Vom Nebeneinander zum friedlichen Miteinander
von Carsten Sommerfeld
Seit mehr als 40 Jahren leben Türken in Deutschland, doch das
Zusammenleben ist laut Professor Faruk Sen geprägt von
"Parallelgesellschaften": "Wir müssen vom friedlichen
Nebeneinander zum friedlichen Zusammenleben kommen", fordert der Direktor
des Instituts für Türkeistudien, der von einem sich immer mehr entwickelnden,
dialogbereiten Euro-Islam spricht.
Zur Person:
Faruk Sen, in Ankara geboren, kam Faruk Sen 1971 nach Deutschland.
An der Universität Münster studierte der heute 54-Jährige
Betriebswirtschaftslehre, promovierte 1979. Fragen der Migration und die
Integration der Einwanderer bestimmten seinen weiteren beruflichen
Lebenslauf. Von 1980 bis 1983 leitete er bei der Stadt Duisburg Maßnahmen
zur Berufsvorbereitung und Integration junger Ausländer, anschließend
war er Geschäftsführer eines Modellversuchs für Lehrerfortbildung. 1985
gründete er das Zentrum für Türkeistudien mit, seitdem ist er dessen
Direktor. Seit 1990 hat Faruk Sen, der viele Beiträge zur Türkei und zur
Migration veröffentlichte, eine Professur an der
Universität-Gesamthochschule Essen.
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Zur Situation der Muslime in Europa und zu den Folgen des 11.
September 2001 nimmt Faruk Sen, der kürzlich die Kanzelrede in der Dormagener
Christuskirche hielt, im Gespräch mit stellvertretendem Redaktionsleiter Frank
Kirschstein und NGZ-Redakteur Carsten Sommerfeld Stellung.
Herr Professor Sen, welche Aufgaben hat das
Zentrum für Türkeistudien?
Professor Sen: Das Zentrum für
Türkeistudien bearbeitet drei Schwerpunktthemen: wirtschaftliche
Zusammenarbeit, sozialwissenschaftliche Themen und Migration. Regionale
Schwerpunkte sind jenseits der Türkei auch die Balkanstaaten, der
Mittelmeerraum, Armenien, Aserbeidschan und Georgien.
Wie finanziert sich das Institut?
Sen: Das ZfT ist eine
Landesstiftung. Wir bekommen 450.000 Euro vom Land - bei einem Jahresetat von
2,5 Millionen Euro. Den Rest finanzieren wir aus Forschungsprojekten für das
Land, Bundesministerien, Unternehmen. Auftraggeber sind aber auch internationale
Institutionen wie die Europäische Union und die OECD.
Die meisten Einwanderer in Deutschland kommen
aus der Türkei. Wo liegen die größten Probleme der türkischen Bevölkerung?
Sen: In Deutschland leben 3,4
Millionen Muslime, darunter stammen 2,6 Millionen aus der Türkei, 200.000 aus
Bosnien. Sie sind eine noch immer als kulturell fremd empfundene Gruppe, die
sich dessen ungeachtet etabliert hat und nicht in die Entsendestaaten
zurückkehren wird. Damit ergeben sich ganz alltägliche Probleme des Lebens in
Deutschland - wo finden sie einen Platz in muslimisch geprägten Altenheimen, wo
islamische Friedhöfe? Wie kann eine bessere Bildungsbeteiligung der Kinder
gewährleistet sein, die die andere kulturelle Prägung nicht verleugnet, aber
dennoch alle gesellschaftlichen Chancen eröffnet?
Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit?
Sen: Das ist ein ganz großes
Problem. Wir haben in Deutschland eine Arbeitslosenquote von etwa 10,5 Prozent.
Bei den Migranten liegt die Quote bei 19 Prozent, bei den Türkischstämmigen
sind es 23 Prozent. Die meisten Einwanderer haben in ganz bestimmten Bereichen
gearbeitet: Bergbau und Stahl beschäftigen heute weit weniger Arbeitnehmer als
früher. Die Industrie ist vollautomatisiert, und im Dienstleistungsbereich -
etwa in der Müllabfuhr - sind die Arbeitsplätze jetzt auch bei Deutschen
gefragt.
Was kann gegen die Arbeitslosigkeit getan
werden?
Sen: Bundesweit hoffe ich auf eine
Besserung durch die Ich-AGs und die Neustrukturierung der Arbeitsämter. In
Nordrhein-Westfalen motiviert das Wirtschaftsministerium, noch initiiert durch
Wolfgang Clement, Einwanderer zu Investitionen in Deutschland. Allein in NRW
gibt es über 23.000 Selbständige türkischer Abstammung. Darüber hinaus
müssen die Migranten befähigt werden, mehr Ausbildungsplätze anzubieten.
Unter den 16- bis 29-jährigen Türken in Duisburg etwa liegt die
Arbeitslosenquote bei 29 Prozent. Und in den türkischstämmigen Familien muss
mehr Wert auf gute Ausbildung gelegt werden.
Seit 40 Jahren leben Türken in Deutschland.
Doch der Eindruck entsteht, dass Deutsche und türkische Minderheit
nebeneinander her leben, sich nach wie vor fremd sind.
Sen: Das stimmt. Das zeigt auch eine
Befragung, die wir jedes Jahr für die Landesregierung erstellen. Die
rechtsradikalen Ausschreitungen 1992/93, die Vorfälle in Mölln und Solingen
haben dazu geführt, dass viele Ausländer auf Distanz gegangen sind. Die
Türken, allein in Nordrhein-Westfalen 900.000, haben sich stark diskriminiert
gefühlt und angefangen, sich abzukapseln. Sie haben ihre eigenen Sportvereine,
Jugendzentren, Diskotheken geschaffen. Außerdem haben die deutschen
elektronischen Medien die Gruppe der Migranten vernachlässigt. Als
Gegenreaktion verfügen 91 Prozent der türkischen Haushalte über Satellit
über Zugang zu eigenen Medien. Wir haben Parallelgesellschaften in Deutschland.
Das ist nicht gut. Wir leben friedlich nebeneinander. Aufgabe der Politik sollte
es sein, aus dem friedlichen Nebeneinander ein friedliches Zusammenleben zu
entwickeln.
Viele Deutsche haben Angst vor militanten
religiösen Gruppen, dass Konflikte in der Türkei in Deutschland ausgetragen
werden. Wie groß ist die Gefahr?
Sen: Die Gefahr war früher
größer, insbesondere bei der Auseinandersetzung mit der PKK. Extreme kurdische
Gruppen haben in Deutschland demonstriert. Rechtsextremistische Gruppierungen
wie die grauen Wölfe haben sie terrorisiert. Natürlich gibt es auch weiterhin
islamische rechtsextremistische Gruppen, ihnen gehören aber nur 30.000 Menschen
an, ein Prozent aller Muslime. Der Kalif von Köln etwa hat lediglich 700
Anhänger. Leider wurde der Fehler gemacht, dem Gründer der Bewegung, Metin
Kaplan, Asyl zu gewähren, weil er angeblich in der Türkei verfolgt wurde. Bis
zum 11. September 2001 ist gegen diese Gruppe nichts unternommen worden, erst
danach sind wir wach geworden. Die Mehrzahl der Muslime aber möchte friedlich
mit der deutschen Mehrheit zusammen leben. Immer mehr Türken - schon 630 000
von 2,6 Millionen - haben die deutsche Staatsangehörigkeit.
Doch das eine Prozent fundamentalistischer
Anhänger bestimmt das Bild in der Öffentlichkeit recht stark. Wie sind die
Muslime in Deutschland organisiert? Gibt es einen einheitlichen Ansprechpartner?
Sen: Das ist die Stärke oder die
Schwäche des Islam: Er ist nicht institutionalisiert, auf der ganzen Welt
nicht. Islam ist eine Religion zwischen Individuum und Gott. Die Moschee ist nur
Gebetsraum, der Imam nur Vorbeter. Deshalb gibt es in Deutschland keine zentrale
Institution, mit der man über Religionsunterricht oder andere Probleme
diskutieren kann. Es gibt neun Vereinigungen, die den türkischen Islam
vertreten, jede nach ihren Vorstellungen. Die größte Dachorganisation ist
DITIB, Amt für religiöse Angelegenheiten, mit 780 Moschee-Vereinen. Sie
vertritt einen säkularen Islam. Organisationen wie der Zentralrat der Muslime
oder der Islamrat vertreten nur Minderheiten, die nicht unbedingt den liberalen
Islam repräsentieren.
Welche Rolle spielen die Koranschulen in
Deutschland?
Sen: Ich bin absolut gegen die
Koranschulen. Ich bin für eine islamische religiöse Unterweisung in deutschen
Schulen. Wir haben darüber ein Gutachten für das Schulministerium erstellt. Es
sollte sich dabei um Regelunterricht in deutscher Sprache und mit hier
ausgebildeten Lehrern handeln. Es wird höchste Zeit, dass wir einen Studiengang
für islamischen Religionsunterricht in Deutschland einrichten. Das ist eine
Kostenfrage. Da der Islam nicht institutionalisiert ist, sollten die Inhalte von
einer Curriculum-Entwicklungsgruppe festgelegt werden - mit Vertretern der
Schulministerien, der Migranten-Vereinigungen im Land beziehungsweise mit
Wissenschaftlern aus den Entsendeländern.
Sie sprachen von Euro-Islam. Was verstehen Sie
darunter?
Sen: Es gibt in der Welt 56
islamisch geprägte Staaten, und es gibt 56 unterschiedliche Interpretationen
des Islam. In dieser Region hat sich der europäische Islam etabliert - 14
Millionen Muslime leben in der Europäischen Union. Die meisten von ihnen leben
nach den Normen der Industrie-, der Leistungsgesellschaft. Sie sind loyal zur
Verfassung des Staates, in dem sie leben. Und sie sind Vertreter des säkularen
Islam.
Können sich über den Euro-Islam die Kulturen
näher kommen?
Sen: Die EU ist keine
christlich-abendländische Gesellschaft mehr. Der Euro-Islam ist ein
dialogbereiter Islam, der zeigt, dass der Islam ohne weiteres in einer
Demokratie und in der Leistungsgesellschaft existieren kann.
Wie hat der 11. September 2001 das Verhältnis
zu den Muslimen verändert?
Sen: Es hat sich verschlechtert! In
Frankreich, Großbritannien, in Deutschland ist eine Skepsis gegenüber dem
Islam entstanden. Es hat Boykott-Aufrufe gegenüber türkischen Geschäften
gegeben, islamische Frauen mit Kopfbedeckung wurden belästigt. Man hat den
Islam mit Terror gleich gesetzt. Es gibt einige negative Beispiele, die
verallgemeinert werden - etwa Moslem-Brüder in Ägypten, Taliban in Afghanistan
oder Khomeni im Iran. Aber das ist nicht die Mehrheit, man tut dem Islam
Unrecht.
In welchem Zusammenhang steht diese Entwicklung
zur Irakkrise?
Sen: Ich glaube, dieser Konflikt
wird in der gesamten islamischen Welt nicht als Auseinandersetzung zwischen
Islam und Christentum gesehen, sondern eher so, dass eine Weltmacht jemanden
bestrafen will, der, gemessen an seinem ja durchaus verbrecherischen Tun, aus
amerikanischer Sicht entschieden zu viel Öl besitzt. Gegenüber dem Irak ist
die islamische Welt ambivalent - niemand liebt Saddam, doch zugleich fürchtet
man eine Ausweitung des amerikanischen Interventionismus. Mit einem Kultur- oder
Religionskonflikt hat das alles aber nur wenig zu tun.
In den vergangenen Tagen verhandelte die
Türkei mit den USA, gegen Finanzhilfe Truppen ins Land zu lassen. Wie stehen
die Türken in Deutschland zu dieser Entwicklung?
Sen: Die Mehrzahl der Türken und 90
Prozent der Türken in Deutschland sind gegen einen Krieg. Die Türkei hat eine
Grenze von 470 Kilometern zum Irak. Kommt es zum Krieg, werden über eine
Million kurdische Flüchtlinge in die Türkei strömen, werden viele der
jährlich 3,4 Millionen Touristen ausbleiben. Außerdem würde die irakische
Bevölkerung es einem Nachbarstaat sehr übel nehmen, der den USA die
Möglichkeit bietet, in den Irak einzumarschieren.
Die Türkei liegt an der Nahtstelle zwischen
Europa und Asien. Kann sie eine Mittlerrolle einnehmen?
Sen: Das hofft die Türkei. Die
Türkei ist ein Vielvölkerstaat mit 47 ethnischen und religiösen
Gruppierungen. Die Türkei ist parteiisch beim Konflikt auf dem Balkan, in
Georgien, Armenien und Aserbeidschan, weil viele Menschen aus diesen Staaten in
der Türkei leben. Die Türkei kann beim Konflikt im Nahen Osten, bei künftigen
Konflikten im Kaukasus und auf dem Balkan eine Schlüsselrolle spielen. Die
Türkei hat die größte Armee innerhalb der Nato nach den USA.
In der Türkei besteht ja selbst der Konflikt
mit den Kurden, um den es aber ruhiger geworden ist.
Sen Dafür haben drei Gründe eine
Rolle gespielt. Öcalan ist verhaftet, sitzt im Gefängnis, die PKK unternimmt
keine Aktionen mehr. Syrien gewährt der PKK keine Unterstützung mehr.
Außerdem hat die Türkei Fortschritte mit Blick auf die EU-Mitgliedschaft
erzielt: Die Todesstrafe wurde abgeschafft. Das türkische Parlament hat
beschlossen, muttersprachlichen Ergänzungsunterricht in anderen Sprachen und
das kurdische Fernsehen zuzulassen. Doch es gibt es ein Problem in
Südostanatolien: Ob Türken oder Kurden, alle leben dort unter dem
Existenzminimum. In der Region von Istanbul liegt das Pro-Kopf-Einkommen bei 14
000 Dollar, in Südostanatolien sind es keine 400 Dollar. Solange es diese
Unterschiede gibt, wird der Konflikt so schnell nicht beendet. Die Türkei
hofft, dass mit der EU-Mitgliedschaft diese Unterschiede verringert werden.
Würde das eine neue Einwanderungswelle für
Europa bedeuten?
Sen: Nein. Die Türkei hat klar
gestellt, dass sie im Falle des Beitritts zehn bis zwölf Jahre auf die
Freizügigkeit bei den Einreisebestimmungen verzichtet. Und die Arbeitslosigkeit
unter den Türken ist in Deutschland so hoch, dass keine Hoffnung für
Einwanderer auf einen Arbeitsplatz besteht.
Die Türkei hat einen genauen Fahrplan für den
EU-Beitritt gefordert, fühlt sich gegenüber anderen Staaten benachteiligt. Wie
geht es weiter?
Sen Das Kopenhagener Gipfeltreffen
war für die Türkei eine Enttäuschung. Dort glaubte man, dass die EU noch
nicht bereit ist, einen islamisch geprägten Staat aufzunehmen, obwohl die
Türkei die Voraussetzungen genauso erfüllt wie Bulgarien, Rumänien, Polen.
Jetzt hofft die Türkei, dass mit der griechischen und dann mit der
italienischen Präsidentschaft 2004 der Beginn der Beitrittsverhandlungen
vorgezogen wird. Seitdem Öcalan bei der griechischen Botschaft in Kenia
verhaftet wurde, und besonders nach dem Erdbeben haben sich Griechenland und die
Türkei politisch angenähert. Die griechische Regierung befürwortet den
EU-Beitritt der Türkei. Solange die Türkei außerhalb der EU ist, lassen sich
die bestehenden Konflikte zwischen den beiden Ländern nicht lösen. Außerdem
sind die Mittelmeerstaaten in Sorge, dass ihre Region durch die Osterweiterung
der EU an den Rand des Interesses gedrängt wird. Mit der Türkei hoffen
Italiener, Spanier und Griechen auf einen neuen Verbündeten.
Die Türkei ist ein Vielvölkerstaat, religiös
aber überwiegend muslimisch. Doch es gibt eine kleine christliche Minderheit.
Wie frei kann sie ihre Religion ausüben?
Sen: Bei der Gründung des
türkischen Staates 1923 wurden Griechen, Armeniern und Juden religiöse
Freiheiten gewährt. In Istanbul gibt es 170 christliche Kirchen, aber
außerhalb von Istanbul und Izmir hat die christliche Minderheit in einem
absoluten muslimisch geprägten Staat Schwierigkeiten. Deshalb haben viele
Armenier und Syrer Südostanatolien verlassen. Eine Unterdrückung von Christen
gibt es nicht, allerdings hatte man bis 2001 die Rechte der christlichen
Stiftungen beschnitten, die kein neues Eigentum erwerben durften. Das wurde
revidiert. Ein Problem ist, dass neu hinzu kommende christliche Minderheiten
diesen Schutz nicht genießen. In der Türkei leben 60.000 Deutsche, die gern
Kirchen bauen würden, es aber nicht dürfen. In diesem Bereich muss die Türkei
ihre Hausaufgaben besser machen.
Sie sind als Direktor des Zentrums für
Türkeistudien Mittler zwischen verschiedenen Kulturen. Haben Sie auch
politische Ambitionen?
Sen: Wenn mein SPD-Unterbezirk mich
nominiert, werde ich für das Europäische Parlament kandidieren. Doch die
Entscheidung ist noch nicht gefallen.
Quelle: Bericht der NGZ vom 01.03.2003 http://www.ngz-online.de
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