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"Ärzte unter Anklage: Jeder kann betroffen sein - In der Regel
steht der Arzt nach einer Anklage zunächst unter Schock. Wichtig ist in dieser Situation
eine aktive Auseinandersetzung mit dem Vorgefallenen."
Mäulen, Dr. med. Bernhard in: Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 48
(03.12.1999), Seite A-3091 [THEMEN DER ZEIT: Aufsätze]
Das Damoklesschwert eines berufsbedingten Prozesses (Kunstfehler, Regreß)
hängt über jedem Arzt, jeder Ärztin. Ein Behandlungsfehlervorwurf tritt bei den
einzelnen Tätigkeiten und Facharztgruppen sehr unterschiedlich auf, besonders betroffen
sind Chirurgen und Gynäkologen. Angesichts einer nicht überschaubaren Zahl von
Abrechnungsregeln sind Ärzte überfordert und schnell unter Verdacht des
Abrechnungsbetruges. Bei manchen Ärzten führen privater Druck, persönliche
Besitzwünsche oder psychische Erkrankungen zu einem Verhalten, das zivil- oder
strafrechtliche Folgen haben kann. Für die betroffenen Kollegen/innen und ihre
Angehörigen ist ein berufsbedingter Prozeß ein sehr einschneidendes Ereignis, das
gravierende Auswirkungen hat.
Den Schock überstehen
Mehr als 80 Prozent aller beruflich angeklagten Ärzte erleben die Klage als Trauma mit
deutlich unangenehmen körperlichen (Kopfschmerz, Magenulcus, Schlafstörungen) und
emotionalen (heftige Emotionen, Arbeitsunlust, Schuldgefühle, Depression) Auswirkungen.
Klagen, die den Arzt treffen, gehen an den Kern des Selbstwertgefühls. Sie lähmen -
unabhängig vom Prozeßausgang - das berufliche Handeln und vermindern die Lebensqualität
für lange Zeit. Durch psychologische Erste Hilfe können angeklagte Ärzte Spätfolgen
vermeiden und lernen, sich angemessen auf die Prozeß-Situation einzustellen.
Wird ein Arzt über eine drohende Klage informiert, so löst dies in der Regel typische
Reaktionen aus. Nicht selten kommt es initial zu einem kurzen Schock: Kollegen berichten,
sie hätten sich gefühlt wie gelähmt, konnten nicht glauben, was ihnen passiert war oder
was man ihnen vorwarf. Sie hätten sich kraftlos gefühlt, die Gedanken hätten sich
überschlagen, die Gefühle pendelten zwischen Lähmung, Aggression ("Da schlage ich
zurück.") und tiefer Niedergeschlagenheit. Nur mit äußerster Mühe hätten einige
an dem Tag weiterarbeiten können. Manche Beklagten rufen empört Kollegen an, öfter
jedoch zieht man sich zurück.
Nach dem Schock kommt die Kraft zur Berufsbewältigung nach und nach zurück; Essen,
Schlafen, Kontaktpflege normalisieren sich. Die Klage an sich und die eventuell
dahinterstehende Fehlleistung sind noch nicht bewältigt. Häufig sind Kollegen ratlos,
was sie nun machen können, und überlassen alles dem Anwalt.
Was kann man jetzt tun? Zunächst sollten betroffene Kollegen sich ein umfassendes Bild
des Vorgefallenen verschaffen: Halten Sie die Ereignisse auf der Sachebene fest. Was ist
vorgefallen, wer war beteiligt, in welcher Reihenfolge sind die einzelnen Schritte
erfolgt, wo war das Ereignis, war es einmalig oder wiederkehrend, gab es zu irgendeinem
Zeitpunkt einen Gefahrenhinweis? Wie haben Sie gegebenenfalls darauf reagiert? Wie sind
die medizinischen Handlungen dokumentiert (genau, in aller Eile, pauschal)? Gab es andere
Personen, die als Zeugen ganz oder teilweise etwas gesehen/gehört haben?
Beschreiben Sie Ihre persönliche Situation an diesem Tag zur fraglichen Zeit. Hat irgend
etwas Sie abgelenkt, Ihnen inneren Druck gemacht? Standen Sie privat, gesundheitlich,
finanziell in einer gespannten Lage? Andere wichtige Aspekte können sein: Wie war die
Stimmung der Beteiligten, haben die Geschädigten zugehört, wie war die
Arzt-Patient-Beziehung, was haben Sie dem Patienten erklärt?
Alle diese Aspekte schreiben Sie möglichst detailliert auf. Als nächstes erzählen Sie
den ganzen Vorgang einem befreundeten und fachkundigen Kollegen. Dabei kommen zusätzliche
Erinnerungen, der Zuhörende kann auf Lücken hinweisen und zeigen, was in der Darstellung
nicht schlüssig ist. Der Erzählende merkt, wie das Geschilderte auf einen Fachkollegen
wirkt. Mit dieser Methode schaffen Betroffene Ordnung in ihrem Denken, die inkohärenten
Erinnerungen werden genauer und zusammenhängender. Das erhöht das Gefühl der
subjektiven Kontrolle und reduziert Ohnmachtsgefühle. Gleichzeitig hilft es auch in der
juristischen Aufarbeitung, wenn der Anwalt ein vollständiges und genaues Bild bekommt.
Persönliche Auseinandersetzung
Durch die genaue Erinnerung und Darstellung wird bewußt, was passiert ist und welchen
Teil an Verantwortung man trägt. Ist das Ausmaß der Folgen erheblich und bestand
vielleicht sogar eine nähere Beziehung zu dem geschädigten Patienten, sind
Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel, ja Infragestellen der grundsätzlichen Eignung zum
Arztberuf zu erwarten. In dieser Situation braucht man Menschen, denen man vertraut, die
einen anhören. Es ist nicht so wichtig, was diese Menschen sagen, wichtiger ist es, die
Gefühle zu zeigen. Begleiter sollten keinesfalls alles herunterspielen und von
Mißgeschick, Schicksal sprechen. Schuldgefühle, aber auch reale Schuld müssen gehört
werden. Auch wenn es erhebliche Kraft kostet, ist es oft gut, mit den Geschädigten
direkten Kontakt zu suchen und Anteilnahme zu äußern. Dem entgegen stehen oft
Vorschriften der Versicherungen, die aus juristischen Gründen eine direkte Entschuldigung
durch den Arzt, selbst wenn diese gerechtfertigt wäre, verhindern - ein Umstand, der
sicherlich nicht selten die psychische Bewältigung der Krise erschwert.
Immer häufiger werden Vorwürfe und Klagen über Kollegen in Presse, Fernsehen und
Internet dargestellt, nicht selten mit voller Namensnennung. Weit vor Eröffnung eines
Prozesses kommt es hier zu Schuldfestschreibungen und sehr tendenziösen Darstellungen.
Diese kommen erschwerend zur persönlichen Betroffenheit hinzu, bringen zu einem frühen
Zeitpunkt auch die Angehörigen in eine schwierige Lage und schaffen Fakten, die auch ein
späterer Freispruch nicht rückgängig machen kann.
Was können Betroffene tun? Es ist wichtig, hier besonders sachlich zu bleiben und in den
Medien die eigene Sichtweise darzustellen. Die angeklagten Ärzte sind meist weder
emotional ruhig genug noch speziell geschult im Umgang mit den Medien. Hier sollten
Betroffene auf jemanden zurückgreifen können, der über Erfahrungen in der
Öffentlichkeitsarbeit verfügt. Am besten können sie ihre Familie und sich schützen
durch die professionelle Hilfe eines geschulten Pressesprechers (Medienberaters), der von
sich aus die Presse oder das Fernsehen kontaktiert.
Durch den enormen Streß eines öffentlichen Prozesses ist oft eine psychische
Kompensation nicht möglich. Die Betroffenen tragen ein erhöhtes Risiko für ungünstige
Spätfolgen. Deswegen sollte - zumindest für einige entlastende Gespräche - ein
therapeutischer Berater aufgesucht werden. Ärzte, die als Gutachter in
Kunstfehlerprozessen tätig sind, sollten betroffenen Ärzten mehr Mut machen, Hilfe zu
beanspruchen.
Berufsbedingte Gerichtsverfahren dauern meist lange, aus Sicht der betroffenen Patienten
und auch aus der beteiligter Ärzte sicher zu lange. Das Geschehene kann nicht wirklich
verarbeitet werden, man hängt in der Luft, weiß nicht, auf was man sich genau einstellen
muß. Immer wieder neue Korrespondenz mit Gericht, Anwälten oder Versicherung lösen
Emotionen aus, die Normalität kann nicht einsetzen. Das erzeugt Streß und Belastung.
Auch der Umgang mit den Kollegen bleibt oft schwierig, solange die endgültige Klarheit
aussteht. Dabei erhöht sich die Gefahr der beruflichen Isolation, auch weil es manchmal
erhebliche Gleichgültigkeit, unter Umständen sogar Überheblichkeit seitens der Kollegen
gibt, die nie unter Anklage standen. Während sich Patienten überregional
zusammenschließen und als sogenannte Notgemeinschaften sogar im Internet auftreten, ist
dem Verfasser eine ähnliche Organisation auf seiten der Ärzte nicht bekannt.
Kontakt zu Kollegen
Was Betroffene tun können: Stellen Sie sich a priori auf ein längeres Verfahren ein.
Nutzen Sie die Zeit, um sich auf jede mögliche juristische Entscheidung vorzubereiten.
Setzen Sie sich mit der Frage auseinander, wie Sie weiterleben, weiterarbeiten werden,
wenn es für Sie ungünstig ausgeht. Nehmen Sie aktiv Anteil an Ihrem Verfahren; das
reduziert Ihre Ohnmacht, und Sie können etwas tun, statt nur zu warten. Kontaktieren Sie
Kollegen, die das Trauma einer Berufsklage überstanden haben. Dabei können ärztliche
Kreisvereine, Landesärztekammern, Berufsverbände, unter Umständen auch Anwälte, die
andere Ärzte vertreten haben, einen Kontaktwunsch an andere Betroffene weiterleiten.
Einschlägig erfahrene Kollegen können auch oft verständnisvoll zuhören und
Hilfestellung geben.
Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-3091-3092 [Heft 48]. www.aerzteblatt.de
Der Aufsatz wird mit freundlicher Genehmigung von Autor und Redaktion
vorgestellt (Team Werner Schell, 22.12.1999)
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