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Medizinische Leitlinien: Juristische Dimension
Verfasser: Prof. Dr. med. Gisela C. Fischer und Dr. med. Matthias Berndt
Bis zum Frühjahr 2000 sind in Deutschland weit über eintausend
Leitlinien von den Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
Medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet worden. Diese wurden im Internet und zum Teil
in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Mehrere Hundert weitere Leitlinien sind
bereits für die nächsten Jahre angekündigt. Bereits 1998 fand - veranstaltet durch das
Institut für Gesundheits- und Medizinrecht der Universität Bremen (Leiter: Prof. Dr.
jur. Dieter Hart) - der Kongress "Ärztliche Leitlinien: Empirie und Recht
professioneller Normsetzung" statt. Intensiv und zum Teil kontrovers wurden dort die
juristischen Implikationen von Leitlinien diskutiert. Während insbesondere die Ärzte
primär Leitlinien als unverbindlichen Leitfaden ansahen, stellten die Juristen eine
implizite Normsetzung durch die Leitlinien in den Vordergrund. Bei von Leitlinien
abweichendem Verhalten sei unter Umständen eine explizite Rechtfertigung des Arztes
notwendig.
Im Folgenden wird die Nutzung einer allgemeinmedizinischen Leitlinie im Rahmen eines
Schlichtungsverfahrens dargestellt, und Konsequenzen werden diskutiert.
Der Fall
Eine Patientin wurde vom Hausarzt aufgrund rezidivierender Harnwegsinfekte,
Rückenschmerzen und verschiedener anderer Erkrankungen behandelt. Als Folge einer
Pyelonephritis entwickelte die Patientin eine Schrumpfniere. Im weiteren Verlauf wurde die
Patientin einseitig nephrektomiert. Dem Arzt wurde vorgeworfen, er habe mangelhaft auf
weiterführende Diagnostik und Abklärung verzichtet beziehungsweise die bestehende
Notwendigkeit dafür nicht erkannt.
Obwohl die Patientin zeitgleich zu der hausärztlichen Versorgung von mehreren anderen
Fachärzten, wie Internisten, einem Gynäkologen, und schließlich im Rahmen einer
Begutachtung durch Ärzte der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte untersucht wurde
und kein Arzt ihre Beschwerden in einem Zusammenhang mit einer Erkrankung der Niere
gesehen hatte, gelangt ein Sachverständigengutachten zum Schluss, dass dem behandelnden
Arzt ärztliche Fehler nachzuweisen sind.
Der Gutachter war überzeugt davon, dass bei rezidivierenden Harnwegsinfekten ein
komplizierter Harnwegsinfekt vorliegt und eine weiterführende urologische Abklärung
hätte erfolgen müssen. Entlastend wertete die Schlichtungsstelle, dass die
Hausarztfunktion in diesem Arzt-Patienten-Verhältnis nur unvollständig ausgeübt werden
konnte und dass zudem die Patientin eine weitere Diagnostik nach Angaben des Hausarztes
von den mitbehandelnden spezialisierten Ärzten wünschte.
Im strittigen Fall wurde die von der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und
Familienmedizin e. V. entwickelteLeitlinie "Brennen beim Wasserlassen"
herangezogen. Der Beschuldigte führt die Leitlinie insofern an, als dass er bei
Diagnostik und Therapie über die Empfehlungen der Leitlinie sogar hinausgegangen sei und
somit keine Unterlassung stattgefunden haben könne. Der medizinische Gutachter nutzt die
Leitlinie, um die Definition des "komplizierten Harnwegsinfektes", der eine
weitergehende Diagnostik im Gegensatz zum "einfachen Harnwegsinfekt" erfordert
hätte, zu untermauern.
Die Argumentation mit der Leitlinie durch Gutachter und Beschuldigten sowie die Inhalte
der Leitlinie spielen in der endgültigen Entscheidung der Schlichtungsstelle insofern
eine Rolle, als sie auch hier als optimaler Behandlungsweg zugrunde gelegt wird. Dabei
geht die Schlichtungsstelle davon aus, dass es sich bei der hier relevanten Unterscheidung
zwischen einem einfachen und komplizierten Harnwegsinfekt nicht um einen erst mit der
Leitlinie neuen Tatbestand, sondern um medizinisches Basiswissen, das in der
Hausarztpraxis vorausgesetzt werden muss, handelt. Die Schlichtungsstelle geht in
Übereinstimmung mit dem Gutachter davon aus, dass ein ärztlicher Behandlungsfehler
vorlag, der jedoch nach ihrer Auffassung nicht vermeidbar war. Deshalb haben bei der
Bewertung des Konfliktes die Anamnese und das Verhalten der Patientin sowie Defizite bei
der Dokumentation von Patientengesprächen durch den Beschuldigten eine größere
Bedeutung.
Quintessenz
Die Schlichtungsstelle kommt zu dem Ergebnis, dass Schadensersatzansprüche gegeben sind.
Eine Behandlung entsprechend den Inhalten der Leitlinie hätte voraussichtlich die
Beschwerden der Patientin vermeiden können. Jedoch war dieser Behandlungsprozess aufgrund
einer Vielzahl behandelnder Ärzte und berichteter mangelhafter Compliance der Patientin
retrospektiv praktisch nicht durchführbar.
Der Fall zeigt exemplarisch, dass Leitlinien bereits jetzt eine Rolle in ärztlichen
Schlichtungsstellenverfahren spielen und somit auch später in gerichtlichen
Auseinandersetzungen spielen werden.
Interessant ist, dass Beschuldigter und Gutachter die Leitlinie "Brennen beim
Wasserlassen" völlig unabhängig voneinander herangezogen haben.
Beschuldigter und Gutachter greifen unterschiedliche ausgewählte Aspekte der Leitlinie
auf, um ihre Argumentation zu verstärken. Dabei bezieht sich der Beschuldigte auf
Prozessabläufe, der Gutachter auf die Definition eines Begriffes. Bei der Argumentation
fällt auf, dass die Leitlinie tendenziell eher als minimaler denn als optimaler
Behandlungsstandard aufgefasst wird. So hält es sich der Beschuldigte zugute, dass er
sogar noch über die Anforderungen der Leitlinie herausgegangen sei.
Erstaunlich ist, dass sich sowohl Gutachter als auch Beschuldigter in ihrer Argumentation
auf eine zum Zeitpunkt des Behandlungsvorgangs noch nicht einmal geplante, zum Zeitpunkt
des Schlichtungsverfahrens noch nicht beschlossene Leitlinie beziehen. Dies ist für den
Beschuldigten legitim, für den Gutachter jedoch im Prinzip fragwürdig, da sich dieser
auf den wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Behandlung beziehen muss.
Medizinische Leitlinien sind durchaus geeignet, ärztliches Handeln normativ zu
begründen. Künftig wird es wichtig sein, die Heranziehung von Leitlinien in
Schlichtungsverfahren und gerichtlichen Auseinandersetzungsverfahren zu beobachten, um
Erfahrungen hinsichtlich ärztlicher und juristischer Bewertung im Spannungsfeld
individueller Patientenfall versus normatives Vorgehen zu gewinnen.
Anschrift der Verfasser: Dr. med. Matthias Berndt und Prof. Dr. med.
Gisela C. Fischer, Abt. Allgemeinmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, 30625
Hannover. E-Mail: Matthias.Berndt@internetmedizin.de.
Quelle: Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 28-29 vom 17.07.00, Seite A-1942 [POLITIK: Kommentar]
Werner Schell (28.7.2000)
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