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Ein behindertes Kind als Schadensquelle - Perversion des Denkens
Von Friedrich Graf von Westphalen
Es gibt - und darin liegt die Fatalität - logische Konsequenzen, welche von der
Absurdität des Denkens und Handelns bald zur Perversion führen. Die Steigerung dieser
Fatalität besteht dann regelmäßig darin, dass weder Absurdität noch Perversion als
solche erkannt und gebrandmarkt werden, weil sie sich in den Mantel der Legalität
kleiden. Sie schaffen damit ein vorgebliches Recht, welches - gemessen am Bild des
Menschen im Recht - jedoch tiefes Unrecht ist.
Gemeint ist damit eine soeben bekannt gewordene Entscheidung der französischen Cour de
Cassation, des höchsten Zivilgerichts: Nicholas Perruche ist schwerst behindert. Vor mehr
als siebzehn Jahren erkrankte seine Mutter an Röteln. Die behandelnden Ärzte und auch
ein eingeschaltetes Labor hatten diese Erkrankung falsch bewertet und die Schwangerschaft
nicht durch eine Abtreibung beendet.
So gesehen hat der von der Cour de Cassation entschiedene Fall -zunächst - keinerlei
Besonderheit. In zahlreichen Rechtsordnungen wird mittlerweile das mit - nicht rechtzeitig
erkannten - Behinderungen geborene Kind als Schaden gewertet. Den unterhaltspflichtigen
Eltern wird daher ein geldwerter Ersatz in Höhe des als Folge der Behinderung vermehrten
Unterhalts gegenüber dem Arzt oder dem Krankenhaus zugesprochen. "Wrongful
life" ist das Stichwort.
Der ärztliche "Kunstfehler"
Auch das deutsche Recht sieht es so, obwohl hinzuzusetzen ist: Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Abtreibungsurteil vom 28. Mai 1993 klar gestellt:
"Eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle kommt von
Verfassungs wegen (Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz) nicht in Betracht. Deshalb verbietet es
sich, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen". Doch nur wenig
später hat sich der für Zivilsachen zuständige Bundesgerichtshof in Karlsruhe recht
munter und fast ein wenig despektierlich über diese verfassungsrechtlich errichtete
Bürde hinweggesetzt. Das behinderte Kind ist also im deutschen Zivilrecht eine
"Schadensquelle", sofern ein ärztlicher "Kunstfehler" das Fortleben
dieses Kindes ermöglicht hat. Jetzt aber hat die Cour de Cassation weiter reichend
entschieden: Auch das behinderte Kind selbst hat Anspruch auf Schadensersatz. Es ist die
Behinderung selbst, welche den zivilrechtlichen "Schaden" ausmacht. In der
bitteren Konsequenz dieses Urteils liegt es also, dass das Interesse des Kindes am Leben
nur durch geldwerten Ersatz kompensiert werden kann, weil - streng genommen - die Tötung
des ungeborenen Kindes die adäquate Rechtsfolge war. Weil dem die schwangere Mutter
behandelnden Arzt eine Pflichtverletzung anzulasten ist, ist jetzt aber auch das Leben des
behinderten Kindes mit dem Stigma der Rechtswidrigkeit ausgestattet.
Das Recht ist nicht wertblind
Es geht also nicht mehr "nur" um die Begründung der ohnehin fragwürdigen
These, dass das Schadensersatzrecht des Zivilrechts "wertblind" und nur auf den
Ausgleich der durch den Schaden entstandenen Vermögensdifferenz gerichtet ist. Diese
These kann man - wenngleich mit einiger intellektueller Mühe und unter Verzicht auf
moralische Redlichkeit - heranziehen, um den Unterhaltsanspruch der Eltern eines
behinderten Kindes indes zu begründen.
Doch das Recht ist eben nicht "wertblind", wenn es um die rechtliche
Qualifikation von menschlichem Leben geht. Vor allem die Würde jedes menschlichen Lebens
- auch die eines behinderten Menschen - steht dieser Einordnung mit
verfassungsrechtlich gebotener, aber nicht vollzogener Eindeutigkeit entgegen. Leben ist
in einer menschlichen Rechtsordnung nie in Geld aufzuwiegen, auch nicht das eines
Behinderten im Vergleich zu einem "normalen" Leben. Das alles ignoriert die
französische Cour de Cassation in ihrem Urteilsspruch zugunsten des behinderten Nicholas
Perruche. So wird die Perversion des Denkens und Handelns also weitergehen, weil ja auch
die Debatte um Bioethik und Reproduktionsmedizin ihre eigenen Früchte treibt. Sie rückt
unwidersprochen die "Qualität" menschlichen Lebens - als gesundes Leben
wohlgemerkt - in den Vordergrund. Sie sieht darin einen hohen ethischen Wert, der durch
Forschung und Medizintechnik zu erreichen, jedenfalls anzustreben ist.
Auf dieser Folie ist das Urteil der Cour de Cassation völlig konsequent. Doch es gilt zu
sehen: Dieses Urteil begründet ja nicht nur im Namen des Rechts den geldwerten Nachteil
eines nicht durch Abtreibung beseitigten behinderten Lebens, sondern es fördert auch
unmittelbar den Konflikt zwischen Eltern und mit Behinderungen geborenem Kind. Wie das?
Selbst wenn die Eltern aus religiös-moralischen Erwägungen es ablehnen, die Behinderung
ihres auf Grund eines Diagnosefehlers geborenen Kindes als Schaden zu begreifen, dann kann
jetzt das "Interesse" des behinderten Kindes gegenteilig verlaufen. Es kann für
sich den Schadensersatz einfordern. Erst recht gilt dies, wenn die Mutter in voller
Kenntnis der ärztlichen Diagnose es ablehnt, einer Abtreibung wegen der zu erwartenden
Behinderung ihres Kindes zuzustimmen. Dann richtet sich das scharfe Schwert des Rechts
gegen sie selbst, weil das behinderte Kind in dieser Logik uneinschränkbar berechtigt
ist, für sein Dasein Geldersatz auch von seiner Mutter zu fordern, weil sie die Ursache
gesetzt hat, es nicht vorgeburtlich getötet zu haben.
Druck auf die Mutter
Logisch, dass dadurch der Druck auf die nicht abtreibungswillige, alleinerziehende Mutter
gänzlich unerträglich wird, wenn sich jetzt auch der Vater des Kindes - aus welchen
Gründen auch immer - dahin festlegt, weder für sein behindertes Kind Unterhalt
zahlen noch das behinderte Dasein seines gleichwohl geborenen Kindes durch Geldzahlungen
kompensieren zu wollen. In einer solchen Rechtsordnung steht die Mutter wirklich
mutterseelenallein - und dies nur deswegen - das zeichnete die Perversion -, weil sie auch
ein behindertes Kind als Mensch mit Anspruch auf Würde, Liebe und Fürsorge des Lebens
wert achtet, weil Gott es geschaffen hat.
Quelle: ALfA-Newsletter vom 28.11.2000 mit Textübernahme aus "Die Tagespost", 28.11.2000 (http://www.die-tagespost.com)
Werner Schell (2.12.2000)
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