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Das Zuwanderungsgesetz ist am 1. Januar 2005 in Kraft
getreten. Vorausgegangen war ein äußerst langwieriges Gesetzgebungsverfahren,
das in der Öffentlichkeit, im Bundestag und Bundesrat kontrovers diskutiert
wurde.
Erklärung von Bundespräsident
Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 im
Schloss Bellevue in Berlin
Ich möchte Sie über meine Entscheidung zum
Zuwanderungsgesetz unterrichten.
A.
Der Deutsche Bundestag hat das Zuwanderungsgesetz am 1. März 2002
verabschiedet. Am 22. März 2002 hat der Bundesrat beschlossen, dem Gesetz
gemäß Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes zuzustimmen - so hat es der Präsident
des Bundesrates festgestellt. Am 17. April 2002 ist mir die Gesetzesurschrift
zur Ausfertigung gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes zugeleitet
worden.
Gegen den Beschluss des Bundesrates sind verfassungsrechtliche Einwände erhoben
worden. Sie betreffen die Frage, ob die vier Stimmen des Landes Brandenburg vom
Präsidenten des Bundesrates zu Recht als "Ja"-Stimmen gewertet worden
sind; wäre das nicht der Fall, hätte das Gesetz die für eine Zustimmung des
Bundesrates erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen nicht erreicht. Das Gesetz
wäre nicht zustande gekommen.
Ich habe das Zuwanderungsgesetz wie jedes andere Gesetz sorgfältig auf seine
Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ich habe mich mit dem tatsächlichen Ablauf
der Sitzung und der Abstimmung und mit den sich daraus ergebenden
verfassungsrechtlichen Fragen eingehend befasst. Ich habe viele Gespräche
geführt und ich habe verfassungsrechtlichen Rat erfahren.
Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe ich das Zuwanderungsgesetz heute morgen
unterzeichnet und den Auftrag zur Verkündung im Bundesgesetzblatt erteilt. Nach
der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und nach der Staatspraxis ist der
Bundespräsident nur dann berechtigt und verpflichtet, von der Ausfertigung
eines Gesetzes abzusehen, wenn er die sichere Überzeugung gewonnen hat, dass
zweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Zu dieser
Überzeugung bin ich im vorliegenden Fall nicht gekommen.
Ich habe heute einen Brief an die drei am Gesetzgebungsverfahren beteiligten
Verfassungsorgane geschrieben, an den Bundeskanzler und an die Präsidenten von
Bundestag und Bundesrat, in dem ich sie über meine Entscheidung unterrichte.
Der Brief ist ihnen heute mittag zugestellt worden. Der Wortlaut des Briefes
steht im Anschluss an diese Erklärung allen Interessierten zur Verfügung. Die
Regierungschefs der Länder, die mir geschrieben und ihre Briefe veröffentlicht
haben, habe ich ebenfalls über meine Entscheidung unterrichtet.
I.
Ich möchte Ihnen die wichtigsten Gesichtspunkte für meine Entscheidung
erläutern. Den maßgeblichen Sachverhalt darf ich als bekannt voraussetzen; ich
möchte ihn hier nur kurz rekapitulieren:
Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, haben zunächst
Minister Ziel mit "Ja" und Minister Schönbohm mit "Nein"
gestimmt. Daraufhin hat der Präsident des Bundesrates auf das Gebot der
einheitlichen Stimmabgabe hingewiesen und an den Ministerpräsidenten des Landes
Brandenburg die Frage gerichtet, wie das Land abstimme. Ministerpräsident
Stolpe hat geantwortet: "Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg
erkläre ich hiermit Ja." Dem hat Minister Schönbohm angefügt: "Sie
kennen meine Auffassung, Herr Präsident." Der Bundesratspräsident hat
daraufhin die Stimmabgabe des Landes Brandenburg als "Ja" gewertet.
Nach den dagegen protestierenden Zwischenrufen anderer Mitglieder des
Bundesrates hat der Präsident des Bundesrates erneut Ministerpräsident Stolpe
gefragt, dieser hat seine Antwort wiederholt; Minister Schönbohm hat dem keine
Äußerung mehr folgen lassen.
Kern des verfassungsrechtlichen Streits ist die Auslegung von Art. 51 Abs. 3
Satz 2 des Grundgesetzes. Er enthält das Gebot, dass bei einer Abstimmung im
Bundesrat die Stimmen eines Landes "nur einheitlich abgegeben" werden
können. Zu dieser Vorschrift gibt es keine Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts. In der verfassungsrechtlichen Literatur ist ihre
Auslegung umstritten.
Die eine Meinung schließt aus dem Wortlaut der Vorschrift ("können
nur"), dass bei einem Verstoß gegen dieses Gebot die Stimmabgabe des
Landes unmittelbar als ungültig zu bewerten sei.
Die Gegenansicht weist darauf hin, dass das Grundgesetz die Rechtsfolge eines
Verstoßes nicht ausdrücklich festlege. Sie fragt danach, ob und wie nach einer
ersten uneinheitlichen Stimmabgabe noch eine der Verfassung gemäße Stimmabgabe
zu erreichen sei. Sie sieht dafür die Entscheidung des jeweiligen
Regierungschefs des Landes kraft seiner Richtlinienkompetenz als ausschlaggebend
an.
Beide Seiten können gewichtige Gründe für ihren Standpunkt anführen. Ich
habe mir darüber in den vergangenen Wochen einen umfassenden Überblick
verschafft. Namhafte Verfassungsrechtler haben sich unabhängig von oder aus
Anlass der Bundesratssitzung vom 22. März 2002 in dem einen oder in dem anderen
Sinne geäußert. Sie kommen mit unterschiedlicher Begründung zu gegenteiligen
Ergebnissen - je nach ihrem rechtlichen Ausgangspunkt, aber auch je nachdem, wie
sie den tatsächlichen Ablauf und die Äußerungen in dieser Sitzung bewerten.
Wer den Wortlaut der zitierten Grundgesetzvorschrift für eindeutig hält, für
den steht bereits nach der ersten gegensätzlichen Stimmabgabe durch die
Minister Ziel und Schönbohm das Ergebnis fest. Daran habe sich auch im weiteren
Verlauf nichts geändert, weil Minister Schönbohm auch gegenüber dem späteren
Votum von Ministerpräsident Stolpe seine ablehnende Haltung hinreichend
deutlich und rechtlich erheblich zum Ausdruck gebracht habe. Die Stimmen des
Landes Brandenburg seien ungültig.
Die strengen Vertreter dieser Ansicht sehen weder rechtlich noch tatsächlich
einen Grund für eine Nachfrage des Präsidenten des Bundesrates. Für eine
solche Befugnis wird dagegen angeführt, dass der Präsident des Bundesrates im
Rahmen seiner Sitzungsleitung die Aufgabe habe, auf ein der Verfassung gemäßes
Abstimmungsverhalten hinzuwirken.
Unterschiedliche Auffassungen gibt es auch zu der Frage, ob Ministerpräsident
Stolpe kraft seiner Richtlinienkompetenz die Stimmen des Landes Brandenburg
einheitlich mit "Ja" abgeben konnte. Diese Frage berührt das
Grundverständnis des Verfassungsorgans Bundesrat, der Rechtsstellung seiner
Mitglieder und betrifft auch das Zusammenwirken der Verfassungsräume von Bund
und Ländern.
Die Befugnis, in streitigen Fällen kraft Richtlinienkompetenz im Bundesrat für
ihr Land abzustimmen, haben Ministerpräsidenten auch in der Vergangenheit schon
für sich in Anspruch genommen. Im Unterschied zum vorliegenden Fall ist es bei
den damaligen Abstimmungen im Bundesrat aber nicht zu gegenteiligen Äußerungen
gekommen.
Wer die Position vertritt, dass die Stimmabgabe von Ministerpräsident Stolpe
kraft seiner Richtlinienkompetenz als Regierungschef ausschlaggebend war, für
den ist die anschließende Äußerung von Minister Schönbohm rechtlich nicht
mehr erheblich.
Zur Gültigkeit der brandenburgischen Stimmen gelangt auch, wer in der
Äußerung von Minister Schönbohm, dass seine Auffassung bekannt sei, kein
förmliches "Nein" sieht.
Zu demselben Ergebnis gelangt schließlich, wer darauf abstellt, dass Minister
Schönbohm jedenfalls nach der erneuten Frage des Präsidenten des Bundesrates
dem wiederholten "Ja" seines Regierungschefs nicht mehr widersprochen
hat.
II.<
Ich stelle also fest - und nur darauf kommt es an: Bei der Beurteilung der
Abstimmung im Bundesrat am 22. März 2002 kann man in tatsächlicher und in
rechtlicher Hinsicht jeweils mit guten Gründen zu dem einen oder anderen
Ergebnis kommen.
Ich wäre aber nur dann berechtigt und verpflichtet, das Gesetz nicht
auszufertigen, wenn ich davon überzeugt wäre, dass zweifelsfrei und
offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Mit Blick auf die kontroversen
Auffassungen in dieser verfassungsrechtlichen Frage habe ich diese Überzeugung
nicht gewinnen können.
Angesichts einer verfassungsrechtlichen Zweifelsfrage so zu entscheiden, wie ich
entschieden habe, ergibt sich aus folgendem:
Das Recht und die Pflicht des Bundespräsidenten, ein Gesetz vor der
Ausfertigung verfassungsrechtlich zu überprüfen, steht in Konkurrenz und
bedarf der sinnvollen Abgrenzung zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Die
Staatspraxis, wie meine Amtsvorgänger sie geprägt haben, hat diese Abgrenzung
in dem von mir dargestellten Prüfungsmaßstab gefunden.
Ich verweise konkret auf zwei Entscheidungen der Bundespräsidenten Karl
Carstens und Roman Herzog. Auch da ging es um formelle und verfahrensrechtliche
Fragen des Zustandekommens eines Gesetzes. Diese Entscheidungen haben den
Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten deutlich gemacht:
Bundespräsident Karl Carstens hat im Jahr 1981 das Staatshaftungsgesetz
ausgefertigt und das damit begründet, dass für ihn ein Verfassungsverstoß
nicht "zweifelsfrei und offenkundig" feststehe (so sein Begleitbrief
an die beteiligten Verfassungsorgane vom 26. Juni 1981). Bundespräsident Roman
Herzog hat im Jahr 1994 ein Gesetz ausgefertigt, in dem es unter anderem um eine
Vorschrift des Atomgesetzes ging. Der niedersächsische Ministerpräsident
Gerhard Schröder hatte ihn damals gebeten, das Gesetz nicht auszufertigen, weil
es der Zustimmung des Bundesrates bedürfe. Roman Herzog ist dieser Bitte nicht
gefolgt; er hat das damit begründet, dass er nicht zu der Überzeugung gelangt
sei, dass ein Verfassungsverstoß "zweifelsfrei und offenkundig"
vorliege (so die Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes vom 21. Juli 1994).
Ich habe meine Entscheidung in Respekt vor der Kompetenzordnung des
Grundgesetzes getroffen, und sie steht in der Kontinuität der Staatspraxis
meiner Amtsvorgänger. Nach unserer Verfassungsordnung ist es nicht Aufgabe des
Bundespräsidenten, über solche verfassungsrechtlichen Zweifelsfragen eine
endgültige Entscheidung zu treffen. Die verbindliche Entscheidung über die
Auslegung des Grundgesetzes ist dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten. Wer
von den Antragsberechtigten im vorliegenden Fall eine solche Entscheidung für
notwendig hält, dem steht der Weg dazu jetzt offen.
B.
So viel zu meiner verfassungsrechtlichen Entscheidung. Lassen Sie mich darüber
hinaus noch einige Anmerkungen machen:
I.
Meine erste Anmerkung betrifft das Amt des Bundespräsidenten. Ich erwarte, dass
das Amt des Bundespräsidenten nicht in die parteipolitische Auseinandersetzung
hineingezogen wird, wie das in den vergangenen Wochen gelegentlich versucht
worden ist. Ich erwarte, dass auch diejenigen meine Entscheidung respektieren,
die meinen, sie nicht akzeptieren zu können. Das gebietet der Respekt vor dem
Amt des Bundespräsidenten, das mir gegenwärtig anvertraut ist.
II.
Im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesrates ist das Wort
"Verfassungsbruch" gefallen. Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Er
bedeutet ja, dass jemand bewusst und vorsätzlich gegen die Verfassung gehandelt
hat. Verfassungsjuristen unterscheiden dagegen nur, ob ein Vorgang
verfassungsgemäß ist oder nicht. Auch ich empfehle diese sachliche Sprache.
Dabei will ich nicht beschönigen, was geschehen ist. In der Sitzung des
Bundesrates am 22. März ist eine verfassungsrechtliche Verfahrensvorschrift in
gewagter Weise ausgereizt und damit eine politische Kampfsituation auf die
Spitze getrieben worden. Das hat eine verfassungsrechtliche Frage offengelegt,
die in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte des Bundesrates bisher noch
nicht von Bedeutung war.
Ob der oft erwähnte Vorfall aus dem Jahr 1949 mit dem hier zu beurteilenden
Sachverhalt vergleichbar ist, mag dahinstehen; damals ist die abschließende
Entscheidung des Ministerpräsidenten jedenfalls allseits akzeptiert worden.
Heute dagegen gibt es verfassungsrechtlichen Streit mit jeweils guten Argumenten
Pro und Contra. Das sind keine "juristischen Spitzfindigkeiten".
In den vergangenen Wochen habe ich immer wieder gelesen, dass Kritiker des
Gesetzes mit dem Gang nach Karlsruhe "drohten". Ich verstehe das nicht
als "Drohung". Ich hielte es sogar für wünschenswert, wenn das
Bundesverfassungsgericht diese Frage klärte, damit alle, vor allem der
Bundesrat und die Länder, Rechtssicherheit haben. Das ist die originäre
Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts und nicht die des Bundespräsidenten.
III.
Ich habe in den vergangenen Wochen viele Briefe von Bürgerinnen und Bürgern
aus Anlass der Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat bekommen: Die
Menschen äußern in ihren Briefen Unmut und Empörung. Sie haben den Eindruck,
dass es bei der Beratung im Bundesrat weniger um die Sache ging als um eine
Machtprobe im Vorfeld der Bundestagswahl und um den Erhalt der Koalition in
Brandenburg. Die Art und Weise, wie einige der Beteiligten auf allen Seiten den
Ablauf dieser Bundesratssitzung - in welchem Maße auch immer - erkennbar
abgesprochen und politisch inszeniert haben, hat auf viele Menschen einen
verheerenden Eindruck gemacht. Was am 22. März im Bundesrat geschehen ist, das
hat dem Ansehen der Politik insgesamt geschadet und die ohnehin verbreitete
Politik- oder Parteienverdrossenheit verstärkt. Das Vertrauen in die
Institutionen unseres Staates und in die Ordnungsgemäßheit seiner Verfahren
ist geschwächt worden. Das haben mir viele Menschen geschrieben.
Ich nehme diese Kritik und die Empörung ernst und ich habe Verständnis dafür.
Deshalb bringe ich sie heute öffentlich zur Sprache. Auch ich bin der
Auffassung, dass die Art und Weise, wie die Sitzung des Bundesrates am 22. März
verlaufen ist, dem Ansehen von Staat und Politik Schaden zugefügt haben. Ich
rüge das Verhalten des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg und seines
Stellvertreters. Ich rüge und ermahne aber auch alle übrigen, die zu diesem
Ansehensverlust beigetragen haben.
Ich neige nicht vorschnell zur "Parteienschelte". Ich habe oft gesagt,
dass berechtigte Kritik an einzelnen Ereignissen oder an Fehlentwicklungen nicht
dazu führen sollte, "das Parteiwesen" in Bausch und Bogen zu
verurteilen.
Die Parteien sollten sich weniger mit sich selber beschäftigen. Jenseits von
Machterhalt oder Machtgewinnung müssen sie offen sein für die Probleme, die
die Menschen tatsächlich bewegen. Die Parteien sollten sich neu und verstärkt
darum bemühen, dass sie ihre Verwurzelung in der Gesellschaft nicht verlieren.
Der politische Streit zwischen den Parteien darf sein und muss sein. Der Streit
darf aber nicht in einer Art und Weise inszeniert werden, wie das am 22. März
im Bundesrat geschehen ist.
IV.
Die Beratung des Zuwanderungsgesetzes im Bundesrat gibt auch Anlass,
verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch über das Verfassungsorgan
Bundesrat im Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland nachzudenken.
Nach unserem Grundgesetz ist der Bundesrat weder Vollzugsorgan der
Bundesregierung noch verlängerter Arm der Opposition im Deutschen Bundestag.
Nach seiner Zusammensetzung und seiner Aufgabenstellung ist der Bundesrat als
Integrationsorgan geschaffen, das Bundes- und Länderinteressen miteinander
abstimmen soll. Der Bundesrat kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn er nach
eigenen Maßstäben entscheidet und wenn er sich um die aus der Sache
notwendigen Lösungen bemüht; er könnte es dagegen nicht, wenn er sich von
Wünschen anderer Bundesorgane oder von parteipolitischer Strategie vereinnahmen
ließe.
Nicht erst beim Zuwanderungsgesetz ist deutlich geworden, wie stark die
parteipolitische Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Länder geworden
ist. Das sage ich in alle Richtungen und an alle Parteien gewandt. Auch in der
Vergangenheit hat es - durchaus wechselnd und in umgekehrter parteipolitischer
Konstellation als heute - Zeiten gegeben, in denen eine von der
Bundestagsmehrheit abweichende Mehrheit im Bundesrat ihre Position in einer
Weise genutzt hat, die sich nicht nur an den Interessen der Länder orientiert
hat.
V.
Meine letzte Anmerkung gilt dem Inhalt des Gesetzes selber, der Steuerung und
Begrenzung der Zuwanderung und der Regelung des Aufenthalts und der Integration
von Ausländern. Der Inhalt des Gesetzes ist hinter dem Streit um das Verfahren
völlig in den Hintergrund geraten.
Alle Parteien, die Kirchen, Gewerkschaften und Industrieverbände sind sich doch
einig: Wir brauchen eine grundlegende gesetzliche Neuregelung dieser Fragen.
Über Grundsätzliches und über Einzelheiten ist lange diskutiert worden. Das
schließlich vom Bundestag verabschiedete Gesetz und die Vorstellungen von CDU
und CSU lagen nicht mehr weit auseinander. Das ist jedenfalls der Eindruck, den
ich mit vielen Menschen gewonnen habe. Darum bedauere ich, dass es an der
Beharrlichkeit und am gegenseitigen Vertrauen gemangelt hat, alle Möglichkeiten
auszuloten, doch noch zu einem Konsens über die verbliebenen Unterschiede zu
gelangen.
Viele tragen Verantwortung für das, was am 22. März geschehen ist. Darum
sollte niemand versuchen, die Verantwortung auf die jeweils "andere
Seite" abzuwälzen.
Quelle: Pressemitteilung des
Bundespräsidialamtes vom 20.6.2002
http://www.bundespraesident.de/frameset/index.jsp
Zuwanderungsgesetz ist nichtig
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts
hat heute sein Urteil in dem Normenkontrollverfahren über das
Zuwanderungsgesetz verkündet und festgestellt, dass das angegriffene Gesetz mit
Art. 78 GG unvereinbar und daher nichtig ist. Damit tritt das Gesetz nicht am 1.
Januar 2003 in Kraft. Von der Nichtigkeitsfolge werden auch die Regelungen des
Zuwanderungsgesetzes erfasst, die am 26. Juni und. 1. Juli 2002 wirksam geworden
sind.
Der Hintergrund des Verfahrens ist der
Pressemitteilung Nr. 84/2002 vom 1. Oktober 2002 zu entnehmen.
Der Normenkontrollantrag ist zulässig und nach
Auffassung der Senatsmehrheit auch begründet.
1. Zur Begründung ihrer Entscheidung führt
die Senatsmehrheit aus:
Das Zuwanderungsgesetz verstößt gegen Art. 78
GG und ist daher nichtig. Es ist wegen der in ihm enthaltenen Bestimmungen über
das Verwaltungsverfahren ein so genanntes zustimmungspflichtiges Gesetz, das
jedoch im Bundesrat nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen erhalten hat.
An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum
Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes im Bundesrat die Stimmen
nicht einheitlich abgegeben wurden. Nach dem Grundgesetz wirken die Länder bei
der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und den Angelegenheiten der Europäischen
Union mit. Diese Mitwirkung erfolgt nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch
die aus dem Kreis der Landesregierungen stammenden Mitglieder des Bundesrats.
Die Länder werden jeweils durch ihre anwesenden Bundesratsmitglieder vertreten.
Dabei geht das Grundgesetz von der einheitlichen Stimmabgabe aus und respektiert
die Praxis der landesautonom bestimmten Stimmführer, ohne seinerseits mit
Geboten und Festlegungen in den Verfassungsraum des Landes überzugreifen. Der
Abgabe der Stimmen durch einen Stimmführer kann jedoch jederzeit durch ein
anderes Bundesratsmitglied desselben Landes widersprochen werden. Damit
entfallen die Voraussetzungen der Stimmführerschaft. Hier hat das im
Abstimmungsverfahren aufgerufene Land Brandenburg seine vier Stimmen nicht
einheitlich abgegeben, was der Bundesratspräsident zutreffend unmittelbar nach
der Stimmabgabe förmlich festgestellt hat.
Die Uneinheitlichkeit der Stimmenabgabe
Brandenburgs ist durch den weiteren Abstimmungsverlauf nicht beseitigt worden.
Der Bundesratspräsident durfte nach seiner Feststellung, dass das Land
Brandenburg uneinheitlich abgestimmt habe, nicht das Bundesratsmitglied Dr.
Stolpe fragen, wie das Land Brandenburg abstimme. Der die Abstimmung leitende
Bundesratspräsident ist zwar grundsätzlich berechtigt, bei Unklarheiten im
Abstimmungsverlauf mit geeigneten Maßnahmen eine Klärung herbeizuführen und
auf eine wirksame Abstimmung des Landes hinzuwirken. Als unparteiischer
Sitzungsleiter hat er den Willen des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren klar
festzustellen. Besteht jedoch ein einheitlicher Landeswille erkennbar nicht und
ist nach den gesamten Umständen nicht zu erwarten, dass ein solcher noch während
der Abstimmung zustande kommen werde, entfällt das Recht zur Nachfrage. Hier
lag der Wille des Landes Brandenburg zur uneinheitlichen Abstimmung klar zutage.
Es bestand Klarheit über den Dissens. Ein einheitlicher politischer Landeswille
war von den Beteiligten weder vor der Bundesratssitzung festgelegt noch wurde er
von ihnen im Verlauf der Sitzung erwartet. Dies belegen ein Teil der Redebeiträge
in der Plenardebatte und die sorgsame rechtliche Vorbereitung durch die
Beteiligten. In diesem atypischen Fall war der Sitzungsleiter verpflichtet, die
Uneinheitlichkeit der Stimmabgabe zu protokollieren. Zu einer Lenkung des
Abstimmungsverhaltens des Landes Brandenburg mittels anschließender Nachfrage
war der Bundesratspräsident unter den gegebenen Umständen nicht befugt.
Angesichts dieser Ausgangslage ist der Fall der hier zu beurteilenden 774.
Bundesratssitzung auch nicht mit der 10. Sitzung des Bundesrats vom 9. Dezember
1949 vergleichbar. Diese war verschiedentlich als Präzedenzfall angeführt
worden.
Da kein Klärungsbedarf bestand, wäre die
gezielte Rückfrage des Bundesratspräsidenten nur an den Ministerpräsidenten
eines Landes lediglich zu rechtfertigen, wenn ein Ministerpräsident sich in der
Abstimmung über die Stimmenabgabe durch die anderen Bundesratsmitglieder des
Landes hätte hinwegsetzen dürfen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der
Ministerpräsident kann nämlich weder ein Weisungsrecht im Bundesrat
beanspruchen noch stand ein drohender Verstoß gegen die Bundesverfassung in
Rede.
Auch wenn ein Nachfragerecht des Bundesratspräsidenten
grundsätzlich unterstellt wird, führt dies zu keinem anderen Ergebnis. Die
Nachfrage hätte nur in der gebotenen neutralen Form erfolgen dürfen. Dazu
bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder hätte das Land Brandenburg in der
laufenden Abstimmung ein zweites Mal aufgerufen werden können. Damit wäre die
Frage, wie das Land abstimme, an alle anwesenden Bundesratsmitglieder gerichtet
worden. Oder der Bundesratspräsident hätte -wie geschehen- ein
Bundesratsmitglied des Landes direkt fragen dürfen, dann aber hätte nach dem
"Ja" des Ministerpräsidenten zur Vermeidung von Unklarheit auch
Minister Schönbohm gefragt werden müssen, ob er bei seinem "Nein"
bleibe. Dem Schweigen ohne vorangehende Frage kommt kein rechtlicher Erklärungswert
in einer Abstimmung zu; es besteht keine Pflicht zum ungefragten Zwischenruf.
Da es an einer Zustimmung des Landes
Brandenburg fehlte, entfaltete auch die Feststellung des Bundesratspräsidenten
nach Aufruf der weiteren Länder, der Bundesrat habe dem Gesetz zugestimmt,
keine Rechtswirkung.
2. Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff
haben dem Urteil eine abweichende Meinung beigefügt.
Sie stimmen der Senatsmehrheit darin zu, dass
bei der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz das Land Brandenburg zunächst
nicht einheitlich gestimmt hat. Ihrer Auffassung nach war das Land Brandenburg
jedoch berechtigt, das im ersten Durchgang gezeigte Abstimmungsverhalten zu
korrigieren. Der Bundesratspräsident durfte ihm dazu durch Nachfrage
Gelegenheit geben. Die Annahme, dass der Bundesratspräsident die uneinheitliche
Stimmabgabe ohne Nachfrage hätte registrieren müssen, weil keine Unklarheit
vorgelegen habe, findet - so die abweichende Meinung der beiden Richterinnen -
im geltenden Verfassungs- und Geschäftsordnungsrecht keine Grundlage. Die
Abgrenzung zwischen klaren und unklaren Fällen, auf die die Senatsmehrheit
abstellt, ist ihrerseits alles andere als klar und daher als
verfassungsrechtlicher Maßstab für das Verhalten des Bundesratspräsidenten
ungeeignet; das zeigt gerade der vorliegende Fall. Selbst wenn die Nachfrage
unzulässig gewesen wäre, hätte dies nicht die im Urteil angenommene
Konsequenz, dass das Land Brandenburg sein Korrekturrecht nicht mehr wirksam ausüben
konnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit läuft darauf hinaus, dass der
Bundesratspräsident das Recht eines Landes zur Korrektur seiner Stimmabgabe für
den konkreten Fall beseitigt, wenn er dem Land unveranlasst die Gelegenheit dazu
anbietet. Das ist ein staatsrechtliches Unikat.
Die Richterinnen Osterloh und Lübbe-Wolff
gehen davon aus, dass der Bundesratspräsident mit seiner Nachfrage einen neuen
Abstimmungsdurchgang eröffnet hat. In diesem zweiten Durchgang kam es nicht
mehr auf die zuvor uneinheitlich abgegebenen Stimmen an, sondern darauf, ob das
Land nunmehr einheitlich abstimmen würde. Das ist geschehen. Der Minister Schönbohm
hat der Ja-Stimme des Ministerpräsidenten Stolpe lediglich die Worte "Sie
kennen meine Auffassung, Herr Präsident" entgegengesetzt. Auf die mit
diesen Worten bekräftigte Auffassung kam es aber nicht an. Art. 51 Abs. 3 Satz
2 GG verlangt nicht, dass die Vertreter eines Landes im Bundesrat einheitlicher
Auffassung sind. Das Grundgesetz stellt ausschließlich auf die Einheitlichkeit
der Stimmabgabe ab. Eben deshalb ist es notwendig, zwischen Stimmabgaben und
Auffassungskundgaben deutlich zu unterscheiden. Eine Stimmabgabe des
Bundesratsmitglieds Schönbohm, die das Zustandekommen des Zuwanderungsgesetzes
hätte verhindern können, hat im entscheidenden zweiten Durchgang nicht mehr
stattgefunden.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.
Dezember 2002 - Az. 2 BvF 1/02 –
Nachlesbar unter
Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 18.12.2002
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