Gewalt in der Pflege - Wenn Patienten aggressiv reagieren
In der Publikumspresse werden immer wieder
gewalttätige Übergriffe in Altenheimen thematisiert. Die Täter kommen hierbei
aus den Reihen des Pflegepersonals, die Opfer sind die Heimbewohner. Doch der
umgekehrte Fall kommt viel häufiger vor: Patienten oder Heimbewohner greifen
das Pflegepersonal an – entweder nur verbal oder aber mit Händen, Füßen,
Zähnen oder den unterschiedlichsten Gegenständen.
Ob Krankenschwester, Sozialarbeiter oder
Altenpfleger – fast jeder, der in einem Bereich der Pflege zu tun hat, wird
irgendwann mit dem Thema Gewalt hautnah konfrontiert. Im günstigsten Fall
bekommt er es nur mit aggressiven Ausbrüchen und verbaler Gewalt seiner
Klientel zu tun, im schlimmsten Fall geht es ihm wie einer Mitarbeiterin in
einem Heim für geistig Behinderte: Diese Mitarbeiterin wurde von einem
aggressiven Betreuten massiv ins Gesicht geschlagen. Die geschockte Frau bat die
Pflegeleitung darum, den Betreuten für den Rest des Tages aus ihrem
Arbeitsbereich zu entfernen. Doch ihr unmittelbarer Vorgesetzter reagierte mit
der zynischen Bemerkung: »Du warst ja noch nie verheiratet, oder? Sonst wärst
du es ja gewohnt: Mann schlägt Frau.« Auf die Frage einer anderen Kollegin,
was es Neues gäbe, erwiderte dieser Vorgesetzte: »Kollegin K. wird
regelmäßig von ihren Männern geschlagen.« Die Mitarbeiterin K. erlitt
daraufhin einen Nervenzusammenbruch.
Dieser Vorfall macht deutlich, wie die Themen
»Patientenübergriffe, Aggressionen und Gewalt« geflissentlich übergangen,
verharmlost oder sogar totgeschwiegen werden. Dabei wäre es überaus wichtig,
zu überlegen, weshalb es überhaupt zu Gewalt kommt und wie gewalttätige
Übergriffe möglichst im Vorfeld zu verhindern sind.
Wo kommt Gewalt vor?
Landläufig wird angenommen, dass in der
Psychiatrie das Gewaltpotenzial der Klientel am größten ist. Die meisten
Patientenübergriffe wurden der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und
Wohlfahrtspflege (BGW) jedoch aus Behinderteneinrichtungen und Altenheimen
gemeldet. In der Jugendhilfe kommen Übergriffe nur halb so oft wie in
Behinderteneinrichtungen vor, am seltensten wurden solche Begebenheiten aus
Krankenhäusern und der Psychiatrie gemeldet.
Gründe für Aggression
Dass bestimmte neurologische und psychiatrische
Erkrankungen sowie psychoaktive Drogen (zum Beispiel Alkohol und Kokain) und
eine Reihe von Substanzen und Medikamenten (zum Beispiel Phencyclidin, Sedativa,
Amphetamine) das Verhalten verändern, ist bekannt. So ist bei bestimmten
Erkrankungen (M. Alzheimer, Morbus Pick, Chorea Huntington,
Multi-Infarkt-Demenz, Epilepsie, Hirnverletzungen, Schlaganfällen) die
Steuerungsfunktion des Stirnhirns eingeschränkt. Aggressive Handlungen können
dann plötzlich, ungerichtet und unberechenbar auftreten.
Es wäre jedoch falsch, Aggressionen und Gewalt
nur als ein einseitiges Problem der Täter anzusehen. Aggressionen und Gewalt
sind als zwischenmenschliches Phänomen Bestandteil unserer Lebensführung. So
ist immer wieder zu beobachten, dass Gewalt Gegengewalt erzeugt, dass eine
aggressive Haltung und das überhebliche Demonstrieren von Macht ein
feindseliges, explosives Klima erzeugt, in dem es schnell zu gewalttätigen
Übergriffen kommt. Hierbei sind die Ausdrucksmöglichkeiten von Aggression und
Gewalt überaus vielfältig: Beleidigungen (auch sexueller Natur), Bedrohungen
(»Dich bringe ich um«), Nötigungen und Erpressungen werden ausgestoßen oder
auch ausgeschrien. Das Spektrum körperlicher Gewalt reicht von Schlagen,
Treten, Spucken, Beißen, Schubsen, Zerren, Reißen, Würgen und sexuellen
Übergriffen bis zum Einsatz von Werkzeugen und Gegenständen (teils mit
Infektionsgefahr).
Wenn beispielsweise das Pflegepersonal auf einen
aggressiven Patienten oder Bewohner ebenfalls aggressiv reagiert, schaukelt es
sich wie eine Spirale hoch. Hinzu kommt, dass Patienten und Bewohner sich
oftmals einer rigiden »Hausordnung« unterwerfen müssen, sich entmachtet und
entmündigt fühlen und darauf mit Frustration und Aggression antworten. Gerade
in der Altenpflege wird aggressives Verhalten der Betreuten oftmals mit Gewalt
beantwortet: Die Betreuten werden teilweise sediert, fixiert, diskriminiert und
stigmatisiert.
Gewalt vermeiden
Folgt man dem lerntheoretischen Ansatz der
Aggressionsforschung, kommt dem Stationsmilieu eine besondere Bedeutung zu. Das
Verhalten des Pflegepersonals untereinander und gegenüber den Patienten ist
entscheidend. Aggressives Verhalten des Pflegepersonals als Antwort auf
aggressives Verhalten der Patienten wirkt »vorbildlich«, die Patienten lernen
schnell durch »Nachahmung«. Wichtig sind deshalb stationsinterne Normen gegen
Gewalt und modellhaftes Vorleben durch das Team.
Die Vermittlung von Deeskalationsstrategien ist
deshalb einer der Grundbausteine für Gewaltminderung. Schwerpunkt eines solchen
Schulungsprogramms ist die Vermittlung von theoretischen Grundlagen, um
Aggressionspotenziale rechtzeitig erkennen und reduzieren zu können. Dabei ist
es notwendig, die eigenen Gefühle zu reflektieren. Diese sollen jedoch nicht
unterdrückt werden, sondern man muss lernen, sie unter Kontrolle zu behalten.
Die Psychiatrie setzt sich seit Jahren intensiv
mit dem Thema »Gewalt und Gewaltvermeidung« auseinander. Mit Gewalt in der
Altenpflege hat sich unter anderem die Bonner Initiative »Handeln statt
Misshandeln« befasst. Um Gewalt – wo auch immer – zu vermeiden, müssen
drei Grundvoraussetzungen eingehalten werden: Kommunikation,
Patientenbeobachtung und Reflexion des eigenen Verhaltens.
Hilfen nach einem tätlichen
Angriff
Kommunikation bedeutet: Es findet ein ständiger
Austausch zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern sowie der Mitarbeiter
untereinander statt. Auch bei Schichtübergaben darf es zu keinem
Informationsverlust kommen. Die Institutionalisierung wesentlicher
Kommunikationsprozesse und ihrer Inhalte (Teamgespräche, Übergabegespräche)
trägt dazu bei, den erforderlichen Informationsaustausch zu gewährleisten.
Nach einem Patientenübergriff muss dem Opfer ein einfühlsamer, kollegialer
Gesprächspartner zur Seite stehen, um die psychische Belastung zu bewältigen
und ein Trauma zu vermeiden. Oftmals ist es auch notwendig, einen neutralen,
externen Supervisor hinzuzuziehen, der besonders geschult ist, Konflikte in
einem Team aufzudecken. Letztlich zielen alle kommunikativen Maßnahmen darauf
ab, die »Teamfähigkeit« der Mitarbeiter zu verbessern und ein gutes,
kollegiales Betriebsklima herzustellen.
Mit Hilfe der Patientenbeobachtung lassen sich
Schwachstellen früher aufspüren. Die Dokumentation und Analyse aggressiver
Verhaltensweisen liefert Hinweise auf individuelle (Frühwarn-) Symptome.
Zusätzlich ergeben sich Hinweise, welche Deeskalationsstrategien sich (nicht)
bewährt haben. Entscheidend ist aber, dass die Ergebnisse der Beobachtung im
Team auch besprochen werden.
Hilfe herbeirufen
Übergriffe auf Mitarbeiter stellen unzweifelhaft
»Gefährdungen« im Sinne des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) dar. Sie sind
daher bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der gegebenenfalls
erforderlichen Dokumentation (§5 ArbSchG) zu berücksichtigen. So muss der
Gefährdete bei Übergriffen die Möglichkeit erhalten, Hilfe herbeizurufen.
Hier bieten technische Anlagen Sicherheit in Form von fest installierten,
stationären Schwestern- oder mobilen Personenrufanlagen.
»Patientenübergriffe? Damit haben wir keine
Probleme!« Diese oder ähnliche Reaktionen sind leider regelmäßig
anzutreffen. Das Management einer Einrichtung darf die Augen vor aggressivem
Verhalten im Betrieb nicht verschließen. Wichtigste Voraussetzung im Umgang mit
psychischen Belastungen ist eine funktionierende innerbetriebliche
Kommunikation, die Raum und Atmosphäre auch für die Auseinandersetzung mit den
Emotionen der Mitarbeiter bietet.
Andreas Boldt/Ruth Schmidt
Warum beschäftigt sich die
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW)
mit diesem Thema?
Zu den Aufgaben der BGW als Trägerin der
gesetzlichen Unfallversicherung für nichtstaatliche Einrichtungen des
Gesundheitsdienstes und der Wohlfahrtspflege gehören die Verhütung von
Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren.
Sollte es jedoch zu einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit kommen,
unterstützt die BGW den gesamten Heilungsprozess, um die Gesundheit und
Leistungsfähigkeit des Versicherten wiederherzustellen.
Eine große Zahl der bei der BGW Versicherten
widmet sich der Behandlung, Betreuung und Pflege alter, kranker oder behinderter
Menschen. In dieser Berufsgruppe beobachtet die BGW seit Jahren Verletzungen
durch Übergriffe von Patienten und Betreuten. Die psychischen Folgen für die
betroffenen Mitarbeiter werden bisher selten bis gar nicht erfasst.
Die BGW greift in ihrem Schwerpunktprogramm für
die 9. Amtsperiode die Veränderungen im Unfallgeschehen auf, indem sie sich die
Optimierung der Prävention und Rehabilitation von psychischen
Gesundheitsschäden als Folge eines Arbeitsunfalls zum Ziel setzt. Das betrifft
auch die Fälle, bei denen es zu keinen körperlichen Verletzungen gekommen ist,
zum Beispiel wenn einem tätlichen Übergriff »nur« zugesehen wird und der
Betrachter dadurch einen Schock erleidet (psychisches Trauma).
Zur Umsetzung der im Schwerpunktprogramm
gesteckten Ziele erarbeitet eine fachübergreifende Arbeitsgruppe konkrete
Lösungen. Unter anderem werden Präventionsstrategien entwickelt, zum Beispiel
Schulungskonzepte für Mitgliedsbetriebe zum professionellen Umgang mit
Aggression und Gewalt oder zum Umgang mit Versicherten, die Zeuge eines
tätlichen Übergriffes waren. Darüber hinaus werden Handlungshilfen
erarbeitet, die dem Sachbearbeiter der BGW ermöglichen sollen, frühzeitig
psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen nach einem Arbeitsunfall zu erkennen
und zielgerichtet die erforderlichen Maßnahmen zur optimalen Betreuung und
Behandlung einzuleiten.
Annett Zeh
Quelle: Mitteilung der
Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege 4/2002
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