Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Das Verlassen eines infolge Gebrechlichkeit hilflosen Kranken kann strafrechtliche Folgen nach sich ziehen
Das Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken hat durch Beschluß vom 18.8.1997
- 1 Ss 159/97 - in einer vielbeachteten Revisionsentscheidung zur Frage der
tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung in der Alternative des Verlassens einer
infolge Gebrechlichkeit hilflosen Person durch eine beauftragte Altenpflegerin Stellung
genommen (NJW 1998, S. 841 f.).
Zum Sachverhalt: Die Pflegerin betreute entgeltlich eine 95-jährige Frau, die nach
einem Schlaganfall linksseitig gelähmt, bettlägerig und in vollem Umfang auf fremde
Hilfe angewiesen war. Der Gesundheitszustand der Patienten konnte sich jederzeit
verändern, daher war die Anwesenheit der Pflegerin zwingend geboten. Trotzdem entfernte
sie sich für 14 Stunden von der Patientin, die Betreuung übernahm etwa 2 1/2 Stunden
später deren Enkelin, nachdem diese die Abwesenheit der Pflegerin bemerkt hatte. Das
zuständige Amtsgericht verurteilte die Pflegerin zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen
zu je 80 DM. In der Berufungsverhandlung kam das angerufene Landgericht zu keinem anderen
Ergebnis. Dagegen wandte sich die angeklagte Pflegerin mit ihrer Revision; ohne Erfolg.
Aus den Gründen: Das OLG hat in seiner Revisionsentscheidung die Verurteilung der
Pflegerin wegen Aussetzung in der Tatbestandsalternative des Verlassens einer infolge
Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflosen Person nach § 221 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB)
bestätigt.
§
221 Abs. 1 StGB lautet: Wer eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit
hilflose Person aussetzt, oder wer eine solche Person, wenn sie unter seiner Obhut steht
oder wenn er für ihre Unterbringung, Fortschaffung oder Aufnahme zu sorgen hat, in
hilfloser Lage verläßt, wird mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren bestraft. |
In seinen
Ausführungen stellte das OLG heraus, daß im entschiedenen Fall unbestritten sei, daß
die Pflegerin die kranke bzw. gebrechliche Patientin in einer hilflosen Lage verlassen
habe. Die äußere Distanzierung der Pflegerin von der hilfsbedürftigen Patientin sei
jedoch für sich betrachtet noch ohne eigenen Unrechtsgehalt. Dem Verhalten der Pflegerin
könne erst dann eine Unrechtsbedeutung im Sinne des konkreten Gefährdungsdelikts der
Aussetzung zukommen, wenn es die physische Lage des Opfers verschlechtere, d.h.,
erst durch das Entstehen einer konkreten Gefährdungslage. Dies sei, so die Richter, dann
der Fall, wenn durch das tatbestandliche Verhalten eine Leibes- oder Lebensgefahr entweder
herbeigeführt werde, fortbestehe oder intensiviert werde. Genauso verhalte es sich, wenn
sich die hilflose Person ohnehin in einer latenten Gefahrenlage befinde und ihr
durch die Abwesenheit des Betreuenden Rettungschancen entzogen werden. Die
Pflegerin habe, so das OLG, mit dem Verlassen der Patientin die letzte
"Rettungsmöglichkeit" zum Nachteil des gefährdeten Opfers ausgeschaltet
und damit ihre Garantenpflicht verletzt. Denn, nur wenn sie mit der Patientin räumlich
verbunden gewesen wäre, hätte sie einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes
entgegenwirken können.
Die Richter stellten weiterhin heraus, daß der vorliegende Fall nur dann anders zu
beurteilen gewesen wäre, wenn die Pflegerin den drohenden Schaden gleichwohl aus
objektiv-situativen Gründen mit Sicherheit nicht hätte abwenden können (= völlige
Aussichtslosigkeit der Rettung). Diese Entlastungsmöglichkeit lag aber gerade hier
nicht vor, denn es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach der Eintritt einer
gleichwie gearteten Gesundheitsbeeinträchtigung bei einer 95-jährigen, bettlägerigen
Patientin ohne jegliche Rettungschance zu deren Tod führen muß.
Bleibe das Ergebnis pflichtgemäßer Hilfeleistung wie im vorliegenden Fall ungewiß,
verringere der Garant jedoch durch seinen Weggang vorhandene Rettungschancen, so
unterfalle dies dem Schutzzweck des § 221 StGB, stellten die Richter in ihrer
Entscheidung weiter heraus. Der Gesetzgeber habe gerade die "Chancenentziehung
unter Verletzung einer bestehenden Garantenpflicht" in der Alternative des
"Verlassens in hilfloser Lage" typisiert, die eine bloße Intensivierung einer
bereits vorhandenen Gefahr genügen lasse.
Das OLG fuhr in seiner Urteilsbegründung fort, daß die Strafbarkeit der Pflegerin auch
nicht deshalb entfallen könne, weil die Enkelin die Betreuung übernommen habe, denn der
Tatbestand des § 221 StGB sei schon ab dem Zeitpunkt des Verlassens der Patientin
erfüllt.
Da die Pflegerin sämtliche Tatumstände kannte und ihr klar sein mußte, daß die
vorgenommene Ortsveränderung zu einer bedrohlichen Verschlechterung der Lage der
Patientin führen konnte, handelte sie, so die Richter, auch vorsätzlich. Hierbei
genüge, daß sie eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und die Verminderung von
Rettungschancen für den Fall ihrer Abwesenheit für möglich hielt und diese
Folgen billigend in Kauf nahm. Auch hinsichtlich des Strafausspruchs konnte das OLG
das Urteil der Vorinstanz nicht beanstanden.
Werner Schell
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