Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst müssen bei Zweifeln ihre Ärzte
von der Schweigepflicht entbinden
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 06. 11. 1997 - 2
AZR 801/96 - entschieden, dass Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst bei Zweifeln über
ihre Dienstfähigkeit ihre Ärzte von der Schweigepflicht entbinden müssen. Eine
Weigerung stellt eine grobe Pflichtverletzung und damit einen Grund für eine fristlose
Kündigung dar.
Sachverhalt: Der Entscheidung des BAG lag die Klage eines
Arbeitnehmers zu Grunde, der bei einer Landeszentralbank tätig war. Im Verlaufe von ca. 5
Jahren war der Arbeitnehmer an insgesamt 1.149 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt.
Daraufhin forderte ihn sein Arbeitgeber unter Hinweis auf den Tarifvertrag auf, einen
Antrag auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente bei der Bundesversicherungsanstalt
für Angestellte (BfA) zu stellen. Dieses Ansinnen wies der Arbeitnehmer zurück.
Daraufhin forderte ihn der Arbeitgeber auf, sich beim Gesundheitsamt einer amtsärztlichen
Untersuchung zu unterziehen. Dort verweigerte der Arbeitnehmer allerdings seine Zustimmung
zur Hinzuziehung der fachärztlichen Vorbefunde durch den Amtsarzt. Daher wurde das
amtsärztliche Gutachten mit der Einschränkung versehen, die zur vollständigen Klärung
des Krankheitsbildes erforderlichen fachärztlichen Vorbefunde hätten nicht vorgelegen,
allein auf Grund der Untersuchungen habe sich eine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nicht
feststellen lassen. Nachdem der Arbeitgeber Kenntnis von dem Inhalt dieses Gutachtens
erlangt hatte, forderte er den Arbeitnehmer erneut "ultimativ" auf, dem
Gesundheitsamt die benötigten Unterlagen vorzulegen bzw. zukommen zu lassen und drohte
ihm andernfalls eine außerordentliche Kündigung an. Nachdem innerhalb der gesetzten
Frist die erforderlichen Unterlagen nicht eingegangen waren, kündigte der Arbeitgeber dem
Arbeitnehmer außerordentlich.
Gegen diese Entscheidung wandte sich der Arbeitnehmer (Kläger) an das Arbeitsgericht
(ArbG), wo er zunächst obsiegte. Auch das Landesarbeitsgericht (LAG) gab dem klagenden
Arbeitnehmer Recht. Das BAG entschied jedoch, dass die Klage nicht rechtens sei. Es folgte
damit nicht der Ansicht des Klägers, dass die Kündigung unwirksam sei, weil er keine
schuldhafte Pflichtverletzung begangen habe.
Das BAG führte in den Entscheidungsgründen aus, dass der Kläger entsprechend den
einschlägigen Vorschriften des Tarifvertrages verpflichtet gewesen sei, sich der
Untersuchung durch das Gesundheitsamt zu unterziehen. Entsprechend einer Vorschrift dieses
Tarifvertrages (vergleichbare Vorschriften finden sich auch in anderen Tarifverträgen,
wie z. B. dem Bundesangestelltentarifvertrag - BAT -) ende das Arbeitsverhältnis unter
bestimmten Voraussetzungen, wenn durch Bescheid des Rentenversicherungsträgers
festgestellt werde, dass der Angestellte berufs- oder erwerbsunfähig sei. Verzögere der
Angestellte schuldhaft den Rentenantrag, trete an die Stelle des Bescheides des
Rentenversicherungsträgers das entsprechende Gutachten eines Amtsarztes. Der Tarifvertrag
lasse die Anordnung der ärztlichen Untersuchung durch den Amtsarzt aus "gegebener
Veranlassung" zu und bestimme weiter nur, von der Befugnis dürfe nicht willkürlich
Gebrauch gemacht werden. Es bestünden hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür,
dass der Angestellte nicht lediglich vorübergehend arbeitsunfähig, sondern berufs- oder
erwerbsunfähig sei, und er habe auf entsprechende Aufforderung hin trotzdem schuldhaft
keinen Rentenantrag gestellt. So bestehe für den Arbeitgeber eine "gegebene
Veranlassung", ein amtsärztliches Gutachten einzuholen, dem sich der Angestellte
entsprechend dem Tarifvertrag zu unterziehen müsse.
Diese Pflicht des Angestellten verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht. Zwar
tangiere eine derartige ärztliche Untersuchung stets die Intimsphäre des Arbeitnehmers,
andererseits würden aber Grundrechtspositionen des Arbeitgebers verletzt, würde nicht
sein berechtigtes Bedürfnis auf Information darüber erfüllt, ob lediglich eine
vorübergehende Arbeitsunfähigkeit oder eine Erwerbsunfähigkeit des Angestellten
vorliege. Ohne diese Informationen liefe der Arbeitgeber Gefahr, jahrelang
Entgeltfortzahlungsleistungen während einer Erwerbsunfähigkeit des Angestellten zu
erbringen, für die normalerweise der Rentenversicherungsträger einzutreten habe. Die
Interessen des Arbeitnehmers seien hinreichend durch die dem untersuchenden Arzt
obliegende Schweigepflicht geschützt. Damit seien die Voraussetzungen für eine
Mitwirkungspflicht des Klägers bei der amtsärztlichen Untersuchung entsprechend den
tarifvertraglichen Vorschriften gegeben.
Die Pflicht des Klägers, bei der amtsärztlichen Untersuchung mitzuwirken, beinhalte
entgegen der Annahme der Vorgerichte auch die Verpflichtung, dem Amtsarzt die
fachärztlichen Vorbefunde entweder selbst zur Verfügung zu stellen oder durch eine
entsprechende Entbindung von der Schweigepflicht, den Amtsärzten zu ermöglichen, diese
Unterlagen beizuziehen oder in sie Einsicht zu nehmen. Diese Verpflichtung ergebe sich zum
einen aus dem Tarifvertrag; sie sei im übrigen aber auch ohne entsprechende
tarifvertragliche Regelung anzunehmen und resultiere aus der allgemeinen Treuepflicht des
Arbeitnehmers. Gerade wenn begründete Zweifel an der Tauglichkeit des Arbeitnehmers
bestünden, den Anforderungen seines Arbeitsplatzes aus gesundheitlichen Gründen auf
Dauer gerecht zu werden, könne regelmäßig erst das Zusammenwirken zwischen behandelnden
Ärzten und einem geschulten Arbeitsmediziner einen klaren medizinischen Befund ergeben.
Der Arbeitnehmer, der die sachlich gebundene Begutachtung dadurch verhindere, dass er die
Hinzuziehung der ärztlichen Vorbefunde durch Arbeitsmediziner bzw. Amtsarzt verweigere,
verstoße gegen seine Treuepflicht. Dies sei - je nach Umständen - geeignet, eine
Kündigung, auch eine außerordentliche Kündigung eines tariflich ordentlich nicht mehr
kündbaren Arbeitnehmers zu rechtfertigen. Der Arbeitnehmer, der berufs- oder
erwerbsunfähig sei, aber schuldhaft die Stellung eines Rentenantrags verzögere, handele
grob pflichtwidrig. Das Gleiche gelte, wenn er schuldhaft eine ordnungsgemäße
Begutachtung durch den Amtsarzt zur Feststellung seiner Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit
unmöglich mache. Könne der Amtsarzt dem Arbeitnehmer trotz bestehender
Erwerbsunfähigkeit wegen fehlender Vorbefunde nur eine vorübergehende
Arbeitsunfähigkeit bescheinigen, so stelle dies eine erhebliche Gefährdung und zumeist
Schädigung der Vermögensinteressen des Arbeitgebers dar, denn er laufe Gefahr, zu
Unrecht Entgeltfortzahlungsleistungen erbringen zu müssen. Der Pflichtverstoß, die
Beiziehung von Vorbefunden zu verhindern, sei nicht anders zu bewerten, als wenn der
Arbeitnehmer zwar einen Rentenantrag stelle, aber die zu dessen Bearbeitung etwa
erforderlichen Auskünfte und Unterlagen nicht einreiche oder deren Beiziehung dadurch
verhindere, dass er z. B. die behandelnden Ärzte nicht von der Schweigepflicht entbinde.
Dann könne es aber für die Bewertung des Fehlverhaltens des Arbeitnehmers keinen
Unterschied machen, ob dieser seinen Mitwirkungspflichten gegenüber dem
Rentenversicherungsträger oder gegenüber dem nach dem Tarifvertrag in zulässiger Weise
beauftragten Amtsarzt nicht nachkomme.
Diese somit festgestellte Pflichtverletzung des Klägers sei grundsätzlich geeignet, eine
außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen.
Werner Schell (16.7.2000)
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