Nach Vorlage eines Versicherungsausweises verordnete
physiotherapeutische Leistungen muss die gesetzliche Krankenversicherung vergüten
Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn zum Zeitpunkt der
Leistungserbringung kein Krankenversicherungsverhältnis zu einer Krankenkasse der
gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Die Krankenkasse hat die Leistungen einer
Physiotherapeutin (Krankengymnastin) zu vergüten, die diese im Vertrauen auf das Bestehen
eines Versicherungsverhältnisses erbracht hat. So entschied es das Bundessozialgericht
(BSG) mit Urteil vom 14.4.1996 -Az.: 3 RK 19/95- (Quelle: Deutsche Hebammen
Zeitschrift 11/1996).
Es ging in dem Sozialrechtsstreit im wesentlichen um folgenden Sachverhalt:
Ein Vertragsarzt hatte bei einer Patientin nach Vorlage eines Versicherungsausweises
(Krankenschein) der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK; Beklagte) physiotherapeutische
Leistungen verordnet. Die daraufhin von einer Physiotherapeutin (Klägerin) erbrachten
Leistungen wurden der AOK in der üblichen Weise in Rechnung gestellt. Die Kasse
verweigerte aber die Vergütung mit der Begründung, im Zeitpunkt der Leistungserbringung
habe kein Versicherungsverhältnis mehr zu der Patientin bestanden. Der daraufhin in Gang
gebrachte Vergütungsstreit wurde in letzter Instanz vom BSG entschieden. Die AOK wurde
mit Rücksicht auf den Vertrauensschutz zur Zahlung der Vergütung verpflichtet.
Aus den Gründen des Urteils:
1. Heilmittel, zu denen auch die krankengymnastischen Maßnahmen zählen, sind als
Bestandteil der Krankenbehandlung (27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, §§ 32 und 34 SGB V) wie diese
als Sachleistung (§ 2 Abs. 2 SGB V) zu erbringen. Dementsprechend gehen auch § 125 SGB V
und die dazu geschlossenen Verträge davon aus, dass der Versicherte die vom
Leistungserbringer unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verschreibung erworbenen
Heilmittel und die erbrachten Heilmaßnahmen auf Kosten seiner Krankenkasse erhält, d.h.
die Krankenkasse wird vertraglich zur Zahlung des Preises bzw. des Festpreises abzüglich
etwaiger vom Versicherten zu tragenden Zuzahlungen verpflichtet. Demgemäß regeln die
Verträge die von der Krankenkasse an den Heilmittelerbringer zu leistenden Zahlungen.
Nach § 125 SGB V sind die Beziehungen der Krankenkassen zu den Heilmittelerbringern
vertraglich zu gestalten. Die Versorgung der Versicherten mit Heilmitteln wird im Wege der
vertragsärztlichen Versorgung durchgeführt (§ 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V). Das bedeutet,
dass ein Heilmittel nur dann auf Kassenkosten gewährt werden kann, wenn es ein
Vertragsarzt auf dem hierfür vorgesehenen Formblatt ("Kassenrezept") verordnet
hat (BSGE 73, 271,277). Der Vertragsarzt kann somit als "Schlüsselfigur" der
Heil-, Hilfs- und Arzneimittelversorgung bezeichnet werden. Er verordnet dem Versicherten
ein bestimmtes Heilmittel, welches er bei der diagnostizierten Krankheit oder Verletzung
als medizinisch notwendig erachtet. Bei Ausstellung dieser Verordnung handelt er kraft der
ihm durch das Kassenarztrecht verliehenen Kompetenzen als Vertreter der Krankenkasse. Er
gibt somit mit Wirkung für und gegen diese eine Willenserklärung ab. Es handelt sich
mithin um einen zwischen der Krankenkasse und dem Heilmittelerbringer - unter Einschaltung
des Vertragsarztes als Vertreter der Krankenkasse - geschlossenen Vertrag zu Gunsten des
Versicherten (so bereits Urteil des erkennenden Senats vom 17.1.1996 - 3 RK 26/94 - für
Vergütungsansprüche von Apothekern). Der Vergütungsanspruch des Heilmittelerbringers
richtet sich unmittelbar gegen die Krankenkasse.
Das Landessozialgericht hat die Vereinbarung in Verbindung mit dem generellen Verzicht der
Beklagten auf eine vorherige Kostenübernahmeerklärung dahingehend ausgelegt, dass der
Versicherte gegenüber dem Heilmittelerbringer durch die vertragsärztliche Verordnung
legitimiert werde, eine Leistung auf Kosten der Krankenkasse in Anspruch zu nehmen. Der
Heilmittelerbringer dürfe auf diese Legitimation vertrauen.
2. Das Sozialgesetzbuch V enthält keine Regelung, nach der das Ende der
Mitgliedschaft im Sinne des § 19 SGB V auf den Sachleistungsanspruch des Versicherten in
der Weise durchschlägt, dass die Belieferung mit einem Heilmittel nicht mehr auf Kosten
der Krankenkasse erfolgen darf, und das SGB V verpflichtet die Landesverbände auch nicht,
eine solche Regelung mit den Heilmittelerbringern vorzusehen. Nach den Vorschriften des
SGB V über das Sachleistungsprinzip ist es die Aufgabe der Krankenkassen, in Verträgen
zu regeln, in welcher Form sich der Versicherte als Bezugsberechtigter ausweist. Das
Gesetz sieht dazu nur den Krankenschein und - seit dem 1. Januar 1995 allein maßgebend -
die Krankenversicherungskarte vor (§§ 15 Abs. 2, 291 SGB V). Ist eine solche
Legitimation zeitlich nicht befristet, so gilt der allgemeine Rechtsgedanke der §§ 170,
172 und 409 BGB über die vertrauensschützende Wirkung einer Vollmacht bzw. einer
Abtretungsanzeige. Diese Regelung entspricht auch hier der Interessenlage. Der Anbieter
hat grundsätzlich keine Möglichkeit, sich vor Schaden zu bewahren. Die Krankenkasse
steht den Daten über Bestand, Umfang und Ende der Mitgliedschaft eines Patienten näher.
Soweit die Beklagte in diesem Zusammenhang auf die nicht selten verspätet erfüllte
Meldepflicht oder gar unterbliebene Meldung der Arbeitgeber und der Versicherten über
mitgliedschaftsrelevante Tatsachen verweist, vermag sie dies nicht zu entlasten. Denn
diese Umstände betreffen nur das Verhältnis der Krankenkasse zu ihren Versicherten,
nicht aber das hier betroffene Verhältnis der Krankenkassen zu den Ärzten und
nichtärztlichen Leistungserbringern.
§ 19 SGB V steht einer Regelung über die Frage der Vergütungspflicht der Krankenkassen
bei der Leistungserbringung zu Gunsten ehemaliger Versicherter nicht entgegen, sondern
begründet im Gegenteil den Bedarf für eine solche Regelung. Anbieter von
Dienstleistungen können sich im Allgemeinen vor dem Risiko des vollständigen oder
teilweisen Ausfalls der vom Auftraggeber geschuldeten Gegenleistung schützen, z.B. durch
Leistungserbringung nur gegen vollständige Vorauszahlung des Preises (Vorkasse) oder
Vorschussleistung. Diese Sicherungsmöglichkeiten stehen den Betroffenen bei der
ärztlichen Behandlung und der nichtärztlichen Leistungserbringung, soweit sie nach dem
Sachleistungsprinzip erfolgen und ein Krankenschein bzw. eine Krankenversichertenkarte
vorgelegt worden ist (§§ 15 Abs. 2, 291 SGB V) nicht zur Verfügung. Der
Vergütungsanspruch richtet sich dort grundsätzlich nur gegen die Krankenkasse. Soweit
der Versicherungsschutz durch die Krankenkassen besteht, ist der Wegfall vorgenannter
Sicherungsmöglichkeiten sachgerecht und unschädlich. Dem Leistungserbringer ist diese
Situation jedoch nicht zuzumuten, wenn er einerseits wegen Sachleistungsprinzips z.B. auf
eine Vorschußzahlung verzichten muss, er aber andererseits keinen Vergütungsanspruch
gegen die Krankenkassen besitzt, da der behandelte Patient keinen Versicherungsschutz
genießt, was der Leistungserbringer aber nicht gewusst hat und auch nicht wissen konnte
und der Patient nicht zahlt.
Der nicht versicherte Patient, der dem Arzt den Krankenschein überreicht hat, wird sowohl
bei eigener Gutgläubigkeit hinsichtlich bestehenden Versicherungsschutzes als auch bei
vorsätzlicher Täuschung über den Versicherungsschutz als auch bei vorsätzlicher
Täuschung über den Versicherungsschutz dem Heilmittelerbringer keine anderen Auskünfte
als dem Arzt geben und Versicherungsschutz auf jeden Fall bejahen. Die Gefahr der
missbräuchlichen Ausstellung eines Krankenscheins wurde zudem dadurch stark erhöht, dass
die Krankenkassen, ebenfalls aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung, seit langem dazu
übergegangen waren, ihren Versicherten Krankenscheinhefte zu übergeben, die mehrere - im
Bedarfsfall jeweils für ein Vierteljahr auszustellende - Krankenscheine enthielten und
bei Ende der Mitgliedschaft von den Versicherten mitunter nicht oder verspätet
zurückgegeben wurden. Eine solche Gefahr besteht seit der Einführung der
Krankenversichertenkarte jedenfalls in dieser Form nicht mehr. Aber auch bei ihr gibt es
bei Ende der Mitgliedschaft des Versicherten die Gefahr missbräuchlicher Verwendung.
Dieser Sachlage haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesverbände der
gesetzlichen Krankenkassen im Bundesmantelvertrag-Ärzte vom 28. September 1990 für den
Bereich der kassenärztlichen Versorgung Rechnung getragen und das Vergütungsrisiko
folgerichtig den Krankenkassen auferlegt. Endet die Anspruchsberechtigung eines
Versicherten bei seiner Krankenkasse im Lauf eines Behandlungsfalles, ohne dass dies dem
Kassenarzt bei der Behandlung bekannt wird, so hat die Krankenkasse die Vergütung für
die bis zum Zeitpunkt der Unterrichtung des Kassenarztes erbrachten Leistungen zu
entrichten. Für Kosten einer Behandlung, die aufgrund eines zu Unrecht ausgestellten
Krankenscheines erfolgte, haftet die Krankenkasse dem Arzt gegen Abtretung seines
Vergütungsanspruchs. Für den Fall der missbräuchlichen Verwendung einer
Krankenversichertenkarte, die den Krankenschein ersetzt hat, sieht der jetzt gültige
BMV-Ä vom 19.12.1994 in § 19 Abs. 7 eine vergleichbare Regelung zu Gunsten der
Vertragsärzte vor. Auch der Bundesmantelvertrag-Zahnärzte enthält in § 8 Abs. 7 eine
entsprechende Regelung.
Auch die Materialien des Gesundheitsreformgesetzes bestätigen, dass § 19 SGB V den
Vertrauensschutz nicht ausschließt, sondern erfordert, und dass insoweit die
Krankenversichertenkarte dem Vertrauensschutz des Arztes dient. Dazu heißt es u.a.
(Bundestagsdrucksache 11/3480 S 68-69): Ebenso wie derzeit in Fällen einer
missbräuchlichen Verwendung von Krankenscheinen obliegt es den Krankenkassen, gegen eine
missbräuchliche Verwendung von Krankenversichertenkarten - etwa nach Beendigung des
Versicherungsschutzes - vorzugehen.
Werner Schell (26.12.1996)
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