Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat - Eine notwendige Provokation
Karl Hermann Haack, MdB
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
Berlin, 11. April 2003
Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat
Eine notwendige Provokation
I. Mut zum Wandel
Seit den 1970er Jahren wird in der öffentlichen Meinung, in
der Wissenschaft und insbesondere in der Politik in einem immer stärkeren Maße
über die „Zukunft des Sozialstaates" diskutiert. Dies ist dabei keine
einfache Ausgabenkritik, wie sie die Geschichte des Sozialstaates von Beginn an
begleitete. Es geht nicht mehr allein darum, ob die Finanzierung einzelner
Zweige sozialer Sicherung gefährdet und darum anpassungsbedürftig ist. Wir
befinden uns vielmehr inmitten einer Diskussion darüber, ob wir am Beginn einer
notwendigen Trendumkehr stehen, die die langanhaltende Ausdehnung des
Sozialstaates beendet, ja ob der Sozialstaat nicht zunehmend seine
Existenzberechtigung verliert. Das „Veralten des wohlfahrtsstaatlichen
Arrangements", der „Zusammenbruch des wohlfahrtsstaatlichen
Paradigmas" sind Beispiele für entsprechende Themensetzungen (die im
Übrigen nicht von Gegnern des Sozialstaats formuliert wurden).
Um die Akzeptanz für sozialstaatliches Handeln
wiederzugewinnen, muss die Politik auf diese Herausforderung reagieren, die
durch eine Vielzahl von sozialen, demographischen und ökonomischen Faktoren
geprägt wird. Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Bundesregierung tun dies.
Gerhard Schröder erklärte am 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag:
„Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa
gerecht zu werden, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Entweder wir
modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden
modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das
Soziale beiseite drängen würden.
Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren
praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der
Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu
Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34
auf fast 42 Prozent gestiegen.
Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des
Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es
nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die
Substanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende
Veränderungen."
Dieses Thesenpapier greift das Motto der Agenda 2010 auf: „Mut zum Wandel."
II. Paradigmenwechsel im Sozialstaat: Das Ziel Teilhabe
Die Bedingungen sozialer Politik sind schlagwortartig so zu charakterisieren:
Ausgangssituation:
Wir bewegen uns in einer durch die Entstehung aus
genossenschaftlicher Selbsthilfe und Bismarckscher Gesetzgebung ständestaatlich
geprägten und zu Institutionen geronnenen Landschaft verkrusteter sozialer
Sicherungssysteme. Diese repräsentieren als Institutionen und in ihrem
praktischen Handeln gegenüber dem Einzelnen vielfach noch den
vormundschaftlichen und bürokratischen Sozialstaat.
Problemlage:
Marktwirtschaft in der demokratische Gesellschaft der
Bundesrepublik Deutschland schafft nicht aus sich heraus Gerechtigkeit: Soziale
Lagen sind unterschiedlich, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit müssen
immer wieder neu errungen werden. Gerade vor dem Hintergrund einer schwierigen
wirtschaftlichen Situation ist sozialpolitisches Handeln notwendig, das
Perspektiven und Sicherheit im Umgang mit individuell als bedrohlich erfahrenen
sozialen Risiken gibt.
Dabei ist der Gefahr zu begegnen, dass eine finanziell
kritische Situation der sozialen Sicherungssysteme zu institutionellem
Immobilismus und sozialpolitischer Stagnation führt. Die Konsequenz wäre die
Implosion des Sozialstaates und die Auflösung seiner tragenden Prinzipien.
Aufgabenstellung:
Die Gleichzeitigkeit von Entwicklungen wie demographischer
Wandel, Veränderung von Morbiditätsstrukturen, Vielfältigkeit von
Lebensentwürfen, unterbrochene Erwerbsbiographien, konjunkturelle Unsicherheit,
global bestimmten wirtschaftlichen Tendenzen usw. stellt sozialdemokratische
Politik vor die Aufgabe, auf mehreren Ebenen zugleich und verbunden zu handeln:
Es gilt einen Beitrag zu leisten zur Stärkung des europäischen Sozialmodells,
es gilt Chancengleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit als gesellschaftliche
Prinzipien zu festigen und schließlich gilt es individuelle Freiheit und
Sicherheit in einem sozialen Bürgerstaat zu verankern.
Dies zu bewirken heißt einen Paradigmenwechsel des
Sozialstaates zu vollziehen, der zweierlei leistet: Die Orientierung auf den
sozialen Bürgerstaat und die Bereitstellung der finanziellen Ressourcen.
Das Ziel, zu dem es sich unter diesen Voraussetzungen hin zu
bewegen gilt, ist die gesellschaftliche Teilhabe aller. In einem aktivierenden,
sozialen Bürgerstaat müssen wir dabei auf mehreren Ebenen gleichzeitig
ansetzen:
• Teilhabe fußt auf Bildung und Emanzipation. Bildung ist
ein traditionelles emanzipatorisches Ziel der Arbeiterbewegung; die
Bildungsreform ist wieder - und verstärkt aufzunehmen.
• Teilhabe bedeutet anzuerkennen, dass Menschen im
Sozialstaat auch und gerade als Empfänger von Leistungen Subjekte und nicht
Objekte staatlichen und/oder institutionellen Handelns sind. Dabei gilt: Sie
sind Menschen mit Rechten und Pflichten. Der Einzelne kann, soll und muss
gefordert werden.
• Teilhabe bedingt schließlich, soziale Praxis als eine
Dienstleistung zu begreifen, die zum Bürger kommt. Nicht der Bürger muss
seinem sozialen Leistungsanspruch hinterherlaufen, die dann schon kaum mehr als
Dienstleistung, sondern eher als „Leistungsgewährung" gesehen wird.
Gesellschaftliche Verpflichtung und politische Aufgabe ist es, den Einzelnen in
allen seinen Anlagen und Kompetenzen zu fördern.
Mögliche Schritte auf dem Weg dorthin beschreiben die
folgenden zehn Thesen. Sie greifen bewusst provozierend über die gegenwärtig
zur Diskussion stehenden und notwendigen Reformschritte hinaus und wollen einen
Anstoß für eine inhaltlich und zeitlich weiter ausholende Debatte geben.
III. Vom bürokratischen Sozialstaat zum
sozialen Bürgerstaat: Zehn Thesen
1. Teilhabe
Teilhabe und Gerechtigkeit sind miteinander eng verbundene
Kernziele sozialer Politik. Soziale Gerechtigkeit ist ein Ziel, das in einer
Welt der schnellen und permanenten Veränderungen immer wieder neu formuliert
und erstritten werden muss. Auf der Grundlage unserer Leitbilder von
Menschenwürde, Gleichheit und Solidarität kann soziale Gerechtigkeit nur durch
die gleichberechtigte Teilhabe aller an der Gesellschaft gewährleistet werden.
Dies erfordert dementsprechend eindeutige Zielorientierungen der Gesundheits-
und Sozialpolitik auf in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
beeinträchtigte Bürgerinnen und Bürger.
Eine solche Politik hat emanzipatorischen Charakter. Sie
erschöpft sich nicht in der einfachen Umverteilung von Gütern und dem
materiellen Ausgleich wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Ihr Ziel ist
vielmehr die Ermöglichung der Teilhabe aller an der Gesellschaft. Dabei gilt
das Prinzip: fördern und fordern.
Das bisher am Ausgleich von separiert betrachteten
Lebensrisiken orientierte Sozialrecht muss auf das Ziel der Vermeidung
(Prävention) sowie des Ausgleichs von Teilhabebeeinträchtigungen (in
Gesundheit, Beruf, Gesellschaft usw.) ausgerichtet und koordiniert werden.
Im Sozialgesetzbuch IX (Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen - SGB IX) und im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) ist
der Anspruch der Teilhabe nicht nur als Gesetzesziel und -zweck deutlich
geworden. Exemplarisch war und ist die unmittelbare Mitwirkung der Betroffenen
auf gleicher Augenhöhe an der Vorbereitung und in der Umsetzung des Gesetzes.
Die Lehre daraus ist: Wir haben uns zu verabschieden von der Vorstellung,
Gesetze aus der hoheitlichen Perspektive von Exekutive und Legislative machen zu
können. Stattdessen ist der fortwährende Dialog mit den Betroffenen, der
Austausch über ihre Erfahrungen und die Einbeziehung ihrer Kenntnisse eine
wesentliche Voraussetzung, um Reformen in einer sozialen Bürgerrechtspolitik zu
entwickeln und umzusetzen.
Den gleichen Prinzipien folgt jetzt die in Vorbereitung
befindliche Modernisierung des Gesundheitswesens. Sie stellt die Patientinnen
und Patienten in den Mittelpunkt. Ihre Entscheidungsfreiheit wird erweitert,
Patientenquittung und die Einführung einer elektronischen Patientenkarte sorgen
für Transparenz im Dschungel der Angebote, Leistungen und Abrechnungen.
Darüber hinaus sollen z.B. Anreize für gesundheitsbewusstes Verhalten - etwa
Boni für die erfolgreiche Teilnahme an Präventionsprogrammen - gesetzt werden.
Diese und weiter gehende Reformen sind jenseits der festgefahrenen
Interessenegoismen von Ärzten, Krankenhäusern, Kassen usw. fortzuentwickeln,
die Mitwirkungsrechte von Patientinnen und Patienten müssen dauerhaft gestärkt
werden.
These 1:
Teilhabe als Ziel von sozialpolitischer Praxis ist nicht nur
Aufgabe von Gesetzgebung, sondern heißt insbesondere auch die
Mitwirkungsmöglichkeiten von Versicherten und Patienten als Gegengewicht zu den
etablierten Interessen bei der Vorbereitung und Umsetzung von Sozialreform
sicherzustellen.
2. Transparenz
Globalisierung, Ökonomisierung und anonymes Marktgeschehen
sind Entwicklungen, denen mit bürgerrechtlichen Garantien und sozialer
Sicherheit begegnet werden muss. Aber auch die tradierten sozialen
Sicherungssysteme unterliegen der immanenten Gefahr, in großen, anonymen
Organisationen institutionelle Eigeninteressen in den Vordergrund zu stellen und
ihren eigentlichen Auftrag, bürgernah soziale Sicherheit und Daseinsvorsorge zu
leisten, zu vernachlässigen. Sozialpolitik als Emanzipationspolitik aber muss
jegliche bürokratische Darreichungsform sozialstaatlichen Handelns beenden. Das
heißt: Die Interessen der Bürgerinnen und Bürger und die der Institutionen
sind deckungsgleich zu organisieren.
Mitberatungsrechte, Wunsch- und Wahlrechte im SGB IX sind
beispielhafte Elemente, wie individuelle Kompetenz in einem kompetenten System
zum Inhalt sozialpolitischen Handelns wird.
Im Gesundheitswesen wie bei allen Teilhabeleistungen ist es
für alle Beteiligten unverzichtbar, Transparenz über die tatsächlichen
Leistungsinhalte herzustellen. Leitlinien sind dabei nicht nur notwendige
Orientierungsmarken zur wirksamen Ausübung von Selbstbestimmung der
Berechtigten, sondern darüber hinaus Voraussetzung für einen echten Wettbewerb
der Leistungserbringer.
Ein wesentliches Merkmal transparenter Systeme ist die
flächendeckende Einführung externer Qualitätssicherung. Intransparente,
bürokratische Organisationsformen (z.B. Medizinischer Dienst der Krankenkassen)
sollten aufgelöst werden; freie Berufe könnten als Dienstleister für
Gutachten und Qualitätssicherung und Einhaltung in offenen Verfahren mit
vereinbarten Qualitätskriterien gestärkt werden.
Die sozialen Sicherungssysteme müssen die Qualität ihres
Handelns und der Wahrnehmung der ihnen übertragenen Aufgaben daran messen, in
welchem Maße sie im Einzelfall das Ziel jeglicher Gesundheits- und
Sozialpolitik, nämlich die Sicherung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
erreichen können. Der Grundsatz lautet: Die Dienstleistung folgt dem Menschen ,
nicht der Mensch der Dienstleistung.
These 2:
Die Tendenz sozialer Sicherungssysteme zu Anonymität und
Bürokratisierung ist umzukehren zugunsten von Transparenz, Offenheit und
Bürgernähe.
3. Institutionenreform
Die Neuausrichtung auf das Ziel der individuellen Teilhabe
fordert die handelnden Institutionen auf, ihre Interessen wie auch den
inhaltlichen und strukturellen Zuschnitt ihrer Aufgaben vorbehaltlos zur
Disposition zu stellen. Die sozialpolitische Reformdiskussion der nächsten
Jahre hat zur Voraussetzung, dass ohne Aufbrechen von tradierten Strukturen kaum
wirkliche Veränderungen in den inhaltlichen Konzeptionen und in der
administrativen Praxis der großen sozialen Sicherungssysteme zu erreichen sein
werden.
Das Beispiel der schwierigen Reform der Bundesanstalt für
Arbeit zeigt dies ebenso wie die interessenpolitisch und auch mental
begründeten Vorbehalte der Rehabilitationsträger, den Auftrag des SGB IX
anzunehmen, gemeinsam zu handeln und Eigeninteresse zurückzustellen, um den
Zielen Effizienz durch Kooperation und Koordinierung sowie Akzeptanz des
Sozialstaates durch bürgernahes Handeln gerecht zu werden. Die Blockade der
gemeinsamen Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung ist ein
weiteres Beispiel.
Im Gesundheitswesen werden nunmehr die entsprechenden
gesetzlichen Maßnahmen eingeleitet, um u.a. Krankenkassen und
Leistungserbringern mehr Vertragsfreiheiten einzuräumen, die Rolle des
Hausarztes als „Lotse" zu stärken, Gesundheitszentren als integrierte
Versorgungsform möglich zu machen und die Grenzen zwischen ambulanter und
stationärer Versorgung neu zu ziehen. Krankenhäuser sollen für
hochspezialisierte Leistungen in der Ambulanz geöffnet und die integrierte
Versorgung zum Kennzeichen einer modernen Gesundheitsversorgung gemacht werden.
Damit einhergehend und weiterführend ist jedoch eine
umfassende Reform der Institutionen der sozialen Sicherung notwendig, die sich
von ihrer auf Teilrisiken begrenzten Verantwortung lösen und als Modul eines
auf das Kernziel - Teilhabe - ausgerichteten Gesamtsystems begreifen müssen.
Der partikulare Ansatz des gegliederten Systems ist zu ersetzen durch eine
ganzheitliche Ausrichtung von trägerübergreifenden und verbundenen Leistungen.
Insbesondere die von der Selbstverwaltung getragenen
Institutionen und deren Aufgabenstellung sind neu zu überprüfen und ggf. neu
zu definieren, wenn sie aufgrund ihrer Verfahren und ihrer historisch
gewachsenen Strukturen nicht mehr zu der politisch notwendigen bürgernahen
Sozialpolitikpraxis in der Lage sind. Beispiele hierfür sind die
Verwaltungsaufbau der Gesetzlichen Rentenversicherung (Trennung von Arbeiter-
und Angestelltenversicherung; Aufwuchs zentraler Bürokratien); die
Intransparenz von Verfahren (Bundesausschuss Ärzte/ Krankenkassen berät und
entscheidet unter Ausschluss der Öffentlichkeit); bürgerferne
Organisationsentscheidungen der Krankenversicherungen (Einrichtung von
Call-Centern anstelle von - möglicherweise auch gemeinsamer (Beispiel SGB IX) -
Beratungspräsenz in der Fläche).
Schließlich muss die Überwindung bürokratischer
Schnittstellen, etwa durch die Zusammenlegung von Krankenversicherung und
Pflegeversicherung unter den Gesichtspunkten der Effizienz von Verwaltung und
bürgernaher Leistungserbringung, in Angriff genommen werden. Eine Bereinigung
des gegliederten Systems auf drei Zweige (Gesundheitsvorsorge, Altersvorsorge,
Einkommensvorsorge) ist unter der Zielsetzung „Soziale Gerechtigkeit durch
gleichberechtigte Teilhabe" anzustreben.
These 3:
Ohne Aufbrechen überkommener Strukturen sind kaum wirkliche
Veränderungen in den inhaltlichen Konzeptionen und in der administrativen
Praxis der großen sozialen Sicherungssysteme zu erreichen.
4. Strukturmodernisierung
Das Aufbrechen institutioneller Verkrustungen ist
Voraussetzung von inhaltlichen Neuorientierungen. Das SGB IX hat daher erstmals
Kooperation, Koordination und Konvergenz zu Maßstäben sozialen
Leistungsgeschehens gemacht, das seinen Mittelpunkt immer bei den betroffenen
Bürgerinnen und Bürgern und ihrem sozialen Bedürfnis der Teilhabe hat, nicht
aber bei den Institutionen.
Die historisch aus den gesellschaftlichen Verhältnissen des
19.Jahrhunderts begründete ständische Gliederung sozialer Sicherung in
unterschiedliche Versorgungssysteme (gesetzliche Versicherung; private
Versicherung, Beamtenversorgung) ohne eine echte Wahlmöglichkeit für den
Bürger als Versicherungsnehmer entspricht nicht einer aufgeklärten
Zivilgesellschaft. Die hier zu Tage tretende innergesellschaftliche Immobilität
droht zum vorherrschenden Kennzeichen der Entwicklung bzw. der Statik der
deutschen Gesellschaft zu werden. Ähnliche Probleme tun sich auch in anderen
Bereichen, z.B. im Bildungswesen auf. Ständestaatliche Strukturen und
schichtenreproduzierende Institutionen erweisen sich zunehmend als
Reformblockade in der Wettbewerbsgesellschaft.
Schon allein die nach Arbeiter- und Angestelltenzweigen (mit
zusätzlichen Sonderversorgungssystemen) unterscheidende Organisationsform der
gesetzlichen Rentenversicherung widerspricht unseren gesellschaftlichen
Gleichheitsgrundsätzen wie auch den Notwendigkeiten von Effizienz und
Transparenz unter leistungsrechtlich doch identischen Vorgaben. Ähnlich kann
für die GKV festgestellt werden: Die für alle Kassen geltenden Bindung an das
Leistungsrecht, die Praxis des Risikostrukturausgleichs und die richtigerweise
wachsende Bedeutung von Leitlinien und Qualitätssicherung sind mehr als
ausreichend als Beweis der Notwendigkeit der Überwindung des
kasseninstitutionellen Partikularismus von mehr als 350 Krankenkassen.
These 4:
Die ständische Gliederung sozialer Sicherung in
unterschiedliche Versorgungssysteme (gesetzliche Versicherung, private
Versicherung, Beamtenversorgung) ohne eine echte Wahlmöglichkeit entspricht
nicht einer aufgeklärten Zivilgesellschaft und ist zu überwinden.
5. Gestaltungszusammenhang
So wie die Handlungsfelder des Sozialstaates (Arbeitsmarkt,
Bildung, Gesundheit, Pflege, Rente, Familie, usw.) als seine konstitutiven
Bestandteile miteinander verbunden sind, müssen auch die Formulierung von
Politikzielen, die Durchsetzung von Strategien und die Verwirklichung von
Reformen in der sozialpolitischen Praxis mit korrespondierenden Konzepten
gestaltet werden. Dies gilt insbesondere für die Politik der sozialen
Sicherung, die hier im Vordergrund steht.
Es muss erkennbar werden, inwieweit Perspektivwechsel (z.B.
das Maß der Eigenverantwortung; die Hereinnahme marktwirtschaftlicher Elemente)
in den Systemen Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung,
Arbeitslosenversicherung einer gemeinsamen Strategie und einem
zusammenhängenden Denkansatz entspringen. Strukturreformen, die sich nur auf
einen Sozialversicherungszweig beziehen, verschärfen eher die Krise des
Sozialversicherungssystems, anstatt ihr entgegenzuwirken.
Die Filettierung sozialer Biographien, d.h. eine Praxis, die
den Menschen als Leistungsempfänger nach dem institutionellem Eigeninteresse in
einzelne Leistungstatbestände zerlegt, anstelle vom individuellen
Leistungsbedarf auszugehen, der von den sozialen Sicherungssystemen gemeinsam -
unter Einbeziehung des Betroffenen! - erbracht wird, zerstört die Akzeptanz des
Sozialstaates insgesamt. Maßstab für die Ausgestaltung sozialer Leistungen ist
deshalb das mit der Leistung im Sinne gleichberechtigter Teilhabe verfolgte Ziel
und der sich daraus ergebende Leistungsbedarf. Mit dieser Zielsetzung können
die verfügbaren Ressourcen wesentlich wirksamer und damit kostengünstiger
eingesetzt werden.
In der Konzeption und der Umsetzung des SGB IX -
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - wurde gerade von den
Betroffenen begrüßt, dass mit dem Gesetz die systemimmanente Tendenz der
Abgrenzung in der gegliederten sozialen Sicherung angegangen und inhaltlich
(Verabredung gemeinsamer Empfehlungen z.B. über Leistungsinhalte und
Qualitätssicherung) wie institutionell (Schaffung gemeinsamer Servicestellen
der Reha-Träger) deren Überwindung verankert wurde.
These 5:
ie in der Regierungstätigkeit wie im gegliederten System
vorhandenen Trennungen von Verantwortlichkeiten für unterschiedliche Zweige der
Sozialen Sicherung sind zugunsten einer gemeinsamen Strategie und eines
übereinstimmenden, ganzheitlichen Denkansatzes in der Sozialpolitik aufzuheben.
6. Selbstbewusstsein
Eine sozialpolitische Reformdiskussion voranzutreiben, die
inhaltliche und institutionelle Paradigmenwechsel verbindet, sie
ergebnisorientiert zu moderieren und darauf aufbauend Entscheidungen zu treffen,
erfordert Klarheit über eigene Positionen und Zielvorstellungen, Fähigkeit zur
Gestaltung offener Diskussions- und Gesetzgebungsprozesse und Mut in der
Auseinandersetzung mit etablierten Institutionen und Interessen.
Gerade bei notwendigen Debatten um die Finanzbedingungen muss
immer als klare Botschaft erkennbar sein, dass sozialpolitische Konzeptionen
ihren Ausgangspunkt nicht in der Durchsetzung ausschließlich finanzpolitischer
Vorgaben haben. Finanzpolitik und Versicherungsmathematik dürfen Sozialreform
nicht in Geiselhaft nehmen. Stattdessen lautet die Zielvorgabe „Stärkung der
Qualität der Dienstleistung soziale Sicherheit". Nur auf solchen
Grundlagen und mit einem breiten gesellschaftlichen Bündnis, das die
Versicherten als Partner begreift und ihre aktive Beteiligung sicherstellt,
werden wirkliche sozialpolitische Reforminhalte entwickelt und durchgesetzt
werden können.
These 6:
Sozialpolitikreform muss mit Selbstbewusstsein und Klarheit
über eigene Positionen und Ziele der Tendenz entgegentreten, finanzpolitische
und versicherungsmathematische Überlegungen zum konzeptionellen Ausgangspunkt
sozialer Politik zu machen.
7. Anpassungsfähigkeit
Die Sozialpolitik und ihre Institutionen leisten
Daseinsvorsorge, garantieren soziale Sicherheit und stiften gesellschaftliche
Gerechtigkeit. Diese Aufgaben haben sie angesichts von Entwicklungen wie
demographischer Wandel, Veränderung von Morbiditätsstrukturen, Vielfältigkeit
von Lebensentwürfen, unterbrochene Erwerbsbiographien usw. zu leisten, wobei
gesellschaftliche Entwicklungen und ökonomische Prozesse sich in wachsender
Dynamik entfalten. Für Deutschland als demokratisch und sozial verfasste
Gesellschaft ist die Bewältigung dieser Aufgabenstellung gleichbedeutend mit
der Aufforderung zur dauerhaften Sozialreform unter der Zielvorgabe, langfristig
gesicherte Perspektiven und zeitnahe Anpassungsfähigkeit gleichermaßen zu
Kernprinzipien sozialer Sicherungssysteme und der sie tragenden Institutionen zu
machen. Die Entwicklung der sozialen Sicherung und ihrer Institutionen selbst
muss zum Kennzeichen gesellschaftlichen Wandels werden.
Sozialpolitische Reformfähigkeit entscheidet sich nur zum
Teil in dem konkreten Beschluss über ein Projekt (Rentenreform,
Gesundheitsreform). Das entscheidende Kriterium ist jedoch die Alltagspraxis
gesetzlicher Regelungen. Das bedeutet: Es ist notwendig, den Prozesscharakter in
der Gesetzgebung als ein von Beginn an angelegtes und gesteuertes Verfahren des
Lernens und Weiterentwickelns zukünftige Handlungs- und
Entscheidungsspielräume zu entwickeln: Das Ziel heißt „lernende
Gesetzgebung".
These 7:
Soziale Reformpolitik muss von Beginn an über
Einzelmaßnahmen hinausreichen und als gesteuertes Verfahren des Lernens und
Weiterentwickelns auf gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen eine
Antwort geben.
8. Akzeptanz
Sozialpolitik definiert sich somit als notwendiger Prozess, um
nach innen politische Legitimation zu behaupten und nach außen im
wirtschaftlichen Wettbewerb zu bestehen. Gelingt Sozialpolitikreform in diesem
Sinne, bietet sie einen aktivierenden Beitrag zur Weiterentwicklung des
europäischen Sozialmodells und zugleich eine tragfähige Antwort auf
Globalisierungsherausforderungen.
Sozialpolitik als Prozess verlangt immer wieder von neuem die
Prüfung,
- ob die Strukturen sozialpolitischen Handelns eine wirksame
und in die Zukunft tragfähige Antwort auf die ökonomische Entwicklung bereit
halten,
- welches die Risiken sind, denen sich die Menschen in unserer
Gesellschaft gegenübersehen,
- welche Erwartungen sie für sich in ihrer Eigenverantwortung
und für das gesellschaftliche Handeln haben und
- mit welchen Mitteln eine neue Sozialpolitik darauf reagieren
kann.
Nur wenn Sozialpolitik diese Prüfung immer wieder ernsthaft
vornimmt, erhält sie die notwendige Akzeptanz und Unterstützung.
These 8:
Sozialpolitik als Prozess zu organisieren ist notwendige
Voraussetzung, um inhaltliche und strukturelle Reformen dauerhaft durchzusetzen
und die Akzeptanz des Sozialstaates und seiner Institutionen zu sichern.
9. Steuerungskompetenz
Die Formulierung von Sozialpolitik als Prozess steht dabei in
einem mehrdimensionalem Spannungsfeld, dessen Kristallisationspunkte Regierung
und Parlament, Versicherte / Patienten und Interessengruppen, Länder und
Kommunen sind. In der Organisation von politischen Projekten besteht eine
wesentliche Aufgabe darin, in diesem Spannungsfeld Übereinstimmungen
herzustellen, Kompetenzbündnisse zu schließen und Synergien zu begründen.
Abgrenzungen, etwa Ressortzuständigkeiten, die aus ganz anderen Begründungen
gezogen werden, können sich gerade dann als hinderlich erweisen, wenn es darum
geht, sozialpolitische Gesetzesvorhaben, die nur in übergreifenden
Zusammenhängen zu gestalten und umzusetzen sind, als Gesamtkonzept zu
erarbeiten.
Sozialreform muss als ressortübergreifende Kernaufgabe der
Regierung insgesamt definiert und von der administrativen Tagesarbeit gelöst
werden. Der Primat der Politik und das verfassungsgemäße Verfahren ist
sicherzustellen. In der Umsetzung aber müssen große Reformvorhaben durch
Lenkungsgruppen (z.B. Exekutive von Bund und Ländern und parlamentarische
Mandatsträger als Mitglieder; Vertreter von Betroffenen und von
Interessengruppen sowie Sachverständige werden hinzugezogen) gesteuert werden,
deren Aufgabe darin besteht, Abstimmungsprozesse zu koordinieren und die
politische Entscheidung zu begleiten. Die schwierige Umsetzung von Reformen wie
der Einführung der Pflegeversicherung oder der Neuausrichtung der Bundesanstalt
für Arbeit unterstreichen diese Notwendigkeit.
These 9:
Sozialreform als Regierungsaufgabe muss aus der
administrativen Alltagspraxis gelöst und ressortübergreifend gesteuert werden.
0. Nachhaltigkeit
Die Aufgabenverteilung und die Umsetzung der gesetzlichen
Vorgaben im subsidiär organisierten Sozialstaat müssen auch in das Blickfeld
geraten, wenn es darum geht, Nachhaltigkeit in der lernenden Gesetzgebung
organisieren. Die Prozesshaftigkeit von sozialpolitischer Reformentwicklung ist
auch inhaltlich und institutionell in jeder Phase aufzugreifen.
So enthält das SGB IX den gesetzlichen Auftrag der
wissenschaftlichen Begleitforschung und der zeitnahen Berichterstattung über
die Umsetzung des Gesetzes, um den durch die Verabschiedung des Gesetzes
eingeleiteten Prozess der Neuausrichtung in einem wesentlichen Handlungsfeld des
Sozialstaates (Prävention, Rehabilitation und Teilhabe) im Austausch mit allen
Beteiligten und unter Nutzung der gewonnenen Evaluationsergebnisse vorantreiben
zu können.
Kein Vorhaben der Sozialreform kann ohne geregeltes,
wissenschaftlich fundiertes und institutionell verankertes Verfahren der
Überprüfung von Wirksamkeit und Zielsetzung durchgeführt werden. Die
Steuerung dieses Prozesses kann einer Lenkungsgruppe in Fortführung der
Aufgabenstellung aus der Phase der Gesetzesimplementierung übertragen werden,
darüber hinaus ist auch die Neuformulierung des gesetzlichen Auftrages des
Bundesversicherungsamtes ins Auge zu fassen.
These 10:
Nicht die Formulierung und die Verabschiedung von Gesetzen
entscheiden über die Lebenswirklichkeit der Betroffenen, sondern ihre
Umsetzung, die daher einer engen, gesetzlich verankerten Supervision und
Evaluation bedarf.
IV. Zehn Thesen im Überblick
1. Teilhabe: Teilhabe als Ziel von sozialpolitischer Praxis
ist nicht nur Aufgabe von Gesetzgebung, sondern heißt insbesondere auch
Mitwirkungsmöglichkeiten von Versicherten und Patienten als Gegengewicht zu den
etablierten Interessen bei der Vorbereitung und Umsetzung von Sozialreform
sicherstellen.
2. Transparenz: Die Tendenz sozialer Sicherungssysteme zu
Anonymität und Bürokratisierung ist umzukehren zugunsten von Offenheit und
Bürgernähe.
3. Institutionenreform: Ohne Aufbrechen überkommener
Strukturen sind kaum wirkliche Veränderungen in den inhaltlichen Konzeptionen
und in der administrativen Praxis der großen sozialen Sicherungssysteme zu
erreichen.
4. Strukturmodernisierung: Die ständische Gliederung sozialer
Sicherung in unterschiedliche Versorgungssysteme (gesetzliche Versicherung,
private Versicherung, Beamtenversorgung) ohne eine echte Wahlmöglichkeit
entspricht nicht einer aufgeklärten Zivilgesellschaft und ist zu überwinden.
5. Gestaltungszusammenhang: Die in der Regierungstätigkeit
wie im gegliederten System vorhandenen Trennungen von Verantwortlichkeiten für
unterschiedliche Zweige der Sozialen Sicherung sind zugunsten einer gemeinsamen
Strategie und eines übereinstimmenden, ganzheitlichen Denkansatzes in der
Sozialpolitik aufzuheben .
6. Selbstbewusstein: Sozialpolitikreform muss mit
Selbstbewusstsein und Klarheit über eigene Positionen und Ziele der Tendenz
entgegentreten, finanzpolitische und versicherungsmathematische Überlegungen
zum konzeptionellen Ausgangspunkt sozialer Politik zu machen.
7. Anpassungsfähigkeit: Soziale Reformpolitik muss von Beginn
an über Einzelmaßnahmen hinausreichen und als gesteuertes Verfahren des
Lernens und Weiterentwickelns auf gesellschaftliche Entwicklungen und
Herausforderungen eine Antwort geben.
8. Akzeptanz: Sozialpolitik als Prozess zu organisieren ist
notwendige Voraussetzung, um inhaltliche und strukturelle Reformen dauerhaft
durchzusetzen und die Akzeptanz des Sozialstaates und seiner Institutionen zu
sichern.
9. Steuerungskompetenz: Sozialreform als Regierungsaufgabe
muss aus der administrativen Alltagspraxis gelöst und ressortübergreifend
gesteuert werden.
10. Nachhaltigkeit: Nicht die Formulierung und die
Verabschiedung von Gesetzen entscheiden über die Lebenswirklichkeit der
Betroffenen, sondern ihre Umsetzung, die daher einer engen, gesetzlich
verankerten Supervision und Evaluation bedarf.
Quelle: Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen
http://www.behindertenbeauftragter.de
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