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»Artikel 104 Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgenden Tages eine äußerste Grenze, befreit aber nicht von der Verpflichtung, eine solche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen« [1]

Das Grundgesetz (GG) setzt dem Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung mit dem Ende des auf das Ergreifen folgenden Tages eine äußerste Grenze. Unabhängig davon muss eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeigeführt werden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Beschluss vom 15.05.2002 klargestellt und damit für alle auf Freiheitsentzug gerichtete Maßnahmen Maßstäbe gesetzt. [2]

Der Fall:
Ein gambischer Staatsangehöriger war unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus der BRD ausgewiesen, außerdem war ihm die Abschiebung angedroht worden, falls er die BRD nicht bis zum 31.12.1998 verlassen haben sollte. Zwei Polizeibeamte verbrachten ihn am Nachmittag des 20.01.1999 auf ihre Dienststelle, weil sie seine Ingewahrsamnahme zur Sicherung der für den nächsten Morgen geplante Abschiebung als notwendig ansahen. Beim zuständigen Amtsgericht (AG) Syke erreichten sie keinen Haftrichter. Der gambische Staatsangehörige wurde bis gegen drei Uhr des folgenden Tages in Polizeigewahrsam festgehalten, dann dem Bundesgrenzschutz übergeben und gegen 7.30 Uhr nach Gambia abgeschoben. Der gambische Staatsangehörige beantragte beim AG die Feststellung, dass seine Festnahme und Ingewahrsamnahme ohne richterliche Bestätigung rechtswidrig gewesen seien. Das AG wies den Antrag des Beschwerdeführers (Bf.) zurück. Eine richterliche Entscheidung sei nicht möglich gewesen. Die Festnahme des Bf. sei nach Dienstschluss des AG, seine Abschiebung vor Dienstbeginn erfolgt, deshalb hätte es zu einer richterlichen Entscheidung erst nach Beendigung der Maßnahme kommen können. Das Landgericht (LG) Verden verwarf die sofortige Beschwerde des Bf. Die sofortige weitere Beschwerde des Bf. wies das Oberlandesgericht (OLG) Celle zurück. Daraufhin legte der Bf. Verfassungsbeschwerde (Vb.) ein und rügte eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Garantien bei einer Freiheitsentziehung. Das BVerfG hob die Entscheidungen sämtlicher Vorinstanzen auf und verwies die Sache an das zuständige AG zurück.

Entscheidungsgründe:
Der Bf. sei in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG verletzt worden. Nach dem GG bedürften Eingriffe in die Freiheit der Person eines förmlichen Gesetzes. Außerdem müssten die in diesem Gesetz vorgeschriebenen Formen beachtet werden. Das GG unterscheide zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung. Eine Freiheitsbeschränkung liege vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert werde, einen bestimmten ihm an sich zugänglichen Ort aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten. Eine Freiheitsentziehung hingegen, die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung, komme dann in Betracht, wenn die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder Richtung hin aufgehoben werde. Bei einer Freiheitsentziehung müsse nach dem GG der Richter über ihre Zulässigkeit und Fortdauer entscheiden. Dieser Richtervorbehalt solle das besonders hochrangige Freiheitsgrundrecht zusätzlich sichern. Der Staat müsse deshalb sicherstellen, dass jedenfalls zur Tageszeit ein zuständiger Richter erreichbar sei und er seine richterlichen Aufgaben auch insoweit sachangemessen wahrnehmen könne. Die Freiheitsentziehung setze nach den Rechtsgarantien des GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraus. Eine nachträgliche richterliche Entscheidung sei nur in Ausnahmefällen zulässig. Sie genüge nur dann, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern die richterliche Entscheidung der Festnahme vorausgehen müsste. Dann müsse die richterliche Entscheidung aber unverzüglich nachgeholt werden. Sei ein Richter nicht erreichbar, gelte dies nicht ohne Weiteres als unvermeidbares Hindernis, da der Staat verpflichtet sei, der Bedeutung des Richtervorbehalts durch geeignete organisatorische Maßnahmen Rechnung zu tragen. Es sei auch dann nicht entbehrlich, die richterliche Entscheidung nachzuholen, wenn der Freiheitsentzug schon vor Ablauf des auf das Ergreifen folgendes Tages ende. Das GG setze mit dieser Frist nur eine äußerste Grenze für das Festhalten einer Person ohne richterliche Entscheidung, befreie aber nicht davon, eine richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen gegen diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Sie hätten es ohne weitere Aufklärung für rechtmäßig erachtet, dass der Bf. elf Stunden in Polizeigewahrsam festgehalten wurde, ohne dass eine richterliche Entscheidung wenigstens nachträglich eingeholt worden sei. Der bloße Hinweis auf den „Dienstschluss“ des zuständigen AG reiche nicht aus, weil es allgemein festgelegte Dienstzeiten für Richter nicht gebe.

Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15.05.2002 - 2 BvR 2292/00 - [3]

Werner Schell

[1] Aus Art. 104 Abs. 2 GG folgt auch für den Staat die Verpflichtung, die Erreichbarkeit eines zuständigen Richters - jedenfalls zur Tageszeit - zu gewährleisten und ihm auch insoweit eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben zu ermöglichen.

[2] Der hier vorgestellte Fall hat über das Abschiebungsrecht hinaus Bedeutung und verdient z.B. auch bei Unterbringungen im Rahmen einer bürgerlich-rechtlichen Betreuung oder bei Anwendung des Landesunterbringungsrechts Beachtung.

[3] Quelle: Pressemitteilung Nr. 63/2002 des BVerfG vom 16. Juli 2002