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Das Zuwanderungsgesetz ist am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. Vorausgegangen war ein äußerst langwieriges Gesetzgebungsverfahren, das in der Öffentlichkeit, im Bundestag und Bundesrat kontrovers diskutiert wurde.

Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 im Schloss Bellevue in Berlin

Ich möchte Sie über meine Entscheidung zum Zuwanderungsgesetz unterrichten.

A.

Der Deutsche Bundestag hat das Zuwanderungsgesetz am 1. März 2002 verabschiedet. Am 22. März 2002 hat der Bundesrat beschlossen, dem Gesetz gemäß Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes zuzustimmen - so hat es der Präsident des Bundesrates festgestellt. Am 17. April 2002 ist mir die Gesetzesurschrift zur Ausfertigung gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes zugeleitet worden.

Gegen den Beschluss des Bundesrates sind verfassungsrechtliche Einwände erhoben worden. Sie betreffen die Frage, ob die vier Stimmen des Landes Brandenburg vom Präsidenten des Bundesrates zu Recht als "Ja"-Stimmen gewertet worden sind; wäre das nicht der Fall, hätte das Gesetz die für eine Zustimmung des Bundesrates erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen nicht erreicht. Das Gesetz wäre nicht zustande gekommen.

Ich habe das Zuwanderungsgesetz wie jedes andere Gesetz sorgfältig auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ich habe mich mit dem tatsächlichen Ablauf der Sitzung und der Abstimmung und mit den sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Fragen eingehend befasst. Ich habe viele Gespräche geführt und ich habe verfassungsrechtlichen Rat erfahren.

Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe ich das Zuwanderungsgesetz heute morgen unterzeichnet und den Auftrag zur Verkündung im Bundesgesetzblatt erteilt. Nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und nach der Staatspraxis ist der Bundespräsident nur dann berechtigt und verpflichtet, von der Ausfertigung eines Gesetzes abzusehen, wenn er die sichere Überzeugung gewonnen hat, dass zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Zu dieser Überzeugung bin ich im vorliegenden Fall nicht gekommen.

Ich habe heute einen Brief an die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane geschrieben, an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat, in dem ich sie über meine Entscheidung unterrichte. Der Brief ist ihnen heute mittag zugestellt worden. Der Wortlaut des Briefes steht im Anschluss an diese Erklärung allen Interessierten zur Verfügung. Die Regierungschefs der Länder, die mir geschrieben und ihre Briefe veröffentlicht haben, habe ich ebenfalls über meine Entscheidung unterrichtet.

I.

Ich möchte Ihnen die wichtigsten Gesichtspunkte für meine Entscheidung erläutern. Den maßgeblichen Sachverhalt darf ich als bekannt voraussetzen; ich möchte ihn hier nur kurz rekapitulieren:

Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, haben zunächst Minister Ziel mit "Ja" und Minister Schönbohm mit "Nein" gestimmt. Daraufhin hat der Präsident des Bundesrates auf das Gebot der einheitlichen Stimmabgabe hingewiesen und an den Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg die Frage gerichtet, wie das Land abstimme. Ministerpräsident Stolpe hat geantwortet: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja." Dem hat Minister Schönbohm angefügt: "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident." Der Bundesratspräsident hat daraufhin die Stimmabgabe des Landes Brandenburg als "Ja" gewertet. Nach den dagegen protestierenden Zwischenrufen anderer Mitglieder des Bundesrates hat der Präsident des Bundesrates erneut Ministerpräsident Stolpe gefragt, dieser hat seine Antwort wiederholt; Minister Schönbohm hat dem keine Äußerung mehr folgen lassen.

Kern des verfassungsrechtlichen Streits ist die Auslegung von Art. 51 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Er enthält das Gebot, dass bei einer Abstimmung im Bundesrat die Stimmen eines Landes "nur einheitlich abgegeben" werden können. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In der verfassungsrechtlichen Literatur ist ihre Auslegung umstritten.

Die eine Meinung schließt aus dem Wortlaut der Vorschrift ("können nur"), dass bei einem Verstoß gegen dieses Gebot die Stimmabgabe des Landes unmittelbar als ungültig zu bewerten sei.

Die Gegenansicht weist darauf hin, dass das Grundgesetz die Rechtsfolge eines Verstoßes nicht ausdrücklich festlege. Sie fragt danach, ob und wie nach einer ersten uneinheitlichen Stimmabgabe noch eine der Verfassung gemäße Stimmabgabe zu erreichen sei. Sie sieht dafür die Entscheidung des jeweiligen Regierungschefs des Landes kraft seiner Richtlinienkompetenz als ausschlaggebend an.

Beide Seiten können gewichtige Gründe für ihren Standpunkt anführen. Ich habe mir darüber in den vergangenen Wochen einen umfassenden Überblick verschafft. Namhafte Verfassungsrechtler haben sich unabhängig von oder aus Anlass der Bundesratssitzung vom 22. März 2002 in dem einen oder in dem anderen Sinne geäußert. Sie kommen mit unterschiedlicher Begründung zu gegenteiligen Ergebnissen - je nach ihrem rechtlichen Ausgangspunkt, aber auch je nachdem, wie sie den tatsächlichen Ablauf und die Äußerungen in dieser Sitzung bewerten.

Wer den Wortlaut der zitierten Grundgesetzvorschrift für eindeutig hält, für den steht bereits nach der ersten gegensätzlichen Stimmabgabe durch die Minister Ziel und Schönbohm das Ergebnis fest. Daran habe sich auch im weiteren Verlauf nichts geändert, weil Minister Schönbohm auch gegenüber dem späteren Votum von Ministerpräsident Stolpe seine ablehnende Haltung hinreichend deutlich und rechtlich erheblich zum Ausdruck gebracht habe. Die Stimmen des Landes Brandenburg seien ungültig.

Die strengen Vertreter dieser Ansicht sehen weder rechtlich noch tatsächlich einen Grund für eine Nachfrage des Präsidenten des Bundesrates. Für eine solche Befugnis wird dagegen angeführt, dass der Präsident des Bundesrates im Rahmen seiner Sitzungsleitung die Aufgabe habe, auf ein der Verfassung gemäßes Abstimmungsverhalten hinzuwirken.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch zu der Frage, ob Ministerpräsident Stolpe kraft seiner Richtlinienkompetenz die Stimmen des Landes Brandenburg einheitlich mit "Ja" abgeben konnte. Diese Frage berührt das Grundverständnis des Verfassungsorgans Bundesrat, der Rechtsstellung seiner Mitglieder und betrifft auch das Zusammenwirken der Verfassungsräume von Bund und Ländern.

Die Befugnis, in streitigen Fällen kraft Richtlinienkompetenz im Bundesrat für ihr Land abzustimmen, haben Ministerpräsidenten auch in der Vergangenheit schon für sich in Anspruch genommen. Im Unterschied zum vorliegenden Fall ist es bei den damaligen Abstimmungen im Bundesrat aber nicht zu gegenteiligen Äußerungen gekommen.

Wer die Position vertritt, dass die Stimmabgabe von Ministerpräsident Stolpe kraft seiner Richtlinienkompetenz als Regierungschef ausschlaggebend war, für den ist die anschließende Äußerung von Minister Schönbohm rechtlich nicht mehr erheblich.

Zur Gültigkeit der brandenburgischen Stimmen gelangt auch, wer in der Äußerung von Minister Schönbohm, dass seine Auffassung bekannt sei, kein förmliches "Nein" sieht.

Zu demselben Ergebnis gelangt schließlich, wer darauf abstellt, dass Minister Schönbohm jedenfalls nach der erneuten Frage des Präsidenten des Bundesrates dem wiederholten "Ja" seines Regierungschefs nicht mehr widersprochen hat.

II.<

Ich stelle also fest - und nur darauf kommt es an: Bei der Beurteilung der Abstimmung im Bundesrat am 22. März 2002 kann man in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht jeweils mit guten Gründen zu dem einen oder anderen Ergebnis kommen.

Ich wäre aber nur dann berechtigt und verpflichtet, das Gesetz nicht auszufertigen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Mit Blick auf die kontroversen Auffassungen in dieser verfassungsrechtlichen Frage habe ich diese Überzeugung nicht gewinnen können.

Angesichts einer verfassungsrechtlichen Zweifelsfrage so zu entscheiden, wie ich entschieden habe, ergibt sich aus folgendem:

Das Recht und die Pflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz vor der Ausfertigung verfassungsrechtlich zu überprüfen, steht in Konkurrenz und bedarf der sinnvollen Abgrenzung zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Die Staatspraxis, wie meine Amtsvorgänger sie geprägt haben, hat diese Abgrenzung in dem von mir dargestellten Prüfungsmaßstab gefunden.

Ich verweise konkret auf zwei Entscheidungen der Bundespräsidenten Karl Carstens und Roman Herzog. Auch da ging es um formelle und verfahrensrechtliche Fragen des Zustandekommens eines Gesetzes. Diese Entscheidungen haben den Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten deutlich gemacht:

Bundespräsident Karl Carstens hat im Jahr 1981 das Staatshaftungsgesetz ausgefertigt und das damit begründet, dass für ihn ein Verfassungsverstoß nicht "zweifelsfrei und offenkundig" feststehe (so sein Begleitbrief an die beteiligten Verfassungsorgane vom 26. Juni 1981). Bundespräsident Roman Herzog hat im Jahr 1994 ein Gesetz ausgefertigt, in dem es unter anderem um eine Vorschrift des Atomgesetzes ging. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder hatte ihn damals gebeten, das Gesetz nicht auszufertigen, weil es der Zustimmung des Bundesrates bedürfe. Roman Herzog ist dieser Bitte nicht gefolgt; er hat das damit begründet, dass er nicht zu der Überzeugung gelangt sei, dass ein Verfassungsverstoß "zweifelsfrei und offenkundig" vorliege (so die Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes vom 21. Juli 1994).

Ich habe meine Entscheidung in Respekt vor der Kompetenzordnung des Grundgesetzes getroffen, und sie steht in der Kontinuität der Staatspraxis meiner Amtsvorgänger. Nach unserer Verfassungsordnung ist es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, über solche verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen eine endgültige Entscheidung zu treffen. Die verbindliche Entscheidung über die Auslegung des Grundgesetzes ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Wer von den Antragsberechtigten im vorliegenden Fall eine solche Entscheidung für notwendig hält, dem steht der Weg dazu jetzt offen.

B.

So viel zu meiner verfassungsrechtlichen Entscheidung. Lassen Sie mich darüber hinaus noch einige Anmerkungen machen:

I.

Meine erste Anmerkung betrifft das Amt des Bundespräsidenten. Ich erwarte, dass das Amt des Bundespräsidenten nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung hineingezogen wird, wie das in den vergangenen Wochen gelegentlich versucht worden ist. Ich erwarte, dass auch diejenigen meine Entscheidung respektieren, die meinen, sie nicht akzeptieren zu können. Das gebietet der Respekt vor dem Amt des Bundespräsidenten, das mir gegenwärtig anvertraut ist.

II.

Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesrates ist das Wort "Verfassungsbruch" gefallen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Er bedeutet ja, dass jemand bewusst und vorsätzlich gegen die Verfassung gehandelt hat. Verfassungsjuristen unterscheiden dagegen nur, ob ein Vorgang verfassungsgemäß ist oder nicht. Auch ich empfehle diese sachliche Sprache.

Dabei will ich nicht beschönigen, was geschehen ist. In der Sitzung des Bundesrates am 22. März ist eine verfassungsrechtliche Verfahrensvorschrift in gewagter Weise ausgereizt und damit eine politische Kampfsituation auf die Spitze getrieben worden. Das hat eine verfassungsrechtliche Frage offengelegt, die in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Bundesrates bisher noch nicht von Bedeutung war.

Ob der oft erwähnte Vorfall aus dem Jahr 1949 mit dem hier zu beurteilenden Sachverhalt vergleichbar ist, mag dahinstehen; damals ist die abschließende Entscheidung des Ministerpräsidenten jedenfalls allseits akzeptiert worden.

Heute dagegen gibt es verfassungsrechtlichen Streit mit jeweils guten Argumenten Pro und Contra. Das sind keine "juristischen Spitzfindigkeiten".

In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder gelesen, dass Kritiker des Gesetzes mit dem Gang nach Karlsruhe "drohten". Ich verstehe das nicht als "Drohung". Ich hielte es sogar für wünschenswert, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Frage klärte, damit alle, vor allem der Bundesrat und die Länder, Rechtssicherheit haben. Das ist die originäre Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und nicht die des Bundespräsidenten.

III.


Ich habe in den vergangenen Wochen viele Briefe von Bürgerinnen und Bürgern aus Anlass der Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat bekommen: Die Menschen äußern in ihren Briefen Unmut und Empörung. Sie haben den Eindruck, dass es bei der Beratung im Bundesrat weniger um die Sache ging als um eine Machtprobe im Vorfeld der Bundestagswahl und um den Erhalt der Koalition in Brandenburg. Die Art und Weise, wie einige der Beteiligten auf allen Seiten den Ablauf dieser Bundesratssitzung - in welchem Maße auch immer - erkennbar abgesprochen und politisch inszeniert haben, hat auf viele Menschen einen verheerenden Eindruck gemacht. Was am 22. März im Bundesrat geschehen ist, das hat dem Ansehen der Politik insgesamt geschadet und die ohnehin verbreitete Politik- oder Parteienverdrossenheit verstärkt. Das Vertrauen in die Institutionen unseres Staates und in die Ordnungsgemäßheit seiner Verfahren ist geschwächt worden. Das haben mir viele Menschen geschrieben.

Ich nehme diese Kritik und die Empörung ernst und ich habe Verständnis dafür. Deshalb bringe ich sie heute öffentlich zur Sprache. Auch ich bin der Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt haben. Ich rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle übrigen, die zu diesem Ansehensverlust beigetragen haben.

Ich neige nicht vorschnell zur "Parteienschelte". Ich habe oft gesagt, dass berechtigte Kritik an einzelnen Ereignissen oder an Fehlentwicklungen nicht dazu führen sollte, "das Parteiwesen" in Bausch und Bogen zu verurteilen.

Die Parteien sollten sich weniger mit sich selber beschäftigen. Jenseits von Machterhalt oder Machtgewinnung müssen sie offen sein für die Probleme, die die Menschen tatsächlich bewegen. Die Parteien sollten sich neu und verstärkt darum bemühen, dass sie ihre Verwurzelung in der Gesellschaft nicht verlieren. Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März im Bundesrat geschehen ist.

IV.

Die Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat gibt auch Anlass, verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch über das Verfassungsorgan Bundesrat im Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland nachzudenken.

Nach unserem Grundgesetz ist der Bundesrat weder Vollzugsorgan der Bundesregierung noch verlängerter Arm der Opposition im Deutschen Bundestag. Nach seiner Zusammensetzung und seiner Aufgabenstellung ist der Bundesrat als Integrationsorgan geschaffen, das Bundes- und Länderinteressen miteinander abstimmen soll. Der Bundesrat kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn er nach eigenen Maßstäben entscheidet und wenn er sich um die aus der Sache notwendigen Lösungen bemüht; er könnte es dagegen nicht, wenn er sich von Wünschen anderer Bundesorgane oder von parteipolitischer Strategie vereinnahmen ließe.

Nicht erst beim Zuwanderungsgesetz ist deutlich geworden, wie stark die parteipolitische Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Länder geworden ist. Das sage ich in alle Richtungen und an alle Parteien gewandt. Auch in der Vergangenheit hat es - durchaus wechselnd und in umgekehrter parteipolitischer Konstellation als heute - Zeiten gegeben, in denen eine von der Bundestagsmehrheit abweichende Mehrheit im Bundesrat ihre Position in einer Weise genutzt hat, die sich nicht nur an den Interessen der Länder orientiert hat.

V.

Meine letzte Anmerkung gilt dem Inhalt des Gesetzes selber, der Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und der Regelung des Aufenthalts und der Integration von Ausländern. Der Inhalt des Gesetzes ist hinter dem Streit um das Verfahren völlig in den Hintergrund geraten.

Alle Parteien, die Kirchen, Gewerkschaften und Industrieverbände sind sich doch einig: Wir brauchen eine grundlegende gesetzliche Neuregelung dieser Fragen. Über Grundsätzliches und über Einzelheiten ist lange diskutiert worden. Das schließlich vom Bundestag verabschiedete Gesetz und die Vorstellungen von CDU und CSU lagen nicht mehr weit auseinander. Das ist jedenfalls der Eindruck, den ich mit vielen Menschen gewonnen habe. Darum bedauere ich, dass es an der Beharrlichkeit und am gegenseitigen Vertrauen gemangelt hat, alle Möglichkeiten auszuloten, doch noch zu einem Konsens über die verbliebenen Unterschiede zu gelangen.

Viele tragen Verantwortung für das, was am 22. März geschehen ist. Darum sollte niemand versuchen, die Verantwortung auf die jeweils "andere Seite" abzuwälzen.

Quelle: Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes vom 20.6.2002
http://www.bundespraesident.de/frameset/index.jsp

Zuwanderungsgesetz ist nichtig

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute sein Urteil in dem Normenkontrollverfahren über das Zuwanderungsgesetz verkündet und festgestellt, dass das angegriffene Gesetz mit Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig ist. Damit tritt das Gesetz nicht am 1. Januar 2003 in Kraft. Von der Nichtigkeitsfolge werden auch die Regelungen des Zuwanderungsgesetzes erfasst, die am 26. Juni und. 1. Juli 2002 wirksam geworden sind.

Der Hintergrund des Verfahrens ist der Pressemitteilung Nr. 84/2002 vom 1. Oktober 2002 zu entnehmen.

Der Normenkontrollantrag ist zulässig und nach Auffassung der Senatsmehrheit auch begründet.

1. Zur Begründung ihrer Entscheidung führt die Senatsmehrheit aus:

Das Zuwanderungsgesetz verstößt gegen Art. 78 GG und ist daher nichtig. Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über das Verwaltungsverfahren ein so genanntes zustimmungspflichtiges Gesetz, das jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat.

An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes im Bundesrat die Stimmen nicht einheitlich abgegeben wurden. Nach dem Grundgesetz wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrats. Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten. Dabei geht das Grundgesetz von der einheitlichen Stimmabgabe aus und respektiert die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen. Der Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer kann jedoch jederzeit durch ein anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden. Damit entfallen die Voraussetzungen der Stimmführerschaft. Hier hat das im Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg seine vier Stimmen nicht einheitlich abgegeben, was der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach der Stimmabgabe förmlich festgestellt hat.

Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe Brandenburgs ist durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden. Der Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied Dr. Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Der die Abstimmung leitende Bundesratspräsident ist zwar grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Als unparteiischer Sitzungsleiter hat er den Willen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren klar festzustellen. Besteht jedoch ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht und ist nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten, dass ein solcher noch während der Abstimmung zustande kommen werde, entfällt das Recht zur Nachfrage. Hier lag der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung klar zutage. Es bestand Klarheit über den Dissens. Ein einheitlicher politischer Landeswille war von den Beteiligten weder vor der Bundesratssitzung festgelegt noch wurde er von ihnen im Verlauf der Sitzung erwartet. Dies belegen ein Teil der Redebeiträge in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung durch die Beteiligten. In diesem atypischen Fall war der Sitzungsleiter verpflichtet, die Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe zu protokollieren. Zu einer Lenkung des Abstimmungsverhaltens des Landes Brandenburg mittels anschließender Nachfrage war der Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt. Angesichts dieser Ausgangslage ist der Fall der hier zu beurteilenden 774. Bundesratssitzung auch nicht mit der 10. Sitzung des Bundesrats vom 9. Dezember 1949 vergleichbar. Diese war verschiedentlich als Präzedenzfall angeführt worden.

Da kein Klärungsbedarf bestand, wäre die gezielte Rückfrage des Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten eines Landes lediglich zu rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen Bundesratsmitglieder des Landes hätte hinwegsetzen dürfen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Ministerpräsident kann nämlich weder ein Weisungsrecht im Bundesrat beanspruchen noch stand ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung in Rede.

Auch wenn ein Nachfragerecht des Bundesratspräsidenten grundsätzlich unterstellt wird, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die Nachfrage hätte nur in der gebotenen neutralen Form erfolgen dürfen. Dazu bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder hätte das Land Brandenburg in der laufenden Abstimmung ein zweites Mal aufgerufen werden können. Damit wäre die Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder gerichtet worden. Oder der Bundesratspräsident hätte -wie geschehen- ein Bundesratsmitglied des Landes direkt fragen dürfen, dann aber hätte nach dem "Ja" des Ministerpräsidenten zur Vermeidung von Unklarheit auch Minister Schönbohm gefragt werden müssen, ob er bei seinem "Nein" bleibe. Dem Schweigen ohne vorangehende Frage kommt kein rechtlicher Erklärungswert in einer Abstimmung zu; es besteht keine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.

Da es an einer Zustimmung des Landes Brandenburg fehlte, entfaltete auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten nach Aufruf der weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt, keine Rechtswirkung.

2. Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigefügt.

Sie stimmen der Senatsmehrheit darin zu, dass bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz das Land Brandenburg zunächst nicht einheitlich gestimmt hat. Ihrer Auffassung nach war das Land Brandenburg jedoch berechtigt, das im ersten Durchgang gezeigte Abstimmungsverhalten zu korrigieren. Der Bundesratspräsident durfte ihm dazu durch Nachfrage Gelegenheit geben. Die Annahme, dass der Bundesratspräsident die uneinheitliche Stimmabgabe ohne Nachfrage hätte registrieren müssen, weil keine Unklarheit vorgelegen habe, findet - so die abweichende Meinung der beiden Richterinnen - im geltenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsrecht keine Grundlage. Die Abgrenzung zwischen klaren und unklaren Fällen, auf die die Senatsmehrheit abstellt, ist ihrerseits alles andere als klar und daher als verfassungsrechtlicher Maßstab für das Verhalten des Bundesratspräsidenten ungeeignet; das zeigt gerade der vorliegende Fall. Selbst wenn die Nachfrage unzulässig gewesen wäre, hätte dies nicht die im Urteil angenommene Konsequenz, dass das Land Brandenburg sein Korrekturrecht nicht mehr wirksam ausüben konnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit läuft darauf hinaus, dass der Bundesratspräsident das Recht eines Landes zur Korrektur seiner Stimmabgabe für den konkreten Fall beseitigt, wenn er dem Land unveranlasst die Gelegenheit dazu anbietet. Das ist ein staatsrechtliches Unikat.

Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff gehen davon aus, dass der Bundesratspräsident mit seiner Nachfrage einen neuen Abstimmungsdurchgang eröffnet hat. In diesem zweiten Durchgang kam es nicht mehr auf die zuvor uneinheitlich abgegebenen Stimmen an, sondern darauf, ob das Land nunmehr einheitlich abstimmen würde. Das ist geschehen. Der Minister Schönbohm hat der Ja-Stimme des Ministerpräsidenten Stolpe lediglich die Worte "Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident" entgegengesetzt. Auf die mit diesen Worten bekräftigte Auffassung kam es aber nicht an. Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG verlangt nicht, dass die Vertreter eines Landes im Bundesrat einheitlicher Auffassung sind. Das Grundgesetz stellt ausschließlich auf die Einheitlichkeit der Stimmabgabe ab. Eben deshalb ist es notwendig, zwischen Stimmabgaben und Auffassungskundgaben deutlich zu unterscheiden. Eine Stimmabgabe des Bundesratsmitglieds Schönbohm, die das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes hätte verhindern können, hat im entscheidenden zweiten Durchgang nicht mehr stattgefunden.

Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2002 - Az. 2 BvF 1/02 –
Nachlesbar unter

Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2002