Rehabilitation im Wandel - Impulse für die Weiterentwicklung der Rehabilitation
Die Rehabilitationslandschaft war in den vergangenen Jahren durch zwei
gegenläufige Tendenzen geprägt: Zum einen ist im gesamten Rehabilitationsbereich eine
qualitative Entwicklung zu verzeichnen. Die anwachsende Zahl älterer und behinderter
Menschen, die Zunahme chronischer Erkrankungen und die schnellen Veränderungen in der
Arbeitswelt stellen an die Rehabilitation und das gesamte System der sozialen Sicherheit
ständig neue Anforderungen. Fast gleichzeitig hierzu haben sich aufgrund der
wirtschaftlich angespannten Situation aus ökonomischen Gründen Zwänge ergeben, die zu
Einschränkungen in allen Sozialleistungsbereichen geführt haben und den qualitativen
Entwicklungserfordernissen entgegenstehen.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) in
Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und der Landesregierung des Freistaates Thüringen
Experten aus dem Rehabilitationsbereich, politisch Verantwortliche, Betroffene und die
Fachöffentlichkeit vom 21. - 23. April 1999 nach Suhl zum 3. Bundeskongreß für
Rehabilitation eingeladen, um aktuelle Themen aus dem gesamten Rehabilitationsbereich zu
behandeln und Lösungen zu diskutieren, die zu einer effektiven und effizienten
Rehabilitation beitragen könnten.
In Anwesenheit des Ministerpräsidenten von Thüringen, Dr. Bernhard Vogel, und des
Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA), Walter Riester, eröffnete Reinhard
Ebert, Vorstandsvorsitzender der BAR, vor nahezu 1.700 Teilnehmern aus allen Bereichen der
Rehabilitation, darunter selbstbetroffene Menschen und Vertreter ihrer Organisationen,
aber auch Gäste aus dem Ausland und internationalen Organisationen im thüringischen Suhl
den dritten nationalen Rehabilitationskongreß der BAR.
Steigender Bedarf an Rehabilitationsleistungen
Reinhard Ebert verwies darauf, daß aufgrund der ständigen Zunahme chronischer
Erkrankungen und der steigenden Zahl älterer Menschen der Bedarf an
Rehabilitationsleistungen in Zukunft kontinuierlich zunehme. Gleichzeitig hätten sich
aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Situation allerdings aus ökonomischen Gründen auch
Zwänge ergeben, die zu Effizienzüberprüfungen und zu Einschränkungen in allen
Sozialleistungsbereichen, so auch im Bereich der Rehabilitation geführt hätten und die
den qualitativen Entwicklungserfordernissen zuwiderlaufen könnten. Hier allen Seiten
zufriedenstellende Lösungsansätze und Wege aufzuzeigen, sei eine der Aufgaben auf dieser
Konferenz, etwa durch mehr ambulante Rehabilitation, stärkere Flexibilisierung der
Rehabilitationsleistungen oder bessere Übergänge von der kurativen Behandlung zur
Rehabilitation.
Schirmherrschaft
Thüringens Ministerpräsident, Dr. Bernhard Vogel, der die Schirmherrschaft über diese
Veranstaltung übernommen hatte, verwies in seinem Grußwort auf die aus seiner Sicht
wichtigsten Schwerpunktthemen, die der dringenden Lösung bedürfen: Rehabilitation bei
Kindern und Jugendlichen, geriatrische Rehabilitation, Werkstätten für Behinderte als
besondere Form der Eingliederung und soziale Rehabilitation.
Rehabilitationspolitische Leitlinien der Bundesregierung
Nach den einführenden Grußworten stellte der Bundesminister für Arbeit und
Sozialordnung (BMA), Walter Riester, die rehabilitationspolitischen Leitlinien der
Bundesregierung vor. Er betonte zu Beginn seiner Ausführungen, daß die Solidarität
unserer Gesellschaft mit behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen unverzichtbar
sei. Die Vorgaben des Sozialgesetzbuch (SGB) I, die den körperlich, geistig oder seelisch
Behinderten oder von einer solchen Behinderung Bedrohten ein Recht auf die notwendige
Hilfe sicherten, stünden deshalb nicht zur Disposition.
Ausgehend von dem dreistufigen Behinderungsbegriff der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) - Schaden, funktionelle Einschränkung
(Fähigkeitsstörungen), soziale Beeinträchtigung - müßten die Hilfen noch zielgenauer
werden. Um auf die individuellen Probleme eingehen zu können brauche es
- Prävention, um körperliche, geistige und seelische Schäden möglichst
erst gar nicht entstehen zu lassen,
- Rehabilitation, um auch bei vermeidbaren Schäden möglichst wenig
Funktionseinschränkungen und soziale Beeinträchtigungen entstehen zu lassen sowie
- dauernde Sozialleistungen, aber erst, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft
seien, den Betroffenen ein sozial und wirtschaftlich eigenverantwortliches Leben zu
sichern.
Um die Ergebnisse der Rehabilitation zu verbessern müßten die Aufgaben
der Rehabilitation bereits in den Krankenhäusern stärker berücksichtigt werden. Bislang
fehle in den meisten Kliniken sowohl das erforderliche Personal für
Rehabilitationsmaßnahmen, als auch die Möglichkeit, die therapeutisch notwendigen
Leistungen zu erbringen. Diese Probleme könnten beseitigt werden, indem
fachübergreifende Frührehabilitation in den Krankenhäusern institutionalisiert werde.
Ein schnellerer Einstieg in die Rehabilitation verbessere die Wiedereingliederungschancen
der Betroffenen ganz entscheidend.
Auch für die berufliche Rehabilitation sei unumstritten, daß Rehabilitation möglichst
schnell einsetzen müsse. Es gelte deshalb, die noch immer zu langen Bearbeitungszeiten
bei Anträgen auf berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation zu verkürzen.
Darüber hinaus sei ein "Eingliederungsmanagement" erforderlich, wie es von der
Unfallversicherung erfolgreich praktiziert werde. Auf diese Weise werde insbesondere
kleinen und mittleren Betrieben der Weg durch die Instanzen des teilweise
unüberschaubaren gegliederten Systems erleichtert.
Auch wenn sich das gegliederte System grundsätzlich bewährt habe, gelte es insgesamt,
das "Geflecht von Zuständigkeiten" transparenter zu machen. Ziel müsse es
letztlich sein, die Beratung der Betroffenen und die Entscheidung über Leistungen über
die Grenzen der jeweiligen Zuständigkeit hinaus zu organisieren.
Leitlinien der europäischen Rehabilitationspolitik
Der Vertreter der EU-Kommission, Roderick Skinner, beleuchtete die europäische Dimension
der Rehabilitation und Integration von behinderten Menschen. Er führte aus, daß
mittlerweile auf europäischer Ebene das Recht behinderter Menschen auf Chancengleichheit
vollständig anerkannt sei. Zur praktischen Umsetzung des rechtebezogenen Ansatzes in der
europäischen Behindertenpolitik will die EU-Kommission sicherstellen, daß die
Bedürfnisse behinderter Menschen bei der Erarbeitung von Politiken, Programmen und
Aktionen der Europäischen Kommission berücksichtigt werden. Dies zeige sich auch in der
neuen Europäischen Beschäftigungsstrategie, in der an vielen Stellen Lösungen für die
Beschäftigungsprobleme von Menschen mit Behinderungen eingebunden seien.
Betroffene als Objekte oder Beteiligte im Rehabilitationsprozeß
Walter Hirrlinger, Präsident des Sozialverbandes VdK, setzte sich nochmals intensiv mit
den im Bereich der Rehabilitation vorgenommenen Einsparungen auseinander. Die
Einschränkungen bei der Prävention seien volkswirtschaftlich ebenso ein falsches
Konzept, wie die pauschale Verkürzung stationärer medizinischer
Rehabilitationsmaßnahmen und die Verlängerung der Intervalle zwischen möglichen
Wiederholungsbehandlungen.
Problematisch nannte er weiterhin den zu großen Zeitabstand zwischen Akutversorgung und
medizinischer Rehabilitation sowie zwischen abgeschlossener medizinischer Rehabilitation
und dem Einsetzen berufsfördernder Leistungen.
Für den beruflichen Sektor forderte Hirrlinger eine Umorientierung auf Maßnahmen, die
darauf hinauslaufen, in kurzen Zeitabständen eine Neuqualifizierung vorzunehmen. Dazu
zähle eine wohnortnahe Rehabilitation z.B. mit Teilfeldqualifikationen und
Teilzeitmaßnahmen. Auch das System der Umschulungs-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen
müsse schneller und effektiver an die geänderten Bedingungen der Arbeitswelt angepaßt
werden.
Das Benachteiligungsverbot in Artikel 3 Grundgesetz (GG) sei längst nicht in
ausreichendem Maß umgesetzt. Bestes Beispiel sei die Eingliederungshilfe, die sich auf
Kosten der Pflegeversicherung von ihren Verpflichtungen entlaste. Da es dem Einzelnen kaum
möglich sei, sich gegen Benachteiligungen zu wehren, müsse die Mitwirkung der
Behindertenverbände besser verankert werden, u.a. durch die Schaffung eines
Verbandsklagerechts.
Bestmögliche Rehabilitation unter dem Primat der Ökonomie
Der Präsident der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), Dr. Herbert Rische,
verneinte einen Gegensatz zwischen Rehabilitation und Ökonomie. Vielmehr unterliege
Rehabilitation denselben ökonomischen Mechanismen wie andere Dienstleistungen. Angesichts
begrenzter Ressourcen seien die Rehabilitationsträger ganz selbstverständlich gezwungen,
Rehabilitationsleistungen möglichst effizient und effektiv anzubieten.
Dr. Rische betonte allerdings auch, daß Rehabilitation sich in rein ökonomischen
Kategorien gedacht durchaus "lohne". Eine BfA-Studie bei dem
Rehabilitanden-Jahrgang 1989 habe ergeben, daß in einem Zeitraum von 5 Jahren aufgrund
eingesparter Frührenten und geleisteter Versicherungsbeiträge ein Einnahmeüberschuß
von 2,3 Mrd. DM erzielt werden konnte. Dies verdeutliche den Charakter der Rehabilitation
als "Investition in das Humankapital" einer Gesellschaft. Aus diesem Grunde
sowie aufgrund des unstreitig wachsenden Bedarfs an Rehabilitationsleistungen forderte Dr.
Rische, die eingeführten Budgetierungen aufzuheben und wieder zu
Fortschreibungsregelungen des Budgets zu kommen.
Nach Dr. Rische stellt der Wandel der Arbeitswelt neue Herausforderungen an die
Rehabilitation insbesondere der Rentenversicherung. Übergeordnetes Ziel müsse es sein,
durch den rechtzeitigen Beginn von Leistungen den Versicherten zu helfen, ihren
Arbeitsplatz zu behalten. Vor diesem Hintergrund spielten auch in der medizinischen
Rehabilitation berufsbezogene Strategien zur Verbesserung der Effizienz und Effektivität
eine immer größere Rolle. Die differenzierte Ermittlung der Belastung und Beanspruchung
der Rehabilitanden am Arbeitsplatz, regelmäßige Teamkonferenzen von Ärzten, Psychologen
und Reha-Fachberatern müßten routinisierte Bestandteile der medizinischen Rehabilitation
werden.
Neben einer Flexibilisierung der Leistungsangebote forderte Dr. Rische weiter den Ausbau
ambulanter Maßnahmen innerhalb der Rehabilitationseinrichtungen, eine Verstärkung des
Angebotes von Nachsorgeleistungen sowie einen schnelleren Zugang zu berufsfördernden
Maßnahmen. In Übereinstimmung mit dem Bundesarbeitsminister sieht schließlich auch Dr.
Rische Rationalisierungsmöglichkeiten in der Rehabilitation durch eine Intensivierung
frührehabilitativer Maßnahmen als Bestandteil der Akutbehandlung. Deren Finanzierung
falle in die originäre Leistungsträgerschaft der Krankenkassen.
Veränderungen in der Arbeitswelt - Auswirkungen auf die berufliche
Rehabilitation
Heinz Schleef, Mitglied des Vorstandes der Unternehmensgruppe Jenoptik AG, verdeutlichte
zunächst an zwei Beispielen, wie die neuen Informations- und Kommunikationstechniken seit
Jahren die Arbeitswelt verändern. So spielten Arbeitsort und die festgelegten
Arbeitszeiten in vielen Teilbereichen der Wirtschaft kaum noch eine Rolle. Als Folge werde
Telearbeit in der Zukunft in ganz erheblichem Maße zunehmen.
Telearbeit eigne sich in besonderer Weise für schwerbehinderte Menschen, weil sie in
vielen Fällen in der Lage sei, behinderungsbedingte Einschränkungen zu kompensieren;
dies gelte insbesondere für Menschen, deren Behinderung auf Einschränkungen des
Bewegungsapparates beruhe. Gleichwohl sieht Schleef die Eingliederungschancen für
Behinderte stark eingeschränkt. Als Grund nannte er die für Schwerbehinderte geltenden
sozialen Schutzbestimmungen. Erhöhter Urlaubsanspruch und besondere
Kündigungsschutzbestimmungen führten dazu, daß eine steigende Zahl von Firmen
grundsätzlich keine Schwerbehinderten einstellten.
Die sozialen Schutzbestimmungen seien letztlich mehr Hindernis als Hilfe für diejenigen,
zu deren Schutz sie gedacht seien. Deshalb gehe auch die Forderung nach weiteren
gesetzlichen Regelungen ins Leere, wenn das Ziel die Bereitstellung von Arbeitsplätzen
für Behinderte sei. Wie in allen Bereichen der Gesellschaft sei statt dessen auch im
Arbeitsleben eine stärkere Solidarisierung in der Bevölkerung sinnvoller als der Ruf
nach dem Staat.
Die Praxis der Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation vor dem
Hintergrund veränderter Bedingungen
Auch das System der beruflichen Rehabilitation befindet sich nach Ulrich Wittwer,
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke, in einem gewaltigen
Veränderungsprozeß. Dabei bestehe das Problem, daß besonderen
Arbeitsplatzanforderungen, einem immer stärker selektierten Teilnehmerkreis und immer
höheren Qualitätsansprüchen kaum mit zusätzlichen finanziellen Mitteln begegnet werden
könne.
Die Antwort der Berufsförderungswerke sei u.a. eine offensive Dienstleistungsstrategie.
Nach ihrem Erfurter Programm räumten die Berufsförderungswerke in ihren
Leistungsangeboten einen Schwerpunkt der Information, Beratung, Erprobung und Diagnostik
ein. Nicht zuletzt mit modernen Mitteln der Rehabilitationsdiagnostik entwickelten die
Berufsförderungswerke ein Reha-Management und unterbreiteten zeitnah mit den Betroffenen
abgestimmte Vorschläge, die sich präventiv auf den Erhalt vorhandener Arbeitsplätze
oder auf Qualifizierungsmaßnahmen zur Eingliederung konzentrierten.
Auf die geänderten Anforderungen der Arbeitswelt stellten die Berufsförderungswerke u.a.
ab durch vielfältige und regelmäßige Kontaktgespräche mit Arbeitgebern, Praktika der
Teilnehmer und MitarbeiterInnen in Betrieben sowie die Berücksichtigung moderner
Technologien. Ein Qualitätsmerkmal der Berufsförderungswerke sei ihre Vielfalt der
Leistungsmöglichkeiten, die ständig an die vorhandenen und zukunftsträchtigen
Berufsbilder angepaßt würden. Dabei würden die Leistungen ambulant wie auch stationär
und so wohnortnah wie möglich erbracht.
Wittwer führte weiter aus, daß die Berufsförderungswerke auch ihre Organisationsformen
und -strukturen den veränderten Leistungsanforderungen angepaßt sowie neue didaktische
Konzepte eingeführt hätte. Hierzu gehörten integrative Förderung, handlungsorientierte
Gestaltung von Lernsituationen, Lernortvielfalt mit Lernbüros und individuelle
Förderpläne.
Er brachte zusammenfassend zum Ausdruck, daß sich Berufsförderungswerke nicht als
statische und starre Institutionen, sondern als Unternehmen begriffen, die bereits viel
umgesetzt hätten und sich weiter auf innovativem Weg befänden.
Perspektiven einer zukunftsorientierten sozialen Rehabilitation
Prof. Dr. Iris Beck vom Institut für Behindertenpädagogik der Universität Hamburg
betonte, daß die Anerkennung der Relevanz gesellschaftlicher und sozialer
Einflußfaktoren Programm für eine Wende im Denken und Handeln in der Behindertenhilfe
war und ist. Als Konsequenz sei das Handeln zunehmend auf gemeindenahe, integrierte und
flexible Servicesysteme gerichtet, die an den alltäglichen Sozialbeziehungen anknüpften.
Ziel der vorrangig offenen wohnortnahen Angebotsformen sei es, eine möglichst
selbständige Lebensführung außerhalb stationärer Einrichtungen zu gewährleisten.
Als Hindernisse auf dem Weg des Umdenkens nannte Prof. Beck generell fehlende oder
unzureichende Anspruchsgrundlagen, einen Mangel an gemeindenahen, offenen
Assistenzangeboten, große Kooperations- und Koordinationsprobleme sowie die ungesicherte
Finanzierung vieler wohnortnaher Modelle. Abhilfe sieht sie in der Schaffung eines eigenen
Leistungsrechts, das nicht den Beschränkungen der Sozialhilfe unterliegt, einer
Konkretisierung der Maßnahmen und ihre Aufnahme in einen Leistungskatalog sowie die
Koordinierung der Leistungsverpflichtungen und ihren Ausbau zu einer einheitlichen
Gesamtstruktur. Bei alledem müsse das Wissen und die Kompetenz behinderter Menschen
berücksichtigt werden. Nicht zuletzt müsse die Darstellung von Behinderung in den Medien
verändert werden.
Podiumsdiskussionen
Neben den Grundsatzreferaten fanden drei Podiumsdiskussionen statt, an denen unter der
Moderation bekannter Journalistinnen und Journalisten hochrangige VertreterInnen der
Politik, der Sozialpartner, der Leistungsträger, der Leistungserbringer und der Verbände
Betroffener Stellung zu aktuellen Themenkomplexen nahmen.
Neuorganisation der medizinischen Rehabilitation - von der Struktur- zur
Funktionsverantwortung
Die Podiumsdiskussion bot nochmals einen Querschnitt durch viele Fragen, die bereits
Gegenstand der Grundsatzreferate gewesen waren.
Einvernehmen bestand dahingehend, daß der Bereich der stationären Rehabilitation gut
organisiert sei, daß es bislang aber an vergleichbaren ambulanten Versorgungsstrukturen
fehle, nicht zuletzt deshalb, weil keinem Trägerbereich die Strukturverantwortung
hierfür zugewiesen sei. Hinderlich für eine stärkere Flexibilisierung der
Rehabilitation sei darüber hinaus ein fehlendes gemeinsames Verständnis der
Leistungsträger von Rehabilitation sowie die Unkenntnis vieler Ärzte über die Inhalte
rehabilitativer Maßnahmen.
Defizite wurden gesehen bei der Verzahnung von Akutmedizin und Rehabilitation, beim Zugang
zu Rehabilitationsmaßnahmen, bei der Abstimmung unterschiedlicher
Rehabilitationsleistungen, in der Weiterbildung der Ärzte sowie in der Beratung der
Betroffenen.
Auch aus den Diskussionsbeiträgen von Plenumsteilnehmern wurde deutlich, daß u. a. in
den Bereichen Kooperation und Koordination, bei der Beratung und Zugangssteuerung zur
Rehabilitation Verbesserungsbedarf besteht.
Soziale Rehabilitation - 3. Baustein im System der Rehabilitation
In der Diskussion bestand Einigkeit, daß soziale Rehabilitation im Sinne einer
umfassenden Integration behinderter Menschen in alle Bereiche der Gesellschaft das
letztendliche Ziel aller Rehabilitationsbemühungen darstellt. Es wurde einhellig
kritisiert, daß für die zur sozialen Integration notwendigen Hilfen zur Teilnehme am
gesellschaftlichen Leben außer im Recht der Unfallversicherung keinerlei rechtliche
Anspruchsgrundlagen außerhalb des Sozialhilferechts mit seinem Nachrangprinzip und der
Prüfung von Einkommen und Vermögen besteht. Es wurde deshalb als wesentliche Forderung
von allen Diskussionsteilnehmern nachdrücklich die Schaffung eines eigenständigen
Leistungsgesetzes für diesen Bereich angemahnt. Bei der (Weiter-) Entwicklung
bedarfsgerechter, gemeindenaher Angebote wird das Zusammenwirken aller gesellschaftlichen
Kräfte, angefangen von der Politik und Verwaltung über die Leistungsträger bis hin zu
den Betroffenen als unabdingbar angesehen.
Daneben wurde eindringlich darauf hingewiesen, daß soziale Integration eine über den
eigentlichen Leistungsbereich der sozialen Sicherungssysteme hinausgehende Bedeutung hat
und einen Auftrag an alle gesellschaftlichen Kräfte begründet, Bedingungen zu schaffen,
die eine selbstverständliche Partizipation behinderter Menschen in der Gesellschaft
ermöglichen. Hierzu gehört z. B. die barrrierefreie Gestaltung von Verkehrsangeboten,
öffentlichen Gebäuden sowie der barrierefreie Wohnungsbau.
Chancengleichheit für Behinderte - Anspruch und Wirklichkeit
Ausgehend von der Erkenntnis, daß der Anspruch des Artikel 3 GG "Niemand darf wegen
seiner Behinderung benachteiligt werden" bislang nicht erfüllt ist, wurden
Möglichkeiten erörtert, insbesondere die Arbeitssituation behinderter Menschen zu
verbessern.
Einvernehmen bestand darin, daß trotz gegenteiliger Untersuchungen sowohl bei
Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern - als potentiellen Kollegen - Fehlurteile bestehen
hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Schwerbehinderten. Es gelte deshalb,
Aufklärungsarbeit auf beiden Seiten zu betreiben, um entsprechende Vorurteile abzubauen.
Als weitere Wege zu besseren Integration wurden in die Diskussion eingebracht, daß
Vertreter von Schwerbehinderten gemeinsam mit den Arbeitgebern
- in Betrieben Einsatzmöglichkeiten für Behinderte aufspüren und eine
intensive Beratung von Arbeitgebern aufbauen,
- vor Ort die betrieblichen Zusammenhänge daraufhin überprüfen, wie sie den
Anforderungen der Betroffenen stärker angepaßt werden können (um dadurch - unter
Umständen sogar Effizienzerhöhungen für Arbeitgeber zu erzielen),
- die Möglichkeit eröffnen, in den Betrieben Praxis zu erwerben,
- eine intensiv begleitete Einarbeitungsphase vereinbaren.
Allerdings müßten von der Politik die finanziellen Ressourcen für die
Umsetzung solcher Modelle bereitgestellt werden.
Auch die Vielfalt der gesetzlichen Vorschriften wurde als Hinderungsgrund für die
Beschäftigung Schwerbehinderter angesehen. Neben einer Vereinheitlichung der
Rechtsvorschriften wurde deshalb gefordert, den Betrieben und Verwaltungen jemanden zur
Verfügung zu stellen, der ihnen beim "Gang durch den Dschungel" behilflich ist.
Differenzierte Auffassungen bestanden darüber, ob die Schutzvorschriften für
Schwerbehinderte hilfreich oder hinderlich sind. Während die Arbeitgeberseite eher dazu
tendierte, die entsprechenden Vorschriften abzuschaffen, plädierten die Vertreter der
Betroffenen für eine Beibehaltung bzw. für eine Verschärfung der Vorschriften. Neben
einer Erhöhung der Ausgleichsabgabe könnte z.B. die Vergabe öffentlicher Aufträge an
die Erfüllung der Beschäftigungsquote Schwerbehinderter geknüpft werden.
Arbeitsgruppe
Insgesamt 14 Arbeitsgruppen haben in Suhl Perspektiven des Wandels in der Rehabilitation
diskutiert. Die Ergebnisse wurden vom Geschäftsführer der BAR, Bernd Steinke, in
folgenden Schwerpunkten zusammengefaßt:
- Die Diskussion nahezu aller Arbeitsgruppen hat die Vorreiterrolle der Rehabilitation bei
der Versorgung chronisch kranker Menschen eindrucksvoll betont. Eine Forderung ging
deshalb dahin, den Stellenwert der Rehabilitation und Prävention neben der Akutmedizin
auszubauen.
- Einvernehmen bestand in der Feststellung, daß nach wie vor ein Defizit besteht an
Kenntnissen über die jeweiligen Zuständigkeiten im gegliederten System. Neben der
Forderung nach mehr Transparenz wurde eine Verbesserung der Nahtlosigkeit zur Vermeidung
von Wartezeiten, z.B. bei einem Trägerwechsel, als unverzichtbares Element wirksamer
Rehabilitation angesehen.
- Eng damit verknüpft ist die Forderung nach rechtzeitiger Einleitung der gebotenen
Maßnahmen, weil verspätete Maßnahmen zu einem irreversiblen Verlust von
Rehabilitationspotential führen können.
- Um die Verzahnung der Behandlungskette zu optimieren, wird eine regionale Vernetzung von
Akut- und Rehabilitationsmedizin ebenso für erforderlich angesehen, wie eine enge
Zusammenarbeit aller in der Behandlung tätigen Berufsgruppen. Dies gilt gleichermaßen
für medizinische und berufliche Rehabilitation sowie für den Bereich der Nachsorge.
- Eine stärkere Flexibilisierung wird grundsätzlich befürwortet. Voraussetzungen sind
der Aufbau qualifizierter gestufter Rehabilitationsangebote, bedarfsgerechte, detaillierte
Rehabilitationskonzepte (Behandlungs- bzw. Therapiestandards) und
Rehabilitationsleitlinien sowie eine das gesamte Maßnahmeangebot umfassende
Rehabilitationsberatung.
- Das Ziel, Behinderten eine volle gesellschaftliche Teilhabe zu sichern, erfordert ein
eigenes Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen. Daneben werden begleitende
personenorientierte soziale Hilfen als unverzichtbar angesehen, um Behinderten eine
eigenverantwortliche und selbstbestimmte Lebensführung innerhalb der Gesellschaft zu
ermöglichen.
- Breiten Raum nahmen die Diskussionen um eine barrierefreie Gestaltung von Gebäuden,
Wegen, Plätzen und Verkehrsmitteln ein. In diesem Zusammenhang wurde neben der
grundsätzlichen Berücksichtigung der Kriterien der Barrierefreiheit auf europäischer
Ebene eine Abstimmung zur barrierefreien Gestaltung öffentlicher Bereiche und auf
nationaler Ebene zur Umsetzung barrierefreier Konzepte, die Schaffung eines
Kontrollgremiums, an dem auch behinderte Menschen und ihre Organisationen beteiligt sind,
gefordert.
- Einigkeit bestand in der Forderung nach einem Ausbau von Qualitätssicherung und
Rehabilitationsforschung. Neben Struktur- und Prozeßqualität muß dabei der Fokus der
Qualitätssicherung auf einer zielorientierten Erfassung der Ergebnisqualität beruhen.
Zur Vermeidung von Doppelbelastungen wird eine Harmonisierung bestehender
Qualitätssicherungsverfahren gefordert.
- Die Rehabilitationsforschung soll stärker befähigt werden, aktuelle Problemfelder
anzugehen und von sich aus neue Impulse in die Diskussion einzubringen.
- Schließlich wurde in nahezu allen Arbeitsgruppen mit Nachdruck eine Verbesserung der
ärztlichen Ausbildung im rehabilitativen Bereich gefordert.
Umsetzung der Ergebnisse
Die vielfältigen Anregungen, Vorschläge und Ergebnisse des Bundeskongresses werden von
der BAR zunächst in einer Broschüre "Perspektiven des Wandels in der
Rehabilitation" der Fachöffentlichkeit vorgelegt. Damit soll vor allem ein Beitrag
zur schnellen Umsetzung der Ergebnisse geleistet werden. Weiterhin wird die BAR noch in
diesem Jahr eine umfangreiche Kongreßdokumentation herausgeben. Für die BAR verbindet
sich damit die Hoffnung, daß die Ergebnisse für die Weiterentwicklung in den relevanten
Bereichen intensiv genutzt werden und die Beteiligten im gesamten Rehabilitationsgeschehen
zu entsprechenden Aktivitäten angeregt werden. Die in den Kompetenzbereich der BAR
fallenden Anregungen werden selbstverständlich ebenfalls unverzüglich aufgegriffen
(Quelle: BAR Reha Info-Nr. 3/1999).
Werner Schell (08/99)
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