Arbeitnehmer dürfen sich nicht selbst gesundschreiben
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil vom 29. 10. 1998 - 2 AZR
666/97 - entschieden, dass ein Arbeitgeber das Arbeitsangebot eines Arbeitnehmers dann
zurückweisen darf, wenn der Arbeitnehmer nach ärztlicher Feststellung nicht in der Lage
ist, die Leistung zu erbringen.
Der Entscheidung des BAG lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein
Chemiearbeiter war bei seinem Arbeitgeber überwiegend im Bereich der Wartungs- und
Reparaturarbeiten in den freien Außenlagen des Betriebes beschäftigt und nur zu einem
geringen Anteil auch an geschlossenen Anlagen. Dabei musste er zum Teil auf bis zu 24 m
hohe Anlagebühnen steigen, die nur über Treppen zu erreichen waren. Nach einer Phase der
Arbeitsunfähigkeit von etwas mehr als 8 Monaten bescheinigte ihm sein behandelnder Arzt
Arbeitsfähigkeit mit der Folge, dass der Arbeitnehmer bei seinem Arbeitgeber erschien, um
seine Arbeit wieder aufzunehmen. Daran wurde er jedoch vom Arbeitgeber gehindert unter
Hinweis auf eine Stellungnahme des Werksarztes, der festgestellt hatte, dass der
Arbeitnehmer seine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung auf Dauer würde nicht
mehr erbringen können. Aus diesem Grunde könne er an diesem Arbeitsplatz nicht
beschäftigt werden. Später kündigte der Arbeitgeber dann das Arbeitsverhältnis unter
Hinweis darauf, dass ein Arbeitsplatz für leichtere Arbeiten nicht vorhanden sei.
Der Chemiearbeiter klagte gegen diese Kündigung und die Weigerung des Arbeitgebers, ihn
arbeiten zu lassen, mit der Begründung, er habe sehr wohl seine alte Tätigkeit wieder
ausüben und ohne jede Mühe Treppenstufen bewältigen können. Wenn der Arbeitgeber davon
ausgehe, dass er seine Arbeitsleistung nicht mehr habe erbringen können, so hätte dieser
ihm einen leidensgerechten Arbeitsplatz zuweisen bzw. einen solchen durch Ausübung des
Direktionsrechts freimachen müssen. Der Arbeitgeber behauptete dagegen, der Arbeiter sei
aus gesundheitlichen Grüneden nicht mehr in der Lage gewesen, seine vertraglich
geschuldete Arbeit zu erbringen. Die Kündigung habe letztlich auch nicht durch eine
Weiterbeschäftigung des Chemiearbeiters im Betrieb auf einem leidensgerechten
Arbeitsplatz vermieden werden können, da ein solch gleichwertiger oder jedenfalls
zumutbarer Arbeitsplatz mit einer Arbeit, für die der Kläger geeignet sei, weder frei
gewesen sei, noch durch Ausübung des Direktionsrechts hätte freigemacht werden können.
Im Zuge des Personalabbaus, dem der Betrieb zu diesem Zeitpunkt unterlegen habe, seien
leichte Arbeitsplätze, auf denen Mitarbeiter in niedrigen Entgeltgruppen beschäftigt
worden seien, weggefallen.
Nachdem das Arbeitsgericht (ArbG) zunächst der Klage des Chemiearbeiters auf Feststellung
der Unwirksamkeit der Kündigung und dem Antrag auf Fortzahlung des Lohnes stattgegeben
hatte, hatte das Landesarbeitsgericht (LAG) die Klage abgewiesen. Auf die Revision des
Chemiearbeiters entschied auch das BAG, dass die Klage letztlich abzuweisen sei.
In den Entscheidungsgründen führte das BAG dazu aus, dass eine
dauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers die vertraglich
geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, als personenbedingter Kündigungsgrund nach § 1
Kündigungsschutzgesetz (KSchG) eine ordentliche Kündigung sozial rechtfertigen und sogar
bei einem ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer einen wichtigen Grund zur
außerordentlichen Kündigung darstellen könne. Entgegen der Ansicht des Chemiearbeiters
sei dieser krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage gewesen, die geschuldete Tätigkeit
als Hilfshandwerker/Reiniger zu verrichten. Dies sei durch zwei Sachverständigengutachten
festgestellt worden. Auch wenn sich der Chemiearbeiter nach einer langen Krankheitszeit
ohne die körperlichen Belastungen an seinem Arbeitsplatz subjektiv schmerzfrei gefühlt
habe und seine Arbeit habe antreten wollen, stehe dem die dauernde Leistungsunfähigkeit
des Arbeitnehmers gegenüber, die aufgrund objektiv nachprüfbarer medizinischer Befunde
festgestellt worden sei. Auf das subjektive Befinden und die subjektive Ansicht des
Arbeitnehmers, er könne nach einer längeren Arbeitspause seine bisherige Tätigkeit
wieder verrichten, komme es dabei nicht an.
Auch die Bescheinigung des den Chemiearbeiter behandelnden Orthopäden, der Kläger sei
arbeitsfähig, sei für die Entscheidung nicht relevant. Dieser Mediziner habe in seiner
Bescheinigung nicht medizinisch nachprüfbar bestätigt, dass der Chemiearbeiter trotz des
vorangegangenen langen Krankheitszeitraums auf Dauer in der Lage sei, seine
vertragsmäßige Arbeit zu erbringen. Außerdem habe der Orthopäde während des gesamten
Verfahrens eine Mitwirkung an der Tatsachenfeststellung, etwa durch Gestattung der
Einsichtnahme in die Krankenunterlagen, gegenüber beiden Sachverständigen nachdrücklich
abgelehnt.
Die sich somit aus dem Sachverständigengutachten ergebende Unmöglichkeit, die
geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, führe in der Regel zu einer erheblichen
betrieblichen Beeinträchtigung, die eine Kündigung rechtfertigen könne.
Zwar sei in einem solchen Fall zur Vermeidung einer Kündigung zu versuchen, den
Mitarbeiter auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz im Betrieb oder Unternehmen weiter zu
beschäftigen. Voraussetzung hierfür sei jedoch, dass ein solcher gleichwertiger oder
jedenfalls zumutbarer Arbeitsplatz frei und der Arbeitnehmer für die dort zu leistende
Arbeit geeignet sei. Ggf. habe der Arbeitgeber einen solchen Arbeitsplatz auch durch
Ausübung seines Direktionsrechts freizumachen und sich auch um die evtl. erforderliche
Zustimmung des Betriebsrates zu bemühen. Diese Möglichkeit sei jedoch vom Arbeitgeber
bestritten worden und auch vom Arbeitnehmer sei nicht einmal ein Arbeitsbereich benannt
worden, in dem er sich eine Weiterbeschäftigung habe vorstellen können. Es sei nicht zu
beanstanden, wenn bei dieser Sachlage nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast
davon ausgegangen werde, dass zum Zeitpunkt der Kündigung eine anderweitige
Beschäftigung des Klägers auf einem freien Arbeitsplatz nicht möglich war und durch den
Arbeitgeber auch nicht durch Ausübung des Direktionsrechts ermöglicht werden konnte.
Werner Schell (12.7.2000)
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