Pflege - Patientenrecht & Gesundheitswesen
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Hinweis: Seit dem 1.1.2001 gilt das Infektionsschutzgesetz (IfSG)
Die Überwachungspflicht nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) durch
das Gesundheitsamt beschränkt sich auf die Prüfung des Auftretens oder Wiederauftretens
der im Bundesseuchengesetz genannten Krankheiten
Dem öffentlichen Gesundheitsdienst (Gesundheitsamt) obliegt nach den
Vorschriften des Infektionschutzrechtes in umfassender Weise die Aufgabe der Verhütung
und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen. Die insoweit maßgebliche
Rechtsgrundlage ist das Bundesseuchengesetz - BSeuchG - (FN. Nr. 1).
Danach obliegen dem amtsärztlichen Dienst näher umschriebene, dem Wohl der Allgemeinheit
dienende Kontrollaufgaben. Ob allerdings dem amtsärztlichen Dienst in diesem Zusammenhang
auch Amtspflichten hinsichtlich des Schutzes von Individualinteressen obliegen, kann
unterschiedlich eingeschätzt werden. Das Oberlandesgericht (OLG) war in einer
Amtshaftungsstreitsache der Meinung, dass der amtsärztliche Dienst im Wesentlichen allein
dem Allgemeinwohl zu dienen habe mit der für eine kranke Frau verheerenden Folge, dass
sie für einen erkennbar gewesenen - aber schlicht übersehenen - Befund keinen
Schadensersatz erhielt. Wäre diese Panne einem nicht im öffentlichen Dienst tätigen
Arzt passiert, hätte es anhand der bislang von der Rechtsprechung entwickelten
Haftungsgrundsätze eine Entschädigung gegeben. Wahrscheinlich wäre es sogar zu einer
Umkehr der Beweislast gekommen, weil die näheren Einzelumstände schon auf einen groben
Fehler hindeuteten.
Der Fall: Eine 1952 geborene Frau litt im Frühjahr 1982 unter einer
Lungentuberkulose. Sie meldete sich daraufhin im März 1982 beim zuständigen
Kreisgesundheitsamt, wo am 31.03.1982 eine vorwiegend rechtsseitige produktive
Lungentuberkulose mit einem haselnussgrossen Rundherd im rechten Oberfeld festgestellt
wurde. In der Folgezeit musste sich die Frau (auf Grund der einschlägigen Vorschriften im
Bundesseuchengesetz) regelmäßig beim Kreisgesundheitsamt melden, um durch Röntgenuntersuchungen
feststellen zu lassen, dass die Tuberkulose sich nach einer Behandlung nunmehr inaktiv
verhalte. Bis zur Kontrolluntersuchung am 07.03.1991 wurden seitens des
Kreisgesundheitsamtes keine Anhaltspunkte für eine Reaktivierung der Tuberkulose
dokumentiert. Tatsächlich zeigten aber die zuletzt gefertigten Röntgenaufnahmen
Veränderungen, die auf das Vorliegen eines Emphysems hindeuteten. Diese Veränderungen
wurden von der tätig gewordenen Amtsärztin nicht erkannt. Auf Grund eines bei der Frau
im April 1992 aufgetretenen Pneumothorax der linken Lunge wurden zahlreiche ambulante und
stationäre Behandlungsmaßnahmen erforderlich. Aus einem am 22.06.1992 gefertigten
Arztbericht ergibt sich u.a., dass sich bei einer am 19.01.1989 im Kreisgesundheitsamt
gefertigten Lungenaufnahme eine wahrscheinlich traktionsbedingte Bulla links abzeichnete,
die dann in den folgenden Aufnahmen von 1990 - 1992 größer wurde. Im August 1992 wurde
bei einer Lungenoperation eine Emphysemblasenabtragung vorgenommen. Danach war die Frau
über mehrere Jahre wegen Erwerbsunfähigkeit berentet. Sie forderte von dem Kreis die
Zahlung eines Schmerzensgeldes und Ersatz des materiellen Schadens und trug vor, dass die
tätig gewordene Amtsärztin ihre Amtspflichten verletzt und falsch befundet habe. Die von
der Frau beim Landgericht (LG) Düsseldorf eingereichte Klage wurde abgewiesen (FN.
Nr. 2). Die anschließend erhobene Berufung war beim OLG Düsseldorf ebenfalls
erfolglos: Die Berufung wurde mit Urteil des OLG Düsseldorf vom 30.09.1999 - 8 U 7/99 -
zurückgewiesen (FN. Nr. 3).
Entscheidungsgründe: Der erkrankten Frau (Klägerin) stünden keine
Ersatzansprüche nach den §§ 839, 847 BGB, Art. 34 GG zu. Eine Amtshaftung komme nur in
Betracht, wenn die verletzte Amtspflicht dem Schutz von Individualinteressen diene und
nicht lediglich die Belange der Allgemeinheit oder des Staates im Auge habe. Nur wenn sich
aus den die Amtspflicht begründenden und sie umschreibenden Bestimmungen sowie aus der
Natur des Amtsgeschäftes ergebe, dass gerade das im Einzelfall berührte Interesse des
Geschädigten geschützt oder gefördert werden solle, bestehe ihm gegenüber bei
schuldhafter Pflichtverletzung des Amtsträgers eine Schadensersatzpflicht. Das Bundesseuchengesetz
sei zunächst darauf ausgerichtet, Gefahren, die der Allgemeinheit aus der Übertragung
bestimmter Krankheiten drohen, abzuwenden (Verhütungsmaßnahmen nach § 10 Bundesseuchengesetz). Auch
die Überwachung durch Untersuchungen (Schutzmaßnahmen nach § 36 Bundesseuchengesetz) habe die
Verhütung einer Ansteckung dritter Personen im Auge. Zugleich sei aber auch der Erkrankte
in den Schutzbereich der Überwachung mit einbezogen, ob die Krankheit, derentwegen er
überwacht wird, erneut ausgebrochen ist und er einer Heilbehandlung zugeführt werden
muss (Folgerung aus § 10 Bundesseuchengesetz). Dies sei eine Selbstverständlichkeit; der Erkrankte
dürfe über einen Wiederausbruch seiner Krankheit nicht im Unklaren gelassen werden. Aus
dieser Schutzpflicht gegenüber dem überwachten Patienten könne indes keine Amtshaftung
wegen der Nichtentdeckung anderer Erkrankungen abgeleitet werden. Es sei in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass Amtspflichten je nach dem zu
schützenden Interesse ein und derselben Person gegenüber in der Weise
"aufgespalten" sein können, dass in einer gewissen Beziehung der Schutz eines
Einzelnen bezweckt wird, in anderer Hinsicht dagegen nicht. Die Überwachungspflicht des
Gesundheitsamtes beschränke sich auf die Prüfung des Auftretens oder Wiederauftretens
der im Bundesseuchengesetz genannten Krankheiten; die regelmäßige Untersuchung nach § 36 Bundesseuchengesetz
diene dagegen nicht einer allgemeinen Gesundheitsvorsorge des von einer der im Bundesseuchengesetz
aufgeführten Krankheiten Betroffenen. Die Amtsärztin habe daher ihr Augenmerk bei der
Auswertung der Röntgenbilder nur darauf zu richten brauchen, ob sich bei der Frau
Anzeichen für eine neue Aktivität der Tuberkulose ergaben. Ihre Aufgabe sei es nicht
gewesen, darauf zu achten, ob sich aus diesen Röntgenaufnahmen Anzeichen für eine
anderweitige Erkrankung der Lunge ergaben, oder die Tuberkulose zu solchen anderweitigen
Erkrankungen geführt habe. Ihr oblag nicht die allgemeine Überwachung der Frau auf
Lungenfunktionsstörungen. Die Überprüfung nach § 36 Bundesseuchengesetz wolle dem zu
Untersuchenden nicht die eigenverantwortliche Sorge um seine Gesundheit abnehmen; vielmehr
ergebe sich aus der Zweckbezogenheit der Überwachung auf ganz bestimmte Krankheiten hin,
dass die vom Gesundheitsamt vorzunehmenden Untersuchungen nicht darauf angelegt seien,
eine Verlässlichkeitsgrundlage für das Nichtvorliegen sonstiger Erkrankungen zu
schaffen. An der Zweckbezogenheit ändere auch die Tatsache nichts, dass im Falle der Frau
wiederholte Untersuchungen stattgefunden hätten. Der Kreis hafte auch nicht aus dem
Gesichtspunkt eines sog. Amtsmissbrauchs. Ein "Amtsmissbrauch" im Sinne der
Rechtsprechung wäre der Amtsärztin zur Last zu legen, wenn sie einen Verdacht auf einen
beginnenden Pneumothorax festgestellt und die Frau darüber nicht aufgeklärt hätte. Ein
Amtsarzt dürfe eine untersuchte Person - gleichgültig aus welchem Anlass und zu welchem
Zweck dieses Untersuchung vorgenommen werde - über eine erkannte Gesundheitsgefahr
grundsätzlich nicht im Unklaren lassen. Täte er dies, würde er sich bei seiner
Amtsausübung in Widerspruch mit der Forderung von Treu und Glauben und guter Sitte setzen
und damit amtsmissbräuchlich handeln. Die Verpflichtung, sich jedes Amtsmissbrauchs zu
enthalten, obliege dem Amtsträger unabhängig von der Natur des jeweiligen
Amtsgeschäftes gegenüber jedem, der durch den Missbrauch geschädigt werden könnte.
Eine solche Fallgestaltung liege jedoch nicht vor. Die Frau habe auch selbst nicht
behauptet, dass die Amtsärztin anlässlich der Auswertung der Röntgenunterlagen eine ihr
drohende Gesundheitsgefahr erkannt hätte; sie berufe sich vielmehr gerade darauf, dass
die Ärztin einen solchen Schluss aus den Röntgenbefunden nicht gezogen habe. Ob die
Amtsärztin bei der Befundung der Röntgenbilder der Frau einen Verdacht auf einen
beginnenden Pneumothorax grob fehlerhaft nicht erkannt habe, könne dahinstehen. Denn eine
solche Verkennung von Anzeichen für eine - andere - Erkrankung rechtfertige mit Blick
darauf, dass die Ärztin ihr Augenmerk nach dem Zweck der Untersuchung nur auf die Frage
des Vorliegens einer Tuberkulose zu richten hatte, noch nicht das Unwerturteil eines
Amtsmissbrauchs.
Fußnotentext:
(1) Eine zur Zeit dem Deutschen Bundestag vorliegende Gesetzesnovelle sieht vor,
Bundesseuchengesetz und Geschlechtskrankheitengesetz zu einem neuen modernen
Infektionsschutzgesetz zusammenzufassen. Mit dem Inkrafttreten dieses neuen Gesetzes ist
zum 01.01.2001 zu rechnen.
(2) Urteil des LG Düsseldorf vom 19.11.1998 - 3 O 198/98 -
(3) Das OLG Düsseldorf bemerkte, dass die Voraussetzungen für eine Zulassung der
Revision nicht gegeben seien. Damit erlangte die Entscheidung Rechtskraft!
Die gerichtlichen Feststellungen hinsichtlich der sehr eingegrenzten Aufgabenstellung des
ärztlichen Dienstes im Gesundheitsamt erscheinen höchst fragwürdig. Man konstatiert
letztlich ein Recht der tätig gewordenen Amtsärztin, einen Krankheitsbefund folgenlos
übersehen zu dürfen. Hier liegen die Richter wohl völlig daneben. Die Aufgaben eines
Arztes definieren sich immer auf der Grundlage aller einschlägigen Rechtsvorschriften.
Dazu gehören nicht nur, wie im vorliegenden Fall, die seuchenrechtlichen Vorschriften,
sondern auch z.B. die Bundesärzteordnung (BÄO), das Gesetz über den öffentlichen
Gesundheitsdienst des Landes Nordrhein-Westfalen (ÖGDG) und die Grundsätze der im Juni
1999 von der Gesundheitsministerkonferenz der Länder verabschiedeten Patienten-Charta
(abrufbar in der Rubrik "Patientenschutz" dieser Homepage). Danach ist es
schlicht Aufgabe eines jeden Arztes, Krankheiten zu erkennen, zu heilen bzw. zu lindern
und, vor allem im öffentlichen Gesundheitsdienst, umfassend Gesundheitshilfe zu leisten.
"Diese Gesundheitshilfe ist darauf gerichtet, gesundheitliche Beeinträchtigungen und
Schäden zu vermeiden, zu überwinden, zu bessern und zu lindern sowie Verschlimmerungen
zu verhüten" (§ 14 ÖGDG). Der öffentliche Gesundheitsdienst ist eigentlich die
wichtigste Institution in der kommunalen Gesundheitsförderung (§ 7 ÖGDG), der man so
gesehen nicht durchgehen lassen kann, klare Krankheitsbefunde folgenlos übersehen zu
dürfen. Die Aufgabenerledigung im öffentlichen Gesundheitsdienst muss sich auch daran
orientieren, welche Wertmaßstäbe unsere Verfassung vorgibt (Artikel 1 und 2 GG). Daraus
muss eine Verpflichtung der staatlichen und kommunalen Organe abgeleitet werden, geeignete
Maßnahmen zu treffen, um konkrete Gesundheits- und Lebensgefährdungen von den
Bürgerinnen und Bürgern abzuwenden. Diesen hohen Ansprüchen ist offensichtlich die
tätig gewordene Ärztin nicht gebührend gerecht geworden. Dies haben die Richter
offensichtlich übersehen oder übersehen wollen! Die Neuss-Grevenbroicher Zeitung
kommentierte das Urteil am 26.10.1999 u.a. wie folgt: "... In letzter Konsequenz wird
der Ordnung und Systematik der Verwaltung Vorrang eingeräumt vor dem Wohl des Menschen.
Diese Urteile sind dazu angetan, jene tiefgreifenden Bedenken gegen unser
Gesundheitssystem, in dem der Patient zu einem namenlosen Objekt vorkommt, voll und ganz
zu bestätigen".
Werner Schell (02. Juli 2000)
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