Lehrerin mit Kopftuch
Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und
Unterricht ein Kopftuch zu tragen, findet im geltenden Recht des Landes
Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage. Der mit
zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann
für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes
religiöser Bezüge in der Schule sein.
Dies hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Urteil vom
24.09.2003 - 2 BvR 1436/02 - entschieden. Auf die Verfassungsbeschwerde einer
Lehrerin, die ihre Einstellung als Beamtin auf Probe in den Schuldienst des
Landes Baden-Württemberg anstrebt, hat das BVerfG festgestellt, dass die
entgegenstehenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und der zuständigen
Behörden des Landes Baden-Württemberg die Beschwerdeführerin (Bf) in ihren
Rechten aus Art. 33 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 und mit Art. 33 Abs. 3 des
Grundgesetzes (GG) verletzen. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG)
wurde aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen. Die Entscheidung ist
mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.
Der Fall und die Entscheidungsgründe:
Der zu Grunde liegende Sachverhalt betreffe mehrere
verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen: Jedem Deutschen sei nach
Maßgabe seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleicher Zugang zu
jedem öffentlichen Amt eröffnet. Dabei sei ein Zusammenhang zwischen der
Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis
ausgeschlossen. Das Tragen eines Kopftuchs durch die Bf in Schule und Unterricht
falle unter den Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit. Mit diesem
Grundrecht träten neben dem staatlichen Erziehungsauftrag die Verfassungsgüter
des elterlichen Erziehungsrechts und die negative Glaubensfreiheit der
Schulkinder in Widerstreit. Dazu unter anderem auszuführen: Die dem Staat
gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität sei nicht im Sinne einer
strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und
übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen
fördernde Haltung zu verstehen. Dies gelte insbesondere auch für den Bereich
der Pflichtschule. Christliche Bezüge seien bei der Gestaltung der
öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule müsse aber auch
für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. In
dieser Offenheit bewahre der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine
religiöse und weltanschauliche Neutralität. Indem die Bf durch das Tragen des
Kopftuchs in Schule und Unterricht die Freiheit in Anspruch nehme, ihre
Glaubensüberzeugung zu zeigen, werde die negative Glaubensfreiheit der
Schülerinnen und Schüler, nämlich kultischen Handlungen eines nicht geteilten
Glaubens fernzubleiben, berührt. In einer Gesellschaft mit unterschiedlichen
Glaubensüberzeugungen gebe es allerdings kein Recht darauf, von Bekundungen,
kultischen Handlungen und religiösen Symbolen eines fremden Glaubens verschont
zu bleiben. Die Länder hätten im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit.
Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit
eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu
weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie
der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter Berücksichtigung
des Toleranzgebots habe der demokratische Landesgesetzgeber zu lösen, der im
öffentlichen Willensbildungsprozess eine für alle zumutbare Regelung zu suchen
habe. Dabei könnten die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen.
Bei dem zu findenden Mittelweg dürften auch Schultraditionen, konfessionelle
Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse
Verwurzelung berücksichtigt werden. Diese Grundsätze würden auch gelten, wenn
Lehrern unter Beschränkung ihres individuellen Grundrechts der Glaubensfreiheit
für ihr Auftreten und Verhalten in der Schule mit Rücksicht auf die Wahrung
der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Pflichten auferlegt
werden sollten. Brächten Lehrkräfte religiöse oder weltanschauliche Bezüge
in Schule und Unterricht ein, könne dies den in Neutralität zu erfüllenden
staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative
Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Es sei
zumindest möglich, dass dadurch Schulkinder beeinflusst und Konflikte mit
Eltern ausgelöst würden, die den Schulfrieden stören und die Erfüllung des
Erziehungsauftrags der Schule gefährden könnten. Auch die Bekleidung von
Lehrern, die als religiös motiviert verstanden werden könne, könne so wirken.
Dies seien aber lediglich abstrakte Gefahren. Sollten bereits derartige bloße
Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts auf Grund des Auftretens
der Lehrkraft und nicht erst deren konkretes Verhalten als Verletzung
beamtenrechtlicher Pflichten oder als Eignungsmangel bewertet werden, so sei
eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. Denn diese
Bewertung gehe mit einer Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts
aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einher. Dazu sei im Einzelnen auszuführen: Der
Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs werde höchst
unterschiedlich wahrgenommen. Es könne ein Zeichen für als verpflichtend
empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der
Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit werde in ihm verstärkt ein
politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des
Kopftuchs könne jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung
der Frau verkürzt werden. Dies zeigten neuere Forschungsergebnisse. Junge
muslimische Frauen wählten das Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der
Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Insoweit sei nicht
belegt, dass die Bf allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trage, etwa
muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des
Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben
erschweren würde. Für die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs in Schule und
Unterricht einen Eignungsmangel begründe, komme es darauf an, wie das Kopftuch
auf einen Betrachter wirken könne. Hinsichtlich der Wirkung religiöser
Ausdrucksmittel sei entscheidend, ob das in Frage stehende Zeichen auf
Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund eigener Entscheidung von einer
einzelnen Lehrkraft in Ausübung ihrer Glaubensfreiheit verwendet werde. Dulde
der Staat in der Schule eine religiös deutbare Bekleidung von Lehrern, die
diese auf Grund individueller Entscheidung trügen, so könne dies mit einer
staatlichen Anordnung, religiöse Symbole in der Schule anzubringen, nicht
gleichgesetzt werden. Der Staat mache mit der Hinnahme einer bestimmten
Bekleidung einer einzelnen Lehrerin diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner
eigenen und müsse sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen
lassen. Ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch könne
allerdings deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte
Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens
stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert seien. Es fehle jedoch
eine gesicherte empirische Grundlage für die Annahme, dass vom Tragen des
Kopftuchs bestimmende Einflüsse auf die religiöse Orientierung der Schulkinder
ausgehen könnten. Die in der mündlichen Verhandlung dazu angehörten
Sachverständigen konnten von keinen gesicherten Erkenntnissen über eine solche
Beeinflussung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht berichten. Für
ein mit der Abwehr bloß abstrakter Gefährdungen begründetes vorbeugendes
Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, reiche
die im Land Baden-Württemberg geltende beamten- und schulrechtliche
Gesetzeslage nicht aus. Dem zuständigen Landesgesetzgeber stehe es frei, die
bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen. So könne er im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der
Schule neu bestimmen. Dabei habe er die grundrechtlich geschützten
Rechtspositionen der Lehrer, der Schüler, der Eltern und die Pflicht des
Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität angemessen zu
berücksichtigen. Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene
gesellschaftliche Wandel könne Anlass sein, das zulässige Ausmaß religiöser
Bezüge in der Schule neu zu bestimmen. Die Schule sei der Ort, an dem
unterschiedliche religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinandertreffen und
wo sich dieses Nebeneinander in besonders empfindlicher Weise auswirke. Es
ließen sich Gründe dafür anführen, die zunehmende religiöse Vielfalt in der
Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz
zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Mit
der beschriebenen Entwicklung sei aber auch ein größeres Potential möglicher
Konflikte in der Schule verbunden. Es möge deshalb auch gute Gründe dafür
geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine
striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und
demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte
religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte
mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden. Wie
auf die gewandelten Verhältnisse zu antworten sei, habe nicht die Exekutive zu
entscheiden. Vielmehr bedürfe es hierfür einer Regelung durch den demokratisch
legitimierten Gesetzgeber. Nur er verfüge über eine Einschätzungsprärogative,
die Behörden und Gerichte nicht für sich in Anspruch nehmen könnten. Ein
Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen als Element einer gesetzgeberischen
Entscheidung über das Verhältnis von Staat und Religion im Schulwesen könne
die Religionsfreiheit zulässigerweise einschränken. Diese Annahme stehe im
Einklang mit Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichteten den Gesetzgeber, die für
die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies
gelte vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte - wie hier - von der
Verfassung ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet seien und eine Regelung damit
notwendiger Weise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und
konkretisieren müsse. Solche Regelungen seien dem Parlament vorbehalten, um
sicher zu stellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren
hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit biete, ihre Auffassungen
auszubilden und zu vertreten und die Volksvertretung dazu anhalte, Notwendigkeit
und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.
Sondervotum:
Die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff haben in einem Sondervotum
ausgeführt:
a) Der von der Senatsmehrheit angenommene Gesetzesvorbehalt
für die Begründung von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Religions- und
Weltanschauungsfreiheit des Beamten wurde bislang weder in Rechtsprechung und
Literatur noch von der Bf selbst vertreten. Aufgrund dieser Annahme bleibt die
verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im
Bildungs- und Erziehungsraum der Schule unentschieden. Außerdem kommt es zu
einer im Grundgesetz nicht angelegten Fehlgewichtung im System der
Gewaltenteilung sowie im Verständnis der Geltungskraft der Grundrechte beim
Zugang zu öffentlichen Ämtern. Schließlich gibt die Senatsmehrheit dem
Landesgesetzgeber keine Möglichkeit, sich auf die von ihr angenommene neue
Verfassungsrechtslage einzustellen und versäumt es, Rechtsprechung und
Verwaltung zu sagen, wie sie bis zum Erlass eines Landesgesetzes verfahren
sollen. Dazu heißt es in der abweichenden Meinung im Einzelnen:
Der Grundrechtsschutz für Beamte ist funktionell begrenzt.
Wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die Seite des
Staates. Beamtete Lehrer genießen bereits vom Ansatz her nicht den selben
Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Sie sind vielmehr an Grundrechte
gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt. Die
Dienstpflicht des Beamten ist die Kehrseite der Freiheit desjenigen Bürgers,
dem die öffentliche Gewalt in der Person des Beamten gegenübertritt. Mit
Dienstpflichten sichert der Staat in seiner Binnensphäre die gleichmäßige,
gesetzes- und verfassungstreue Verwaltung. Die Rechtsstellung des Bewerbers, der
keinen Einstellungsanspruch hat, darf nicht aus der Abwehrperspektive eines
Grundrechtsträgers gegen den Staat gesehen werden. Mit dem freiwilligen
Eintritt in das Beamtenverhältnis entscheidet sich der Bewerber in Freiheit
für die Bindung an das Gemeinwohl und die Treue zu einem Dienstherrn. Die
Geltung des Gesetzesvorbehalts im Schulrecht ist in der Vergangenheit nicht zum
Schutze der beamteten Lehrer, sondern um der Eltern und Schüler willen
ausgeweitet worden. Wer im grundrechtsverpflichteten Lehrer primär den
Grundrechtsträger sieht und seine Freiheitsansprüche damit gegen Schüler und
Eltern richtet, verkürzt deren Freiheit. Beamte sollen freiheitsbewusste
Staatsbürger sein, sie sollen zugleich aber den grundsätzlichen Vorrang der
Dienstpflichten und den darin verkörperten Willen der demokratischen Organe
achten. Das Beamtenverhältnis als besondere Nähebeziehung zwischen Bürger und
Staat ist gerade keine vom Grundrechtsanspruch des Beamten geprägte
Rechtsbeziehung. Die hier zu beurteilende Eignungsbeurteilung darf nicht mit
einem Eingriff in die Glaubensfreiheit verwechselt werden. Die
Neutralitätspflicht des Beamten ergibt sich aus der Verfassung selbst. Die
Begründung der Senatsmehrheit ist deshalb mit grundlegenden Aussagen der
Verfassung zum Verhältnis von Gesellschaft und Staat nicht vereinbar. Verkannt
wird insbesondere die Stellung des öffentlichen Dienstes bei der Verwirklichung
des demokratischen Willens. Im Einzelnen heißt es dazu: Wer Beamter werden
will, strebt die Nähe zur öffentlichen Gewalt an und begehrt - wie die Bf -
die Begründung eines besonderen Dienst- und Treueverhältnisses zum Staat.
Diese Pflichtenstellung überlagert den grundsätzlich auch für Beamte
geltenden Schutz der Grundrechte, soweit Aufgabe und Zweck des öffentlichen
Amts dies erfordern. Die dem Beamten obliegenden Verpflichtungen sind
entscheidend für das Vertrauen der Bürger in die Erfüllung der Aufgaben des
demokratischen Rechtsstaats. Hieraus folgt das Neutralitäts- und
Mäßigungsgebot der Beamten, das der grundsätzlichen Neutralitätspflicht des
Staates auch für den religiösen und weltanschaulichen Bereich entspricht. Es
kennzeichnet das Berufsbeamtentum, dass der Dienstherr Dienstpflichten nach den
jeweiligen Bedürfnissen einer rechtsstaatlichen und sachlich wirksamen
Verwaltung festlegt. Diese Prinzipien gelten unmittelbar von Verfassungs wegen.
Die Anforderungen an Zurückhaltung und Neutralität des Beamten bedürfen
deshalb weder allgemein noch im Schulverhältnis weiterer gesetzlicher
Konkretisierung.
b) Nach diesen Maßstäben ist das von der Bf begehrte
kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht mit dem Mäßigungs- und
Neutralitätsgebot eines Beamten nicht vereinbar. Um die Eignung eines
Beamtenbewerbers zu verneinen, bedarf es keiner "konkreten Gefährdung des
Schulfriedens". Diese Annahme verkennt den Beurteilungsmaßstab für die
Eignungsbeurteilung. Die Entfernung eines Beamten auf Lebenszeit aus dem Dienst
wegen Verletzung seiner Dienstpflichten ist nur eingeschränkt möglich. Deshalb
muss der Dienstherr bereits zuvor im Rahmen der Eignungsprüfung dafür sorgen,
dass niemand Beamter wird, der nicht die Gewähr dafür bietet, die aus Art. 33
Abs. 5 GG folgenden Dienstpflichten einzuhalten. Auch auf eine abstrakte
Gefahrenlage kommt es in einem solchen Konfliktfall nicht an. Es widerspricht
vielmehr dem beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalt, wenn sich der Staat gegen
seine eigenen Beamten, die ihn verkörpern und durch die er handelt, auf die
polizeirechtliche Gefahrenschwelle berufen müsste, um deren Verhalten im Dienst
zu reglementieren. Zur Konkretisierung einer Dienstpflicht von Beamten bedarf es
auch nicht des wissenschaftlich-empirischen Nachweises einer Gefahrenlage. Durch
die Verwendung signifikanter Bekleidungssymbole erscheint ein Konflikt in
nachvollziehbarer Weise oder sogar naheliegend. Davon sind die Fachgerichte zu
Recht ausgegangen. Das Kopftuch, getragen als kompromisslose Erfüllung eines
von der Beschwerdeführerin angenommenen islamischen Verhüllungsgebotes der
Frau, steht gegenwärtig für viele Menschen innerhalb und außerhalb der
islamischen Religionsgemeinschaft für eine religiös begründete
kulturpolitische Aussage, insbesondere das Verhältnis der Geschlechter
zueinander betreffend. Die Senatsmehrheit hat diesem Umstand keine ausreichende
Bedeutung zugemessen. Sie hat sich deshalb auch nicht damit auseinander gesetzt,
ob die Auffassung, eine Verhüllung der Frauen gewährleiste ihre Unterordnung
unter dem Mann, offenbar von einer nicht unbedeutenden Zahl der Anhänger
islamischen Glaubens vertreten wird und deshalb geeignet ist, Konflikte mit der
auch im Grundgesetz deutlich akzentuierten Gleichberechtigung von Mann und Frau
hervorzurufen.
c) Der baden-württembergische Landtag hat ausdrücklich
bekundet, aus Anlass des Falles der Bf kein formelles Gesetz zu erlassen. Dies
übergeht die Begründung der Senatsmehrheit. Die dem Landesgesetzgeber
anheimgestellte Aufgabe, sich unmittelbar aus Verfassungsrecht ergebende
Beschränkungen deklaratorisch nachzuzeichnen, ist aber nicht seine Sache, zumal
ein solches Gesetz möglicherweise in späteren Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht erneut auf den Prüfstand gestellt wird. Zudem wird die
Volksvertretung im Unklaren gelassen, wie eine verfassungsgemäße Regelung
aussehen kann. Die offenen Fragen zählt das Sondervotum auf. Schließlich kann
sich der Landesgesetzgeber nicht auf die angenommene neue Verfassungsrechtslage
einstellen. Rechtsprechung und Verwaltung erfahren nicht, wie sie bis zum Erlass
eines Landesgesetzes verfahren sollen. Der Senat lässt eine
verfassungsrechtliche Grundsatzfrage trotz Entscheidungsreife unbeantwortet. Mit
der unerwarteten Forderung der Senatsmehrheit nach einem Gesetzesvorbehalt für
die Begründung von Dienstpflichten wird das auch dem Staat als
Verfahrensbeteiligtem zustehende Prozessrecht auf rechtliches Gehör nicht
hinreichend berücksichtigt. Ein solcher Gesetzesvorbehalt war auch in der
mündlichen Verhandlung nicht ernsthafter Gegenstand des Rechtsgesprächs. Das
Land hätte dazu Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten müssen. Angesichts
dieses prozessualen Versäumnisses hätte dem Landesgesetzgeber auch nach der
bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt eine
angemessene Übergangsfrist gewährt werden müssen. Dies hätte die
Auswirkungen einer Überraschungsentscheidung gemindert. Der Landesgesetzgeber
hätte dann auch für den vorliegenden Fall eine wirksame gesetzliche Grundlage
schaffen können. Schließlich bleibt auch unklar, wie das
Bundesverwaltungsgericht mit dem zurückverwiesenen Rechtsstreit weiter
verfahren soll. Einerseits müsste es auf der Grundlage der Annahme der
Senatsmehrheit der Klage zur Zeit stattgeben, was zu beamtenrechtlich
vollendeten Tatsachen führen würde, andererseits käme auch eine Aussetzung
des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in Betracht, bis der Landtag eine
lehrerdienstrechtliche gesetzliche Grundlage geschaffen hat.
Urteil des BVerfG vom 24.09.2003 - 2 BvR 1436/02 -
Quelle: Pressemitteilung Nr. 71/2003 des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003
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