zentrum für Sozialpolitik
(ZeS) der Universität Bremen, Parkallee 39, 28209 Bremen. Tel.: 0421/2184359; Fax:
0421/2187455; E-Mail: bbraun@zes.uni-bremen.de
Werner Schell (16.4.2000)
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