Demographischer Wandel
Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der
Konferenz "Demographischer Wandel" in Berlin
Entwurfsfassung! - Gesprochenes Wort folgt.
I.
Ganz herzlich möchte ich Sie willkommen heißen! Ich freue
mich auf unsere Zusammenarbeit.
Das Thema unserer Konferenz ist im Grunde: die Zukunft. Wir alle wissen: Die
Zukunft ist ihrer Natur nach offen. Das macht unser Thema so interessant.
Dauernd wird sie vorhergesagt, dauernd werden Vorhersagen wieder revidiert. Fest
steht aber auch: Wir können die Zukunft beeinflussen, zum Guten wie zum
Schlechten. Und weiter steht fest: Wir haben sie oft beeinflusst, ohne uns
dessen bewusst zu sein. Denn Zukunft ist zu einem gehörigen Teil auch aus dem
gemacht, was wir in der Vergangenheit getan oder unterlassen haben - als
einzelne und als Gesellschaft im Ganzen.
Wir Deutsche haben die Zukunft unseres Landes erheblich vorbestimmt, indem wir
in den vergangenen dreißig Jahren sehr viel weniger Kinder zur Welt gebracht,
ausgebildet und erzogen haben als in den Jahrzehnten davor. Das hat schon unsere
Gegenwart verändert - auf den Spielplätzen tollen immer weniger Kinder umher,
und in den Fußgängerzonen ist Kinderlachen immer seltener geworden. Aber das
ist erst der Anfang. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann wird sie die
Zukunft unseres Landes noch viel stärker prägen, denn immer weniger Kinder
bedeuten auch immer weniger künftige Eltern.
II.
In Zahlen gesprochen: Seit Anfang der 1970er Jahre ist jede
neue Generation von Deutschen um rund ein Drittel kleiner als ihre
Elterngeneration. Zugleich werden wir immer älter. Wir haben im Durchschnitt
rund vier Jahre länger zu leben als unsere Eltern; und unsere Kinder - wenn wir
welche haben - wiederum vier Jahre länger als wir. Die Lebenserwartung liegt
heute um 30 Jahre höher als vor 100 Jahren.
Bliebe die Geburtenrate gleich, stiege die Lebenserwartung wie bisher und kämen
von heute auf morgen keine Einwanderer mehr, dann würden am Ende dieses
Jahrhunderts nicht einmal halb so viele Menschen in Deutschland leben wie heute.
Wahrscheinlich wird die Einwohnerzahl dann doch um einiges höher liegen.
Jedenfalls, wenn weiterhin mehr Menschen zu- als abwandern. Aber auch
Zuwanderung auf dem bisherigen Niveau wird den Bevölkerungsrückgang nicht
aufhalten, sondern allenfalls bremsen.
Wie genau auch immer diese Prognosen sein mögen - der Trend steht fest:
Während sich in manchen Teilen Afrikas und der arabischen Welt die Bevölkerung
schon in den nächsten 50 Jahren fast verdoppeln könnte, wird sie in
Deutschland schrumpfen, und sie wird altern.
Die Folgen dieses Wandels werden nicht alle Regionen zugleich und nicht alle mit
der gleichen Wucht treffen. Ostdeutsche Städte wie Halle und Chemnitz, aber
auch westdeutsche wie Bremerhaven und Gelsenkirchen verlieren schon jetzt immer
mehr Bewohner. Kindergärten und Schulen, Büchereien und Theater werden
geschlossen, Bürogebäude und Ladenlokale stehen leer, Buslinien werden
eingestellt, Unternehmen finden nicht mehr genug qualifizierte Mitarbeiter.
Zugleich werden in einigen großen Städten immer mehr Menschen leben, die
selbst oder deren Eltern aus dem Ausland zugewandert sind - rund fünfzig
Prozent werden sie schon in ein paar Jahren bei den unter 40jährigen ausmachen.
Wer Arbeit hat, muss künftig für immer mehr Ältere mitsorgen. Während heute
100 Menschen im Erwerbsalter für 44 Rentner aufkommen, werden sie im Jahr 2050
bereits für gut 80 Rentner zu sorgen haben. Bis dahin wird sich zudem die Zahl
der Hochbetagten verdreifachen. Auf der anderen Seite fehlen die Kinder, die
gestern nicht geboren wurden, morgen als Kunden und Konsumenten. Sie fahren
nicht Auto, brauchen keine Wohnung, machen keine Urlaubsreise und gehen nicht
ins Restaurant.
III.
Der demographische Wandel wird also jeden einzelnen von uns
betreffen. Genau so wichtig ist aber auch die Feststellung: Wir sind den
Ursachen und den Folgen des demographischen Wandels nicht hilflos ausgeliefert.
Wir haben durchaus Möglichkeiten zu handeln, die Zukunft zum Guten zu
beeinflussen. Und wir müssen diese Möglichkeiten auch nutzen, das schulden wir
den nachfolgenden Generationen.
Dann müssen wir uns aber zunächst auch Fragen stellen: Wie stellen wir uns die
Zukunft unseres Landes in zwanzig, fünfzig, hundert Jahren vor? Wie werden wir
leben, wie wollen wir leben? Wollen wir vor allem auf die
Selbststeuerungskräfte der Gesellschaft vertrauen - oder wollen wir versuchen,
Weichen neu zu stellen? Und welche Optionen stehen uns dafür offen?
Das sind die grundlegenden Fragen. Ich wünsche mir eine ganz offene,
unvoreingenommene Diskussion darüber - bei dieser Konferenz, vor allem aber
auch überall in Deutschland.
IV.
Verstehen, was geschieht, mit den Folgen umgehen und
Handlungsoptionen für die Zukunft entwickeln: drei große Herausforderungen
für unser Land - und für uns alle hier im Saal.
Dabei gehört an den Anfang die Frage, ob die verfügbaren Zahlen und Fakten
ausreichen, um die bevorstehenden Veränderungen zu erfassen. Sind unsere
Statistiken ausreichend? Oder brauchen wir präzisere Umfragen, tiefer gehende
Stichproben, eine neue Volkszählung?
Wir wollen die komplexen Folgen kennen, die der demographische Wandel für alle
Bereiche unserer Gesellschaft hat. Wir wollen wissen, was er bedeutet für die
hier ansässigen Unternehmen und Betriebe, für die Schulen und Universitäten,
für die Forschung. Wir wollen herausfinden, wie er das Gesicht unserer Städte
und Landschaften verändern wird; wen er wie trifft - im Osten, im Westen, im
Norden, im Süden. Und: Wie er sich auf die Beziehungen der Menschen
untereinander auswirken wird.
Besonders viele Gedanken mache ich mir darüber, was es für ein Land bedeutet,
wenn immer weniger Kinder darin leben. Man sagt ja oft: "Eine Gesellschaft
ohne Kinder ist eine Gesellschaft ohne Zukunft". Und es stimmt ja, Kinder
sind von Natur aus neugierig, lernfreudig, zuversichtlich. Aber bedeuten weniger
Kinder auch automatisch weniger Innovationsfreude, weniger Offenheit gegenüber
neuen Ideen und mehr Zukunftsangst? Können ältere Gesellschaften nicht
vielleicht genauso offen für Neues sein wie jüngere? Und: Wer sagt denn
eigentlich, ab wann wir alt sind? "Man ist immer so alt wie man sich
fühlt" - gilt das auch für unser Land?
Ich habe den Eindruck, dass das von den Älteren gebildete
"Humanvermögen" noch längst nicht gut genug genutzt wird. Ich bin
sicher: Man kann auch im Alter offen für Neues und kreativ bleiben, und die
Erfahrung und Umsicht der Älteren sind in vielen Zusammenhängen wichtig. Wir
müssen deshalb auch darüber nachdenken, was wir gegen die
Altersdiskriminierung auf dem Arbeitsmarkt tun können, der sich so viele
Menschen ausgeliefert fühlen. Da sind nicht zuletzt die Tarifparteien
gefordert. Was ist das für ein Land, in dem wir bald bis 67 arbeiten sollen, in
dem aber viele schon mit 50 keine Stelle mehr finden, weil die
Unternehmensleitungen eine "vergreisende Belegschaft" befürchten oder
weil sie vorrechnen, ältere Mitarbeiter kosteten sie zu viel? Da muss umgedacht
und umgesteuert werden!
Eine der wichtigsten Fragen wird sein, wie wir Zuwendung und Pflege für immer
mehr alte Menschen sichern, die keine Familien mehr haben, die sich um sie
kümmern können. Ich habe auf meinen Reisen schon viele gute Beispiele dafür
gesehen. Das Stiftungsdorf Gröpelingen in Bremen zum Beispiel: Eine Wohnanlage,
in der Zuwanderer ihren Lebensabend gemeinsam mit Einheimischen verbringen, in
der es eine Tagesstätte gibt für die Kleinsten, in der behinderte Menschen
einen Platz finden, in der eine Volkshochschule Anregungen und neue Fähigkeiten
vermittelt - das Ganze übrigens initiiert und finanziert von einem
türkischstämmigen Unternehmer. Oder die Mehrgenerationenhäuser, in denen sich
Alte und Junge gegenseitig helfen, indem die einen die anderen betreuen, indem
sie tauschen, was sie zu tauschen haben: Ob Kinderkleidung oder Kenntnisse - vor
allem aber Zeit und Zuwendung. Was können wir tun, dass viele solcher Ideen
Realität werden?
Zentral wird die Frage sein, wie wir unsere sozialen Sicherungssysteme umbauen
und ergänzen, damit die wachsende Zahl der Älteren auch künftig einen guten
Lebensabend hat, ohne die Jüngeren zu überlasten. Wir müssen uns darüber
Gedanken machen, wo wir sparen können, und wo das staatliche Handeln viel
effizienter werden kann, damit unsere Kinder und Enkel überhaupt noch
finanzielle und damit politische Gestaltungsspielräume haben.
Wenn wir sparen, dann freilich nicht an der Bildung. Denn klar ist, dass es bei
sinkenden Kinderzahlen noch dringender als je zuvor geboten ist, jedem Kind in
unserem Land ungeachtet seines Elternhauses bestmögliche Bildungschancen zu
geben. Das ist und bleibt die wichtigste Form sozialer Gerechtigkeit. Wie
versetzen wir alle Kinder in die Lage, nach Kräften Gebrauch von ihren Talenten
zu machen? Hier sehe ich, wie in vielen anderen Bereichen, schon gute,
ermutigende Arbeit im Alltag: Zum Beispiel bei meinem Besuch in der
Gemeinschaftshauptschule Tiefentalstraße in Köln-Mülheim, die sich
tagtäglich dafür einsetzt, die Bildungschancen von Migrantenkindern zu
verbessern. Hier gibt es aber strukturell noch viel zu verbessern!
Darüber hinaus gibt es viele Fragen, die wir uns noch nicht ernsthaft genug
stellen. Zum Beispiel: Wollen wir mehr Zuwanderung? Und wenn ja, welche? Wie
kann die Integration von Zuwanderern und ihren Nachkommen gelingen? Denn klar
ist, dass der Bevölkerungsanteil derer mit Migrationshintergrund, wie es ein
wenig kompliziert heißt, stetig wachsen wird. Welche Hilfestellung brauchen
Menschen, um bei uns Fuß zu fassen, und was müssen sie mitbringen - von der
Bereitschaft, Deutsch zu lernen, bis zur Anerkennung der Grundwerte, die unsere
Verfassung und unser Zusammenleben prägen?
Ich finde, wir sollten uns aber nicht nur fragen, was wir dem Altern und dem
Schrumpfen unserer Gesellschaft entgegensetzen können. Wir sollten uns ruhig
auch mal fragen, ob wir ihm überhaupt etwas entgegensetzen wollen.
Fragen wir doch auch einmal, wie es sich lebt mit erheblich weniger als 80
Millionen Einwohnern. Vielleicht sind die viel beschworenen demographischen
Probleme gar keine Probleme, sondern viel mehr auch Lösungen - für andere
Probleme wie Umweltverschmutzung zum Beispiel. Vielleicht ist die Schrumpfung
der Bevölkerung in Deutschland und vielen anderen Ländern sogar ein Ausgleich
für das Wachstum der übrigen Weltbevölkerung. Vielleicht kann uns der
demographische Wandel helfen, den herkömmlichen Begriff von Wachstum neu zu
definieren.
Wenn wir dem Altern und dem Schrumpfen unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen
wollen, dann sollten wir uns fragen, ob wir uns eigentlich wirklich damit
auseinandergesetzt haben, warum immer mehr junge Menschen kinderlos bleiben -
und das, obwohl sie in Umfragen durchaus den Wunsch nach Familie und Kindern
äußern.
Ihnen die Erfüllung dieses Wunsches möglich zu machen, sollte uns ein hohes
Ziel sein - und zwar bewusst nicht vor allem deshalb, weil das demographisch
wünschenswert ist, sondern weil Kinder unserem Leben Sinn und Offenheit geben.
Wer das Glück hat, Kinder heranwachsen zu sehen, entdeckt das Leben noch einmal
ganz neu. Wer mit Kindern lebt, lernt, gewohnte Dinge in Frage zu stellen - und
wird selbst viel von ihnen lernen. Wer selber Kinder hat, trägt Verantwortung
über die eigene Lebensspanne hinaus - und lebt in der Erinnerung seiner Kinder
fort. "Ein Kind ist die einzige Art der Unsterblichkeit, derer wir sicher
sein können", hat Sir Peter Ustinov einmal gesagt. Auch wer auf mehr
hofft, wird nicht widersprechen.
Wenn Frauen und Männer in Deutschland gerne mehr Kinder hätten, als sie
tatsächlich bekommen, dann müssen wir vor allem fragen, was sie daran hindert
und wie die Hindernisse möglichst beiseite geräumt werden können. Wie tragen
wir den veränderten Lebenswünschen gerade von besonders qualifizierten jungen
Leuten besser Rechnung? Welche Chancen eröffnen wir jungen Frauen und Müttern,
die heute vielfach dasselbe wollen wie die Männer: Eigenständigkeit im Beruf -
und Kinder? Was kann geschehen, um Familienwelt und Berufswelt, diese noch immer
so schwer miteinander verträglichen Sphären, besser vereinbar zu machen? Wie
nutzen wir die Möglichkeiten, die in der Auflösung der alten Rollenmuster -
den Frauen die Familie, den Männern den Beruf - ja doch auch liegen? Was muss
sich bei uns Männern ändern? Wie können wir Familien in allen Lebenslagen
unterstützen?
Wann begreifen wir endlich: Jeder Euro, der die Bedingungen für Familien
verbessert, ist keine Subvention für eine Bevölkerungsgruppe unter vielen,
sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unseres Landes! Und wie
beweisen wir über das Materielle hinaus mehr Achtung und Anerkennung dafür,
was Eltern indirekt für alle anderen mit leisten, indem sie für Nachwuchs
sorgen?
V.
Die Aufgaben sind groß. Das sollte uns aber nicht bange
machen. Wir können vielleicht nicht auf alle der vielen Fragen überzeugende
Antworten finden, aber möglicherweise auf einige. Dann können wir entsprechend
handeln. Und schließlich: Es gibt schon eine ganze Menge, worauf wir aufbauen
können: Die vielen praktischen Beispiele für gutes Zusammenleben, von denen
ich gerade gesprochen habe; die vielen vorzüglichen Studien.
Ich wünsche mir aber noch mehr davon! Wir müssen unsere Kenntnisse und Kräfte
vereinen. Wir müssen die Menschen erreichen, die etwas von unserem Thema
verstehen und die die Dinge voranbringen können. Und wir müssen allen
klarmachen: Wenn wir heute vom demographischen Wandel unseres Landes reden, dann
reden wir von unserer persönlichen Zukunft. "Die Gesellschaft", das
sind wir alle. Wir, die wir wissen wollen, wovon wir künftig leben werden; mit
wem wir unseren Lebensabend verbringen werden; wer bei uns sein wird, wenn wir
nicht mehr so können, wie wir wollen. Wir alle müssen gemeinsam dafür sorgen,
dass jetzt gehandelt wird. Denn das, was wir heute tun werden, wird ein, zwei
Jahrzehnte brauchen, um nachhaltig zu wirken, aber auch dann noch Früchte
tragen, wenn es uns selber längst nicht mehr gibt.
Ich will mit diesem Forum Demographie heute, morgen und in den kommenden Jahren
einen Beitrag leisten - gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung, der ich herzlich
danke für die Zusammenarbeit. Dem Land Baden-Württemberg und stellvertretend
Herrn Minister Professor Reinhart danke ich dafür, dass wir in dieser schönen
Landesvertretung tagen können. Ich hoffe, Sie alle helfen mit - jeder an seinem
Platz und jede in ihrem Verantwortungsbereich - all die Fragen und möglichen
Antworten hinaus in unser Land zu tragen.
Ich kenne ein afrikanisches Sprichwort, dass für unsere gemeinsamen Gespräche
über Demographie heute und morgen den Weg weisen könnte. Es lautet: "Die
beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor zwanzig Jahren. Die zweitbeste Zeit
ist jetzt."
Quelle: Pressemitteilung vom 7.12.2005 - http://www.bundespraesident.de
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