Das Behindertenrecht orientiert sich an der Menschenwürde
Das Rechtsgebiet ist ein wichtiger, aber allzuoft vernachläßigter Teil
des gegliederten Systems der sozialen Sicherung
Die Menschenwürde steht im Vordergrund
Mit dem Sozialstaatsprinzip, zu dem sich das Grundgesetz (GG) in Art. 20 und 28 bekennt,
ist die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zu einem tragenden Grundsatz aller
staatlichen Maßnahmen erhoben worden. Der Staat hat die Aufgabe, besonders die
Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sozial zu gestalten:
Menschenwürdige Lebensbedingungen sind zu gewährleisten (Art. 1 GG). Im übrigen gilt: "Niemand
darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" (Art. 3 Abs. 3 GG).
« Unsere grundsätzlich auf Leistung und Wettbewerb ausgerichtete
Gesellschaft ist nur dann in Ordnung, wenn sie behinderten Minderheiten volle Achtung, volle Gemeinschaft und ein Höchstmaß an Eingliederung gewährt »
Gustav Heinemann, ehemaliger Bundespräsident |
In der Bundesrepublik Deutschland hat sich ein gegliedertes System der sozialen Sicherung
entwickelt (siehe Abbildung "Die Absicherung von Lebensrisiken im gegliederten System
der sozialen Sicherung"). Dieses System bietet Schutz bei einer Vielzahl von
Lebensrisiken, wie Krankheit und Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit, garantiert Fürsorge
gegenüber Hilfsbedürftigen und gewährleistet einen Ausgleich bei sozialer Ungleichheit.
Das Behindertenrecht ist zersplittert und unübersichtlich
Bedauerlicherweise gibt es für die Behinderten in Deutschland kein eigenes, das
Rechtsgebiet abschließend regelndes Gesetz und keine einheitliche Zuständigkeit
staatlicher oder kommunaler Behörden. Vielmehr bestehen viele Einzelvorschriften
nebeneinander, die auf den Lebenssachverhalt der Behinderung (oder ähnliche Begriffe)
abstellen und daran vielfältige Rechtsfolgen knüpfen. Teilweise handelt es sich dabei um
Rechtsvorschriften, die sich auf Behinderte beziehen, diese aber nur als eine
Personengruppe neben vielen anderen erfassen.
Die verschiedenartigen, sich teilweise überschneidenden Vorschriften machen den Umgang
mit dem Behindertenrecht äußerst schwierig. Daran hat bislang auch die Kodifizierung des
Sozialrechts im Sozialgesetzbuch (SGB) kaum etwas geändert. Grundlegende Aussagen des
Behindertenrechts finden sich nicht nur im SGB I (z.B. §§ 1,10, 18 - 24, 28 und 29),
sondern auch in den "besonderen Teilen" des SGB (z.B. SGB VI -Gesetzliche
Rentenversicherung- und SGB XI -Soziale Pflegeversicherung-). Gesetze, die sich speziell
mit Behinderten befassen, sind z.B. das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) und das Gesetz
über die Sozialversicherung Behinderter.
Die verschiedenen Folgerungen, die sich aus dem Tatbestand einer Behinderung ergeben
können, lassen sich wie folgt unterscheiden:
Gewährung von Leistungen und Nachteilsausgleichen (z.B. Rehabilitationsleistungen, Renten
bei Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, Dienst-, Sach- bzw. Geldleistungen bei
Pflegebedürftigkeit, Steuervergünstigungen und Gebührenbefreiungen) sowie
Schutz im Rechtsverkehr (z.B. Verhinderung von Benachteiligungen, Nichtigkeit von
Willenserklärungen, Einrichtung von Betreuungen) und nach der Begehung von Straftaten
(z.B. Schuldunfähigkeit bzw. verminderte Schuldfähigkeit).
Abbildung: Die Absicherung von Lebensrisiken im gegliederten System der sozialen
Sicherung
Lebensrisiken |
zuständige Institutionen |
Leistungen; z.B.
|
Krankheit, Arbeitsunfähigkeit u.a. |
Krankenversicherung |
Früherkennung, Behandlung, Medizin, Rehabilitation, Krankengeld |
Pflegebedürftigkeit |
Pflegeversicherung |
Leistungen zur Pflege (Pflegegeld, Sachleistungen) |
Beruflich bedingte Gesundheitsschäden |
Unfallversicherung |
Medizinische und berufliche Rehabilitation, Verletzten- und Übergangsgeld, Renten, Pflege |
Arbeitslosigkeit |
Arbeitslosenversicherung |
Berufliche Rehabilitation, Ausbildungs- und Übergangsgeld, Arbeitslosengeld und -hilfe, Arbeitsvermittlung |
Gesundheitsschäden durch Sonderopfer |
Versorgung |
Medizinische und berufliche, ggf. soziale Rehabilitation, Versorgungskranken- und Übergangsgeld, Renten, Pflege |
Besondere Belastungen |
Ausgleichssysteme |
Geldleistungen: Kinder- und Wohngeld
Befreiungen: unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr. Sonderrechte: Kündigungsschutz |
SELBSTHILFE
durch eigenes Einkommen, Vermögen und Hilfe Unterhaltsberechtigter
SOZIALHILFE
(finanziert
durch Steuern)
|
Der Begriff
"Behinderung" aus rechtlicher Sicht
Eine einheitliche Definition des Begriffes "Behinderung" gibt es weder im
Sozialrecht noch in anderen Rechtsvorschriften. Die einschlägigen gesetzlichen Regelungen
erläutern den Begriff verschieden ("schillernd"). Die Definition von
"Behinderung" ist davon abhängig, in welchem rechtlichen Zusammenhang sie
vorkommt.
Allgemein läßt sich feststellen: Behinderung ist die sich aus einem
(Organ)Schaden (= impairment) ergebende körperliche, geistige oder seelische (psychische)
Einschränkung oder das Fehlen von Fähigkeiten (= disability), die für immer, zumindest
aber für längere Zeit (in der Regel über 6 Monate) bestehen bleibt und ins Gewicht
fallende Beeinträchtigungen (= handicap) nach sich zieht.
Nach den Vorschlägen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kann man die
Gesundheitsstörung als Folge einer Behinderung mit ihrer funktionellen und sozialen
Beeinträchtigung zur Ermittlung des individuellen Hilfebedarfs wie folgt darstellen:
WHO-Klassifikation: |
Beispiel |
Ursache
einer Behinderung:
° Krankheit
° angeborenes Leiden
° äußere Schädigung (Verletzung)
führt zu Schaden = Gesundheitsstörung
(Impairment) |
Krankheit:
Herzinfarkt mit hohem Schweregrad |
↓
mit funktioneller Einschränkung
(Disability) |
mit erheblicher Reduzierung der Belastbarkeit |
↓
und sozialer Beeinträchtigung
(Handicap),
z.B. Beeinträchtigung der Unabhängigkeit, Beweglichkeit, Familienbeziehung, Freizeitmöglichkeiten, Berufsmöglichkeiten
verbunden mit Therapie- und Betreuungsbedarf sowie Einkommensminderung |
Nach Akut- oder Langzeitbehandlung berufliche Neuorientierung (z.B. Arbeitsplatzanpassung) und
Umstellung der Lebensgewohnheiten (z.B. Nikotinkarenz, Ernährung, Sport in Koronargruppe) |
Die verschiedenen Behinderungen:
Körperbehinderung ist eine organische Beeinträchtigung; z.B. Beeinträchtigungen
des Stütz- und Bewegungssystems, innere Krankheiten.
Geistige Behinderung ist ein angeborener oder frühzeitig erworbener
Intelligenzdefekt. Bei der Beurteilung von geistigen Behinderungen wird in erster Linie
auf die Lebensbewährung und soziale Tüchtigkeit im Einzelfall abgestellt.
Seelische Behinderung ist eine bleibende psychische Beeinträchtigung, die den
Betroffenen daran hindert, bestimmte Rollen oder Funktionen so auszuüben, wie die Umwelt
es erwartet.
Oft treffen mehrere Behinderungen zusammen. Sie können sich in ihren Auswirkungen
überschneiden und gegenseitig verstärken. Die wechselseitigen Beziehungen der einzelnen
Behinderungen sind bei der Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) bzw. der
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu berücksichtigen.
Abbildung: Der "schillernde" Begriff der Behinderung in einigen
ausgewählten Rechtsgebieten
Rechtsgebiet |
Begriff der Behinderung |
Arbeitsförderung
(§ 19 SGB III) |
Behinderte Behinderte
sind körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigte Personen, deren Aussichten,
beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben, wegen Art oder Schwere ihrer
Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb Hilfen zur
beruflichen Eingliederung benötigen. Den Behinderten stehen diejenigen Personen gleich,
denen eine Behinderung mit den genannten Folgen droht. |
Schwerbehindertenrecht
(§§ 1, 3 SchwbG) |
(Schwer)Behinderung Behinderung
ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf
einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig
ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur
vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten. Die Auswirkung der
Funktionsbeeinträchtigung ist als Grad der Behinderung (GdB), nach Zehnergraden
abgestuft, von 20 bis 100 festzustellen.
Schwerbehinderung liegt bei einem GdB von wenigstens 50 vor. |
Gesetzliche Krankenversicherung
(§ 27 SGB V) |
(Chronische)
Krankheit
Regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der
Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Es brauchen keine
besonderen Beschwerden oder Schmerzen vorzuliegen. Die Ursache der Krankheit ist
unbeachtlich. |
Gesetzliche Rentenversicherung
(§ 43 SGB VI) |
Berufsunfähigkeit
Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder Behinderung auf
weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden
Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten
gesunken ist. |
Gesetzliche Rentenversicherung
(§ 44 SGB VI) |
Erwerbsunfähigkeit
Erwerbsunfähig ist ein Versicherter, der infolge von Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit
außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben, oder
nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. |
Sozialhilferecht
(§ 39 BSHG) |
Behinderte
Behinderte sind Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich
behindert sind. Den Behinderten stehen die von einer Behinderung Bedrohten gleich. |
Bedeutsam ist
die Unterscheidung zwischen dem Kausal- und Finalprinzip:
Für das Kausalprinzip ist entscheidend, daß eine Leistung nur
gewährt wird, wenn die Behinderung auf eine bestimmte Ursache abgestellt werden kann,
z.B. Arbeitsunfall in der gesetzlichen Unfallversicherung.
Beim Finalprinzip spielt die Ursache der Behinderung keine Rolle.
Allein maßgebend ist die konkrete Bedarfssituation. Das Finalprinzip gilt z.B. im Recht
der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, im Schwerbehindertenrecht sowie im
Sozialhilferecht.
Krankheit und
Behinderung stehen in Beziehung zueinander:
Denn das Abweichen von der Norm, die durch
das Leitbild des gesunden Menschen geprägt ist, ist für die Behinderung ebenso ein
Merkmal wie für die Krankheit. Während man jedoch unter einer Krankheit eine
Regelwidrigkeit versteht, die oft behebbar oder deren Fortschreiten aufhaltbar ist, muß
in der Dauerhaftigkeit oder der schwereren Überwindbarkeit der Behinderung ein
Unterschied gesehen werden. Es kommt nicht mehr auf die Behandlung an, sondern auf eine
Menge verschiedener Hilfen zur Eingliederung. Krankheit und Behinderung können daher nach
Dauer und Ausmaß der Beeinträchtigung unterschieden werden.
Die statistische Erfassung Behinderter
Die Zahl der in Deutschland lebenden Behinderten ist nicht genau bekannt.
Einmal hat dies mit dem "schillernden" Behindertenbegriff zu tun, zum anderen
gibt es keine umfassende Meldepflicht für Behinderte. Statistisch werden seit 1985 nur
die Schwerbehinderten erfaßt, das sind Personen, denen ein GdB von 50 oder mehr zuerkannt worden ist.
Am 31.12.1997 waren bei den Versorgungsämtern der Bundesrepublik
Deutschland 6.596.502 amtlich anerkannte Schwerbehinderte mit gültigem Ausweis
registriert. Das entspricht einem Anteil von rund 8 % der Bevölkerung (Quelle:
Statistik der Schwerbehinderten des Statistischen Bundesamtes von Ende Juli 1998; Stand
31.12.1997).
Nach der Ursache der Behinderung ergibt sich folgende Gliederung:
Angeborene Behinderung 308.154
Allgemeine Krankheit (einschließlich Impfschaden) 5.594.735
Arbeitsunfall (einschließlich Wegeunfall), Berufskrankheit 90.251
Verkehrsunfall 44.850
Häuslicher Unfall 10.106
Sonstiger oder nicht näher bezeichneter Unfall 32.515
Anerkannte Kriegs-, Wehrdienst- oder Zivildienstbeschädigung 211.733
Sonstige, mehrere oder ungenügend bezeichnete Ursachen 304.158
Insgesamt 6.596.502
Nach der Art der Behinderung ergibt sich folgende Gliederung:
Körperlich schwerbehindert 4.856.075
Geistig/seelisch schwerbehindert 974.814
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen 765.613
Insgesamt 6.596.502
Die Behinderungsarten im einzelnen:
Verlust oder Teilverlust von Gliedmaßen 106.746
Funktionseinschränkung von Gliedmaßen 1.002.490
Funktionseinschränkung der Wirbelsäule und des Rumpfes,
Deformierung des Brustkorbes 1.006.669
Querschnittslähmung 16.310
Blindheit und Sehbehinderung 341.593
Sprach- oder Sprechstörungen, Taubheit, Schwerhörigkeit,
Gleichgewichtsstörungen 235.839
Verlust einer Brust oder beider Brüste, Entstellungen u.a. 171.213
Beeinträchtigung der Funktion von inneren Organen bzw. Organsystemen 1.975.215
Hirnorganische Anfälle 144.843
Hirnorganisches Psychosyndrom, symptomatische Psychosen 364.784
Störungen der geistigen Entwicklung 260.349
Psychosen (Schizophrenie, affektive Psychosen); Neurosen, Persönlichkeits- und
Verhaltensstörungen 188.419
Suchtkrankheiten 16.419
Sonstige und ungenügend bezeichnete Behinderungen 765.613
Insgesamt 6.596.502
Werner Schell
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