Aussiedler
Seit den achtzigen Jahren kommen mehr und mehr Immigranten aus Ost- und
Südosteuropa nach Deutschland. Diese Immigranten sind meistens keine Ausländer, sondern
Aussiedler: Deutsche, die nach den Gesetzen der Bundesrepublik "ein Recht darauf
haben, in Deutschland zu leben". Die Aussiedler sind die Nachkommen von Deutschen,
die vor mehr als 200 Jahren nach Osteuropa ausgewandert sind. Um 1760 haben Tausende
Deutsche aus Hessen, Rheinland, Westfalen und Württemberg Siedlungen in Siebenbürgen
(Rumänien) und im Wolgagebiet (Rußland) gegründet. Sie haben dort versucht, über
Jahrhunderte ihre deutsche Kultur und deutsche Sprache zu bewahren. Nach dem Einmarsch der
deutschen Armee in die Sowjetunion während des zweiten Weltkriegs wurde die gesamte
deutsche Bevölkerung des Wolgagebiets von Stalin nach Sibirien deportiert.
Die Aussiedler, die jetzt zurück ins ehemalige Heimatland einwandern, kommen aus den
deutschen Siedlungsgebieten in Rußland, Kasachstan, Rumänien und Poland, wo die
Bevölkerungszahl der deutschen Minderheiten rund um 3,5 Million beträgt. Die
Einwanderung deutsch-stämmiger Immigranten aus Osteuropa beträgt jährlich rund 220 000
und ist von 753 im Jahre 1986 auf 213 214 im Jahre 1994 gestiegen.
Warum kommen Aussiedler nach Deutschland?
Viele Aussiedler verlassen Haus und Hof und geben ihren Bekanntenkreis auf, um nach
Deutschland zu ziehen, trotz der ungewissen Zukunft, die ihnen gegenübersteht, wenn sie
nach Deutschland kommen. Nun stellt sich die Frage, warum kommen sie denn nach ihrem
"Heimatland". Dafür gibt es gibt vier Hauptgründe:
1) Die Aussiedler fühlten sich als Deutsche, nachdem sie nach Russland
ausgewandert waren und bewahrten immer noch ihren kirchlichen Glauben und ihre kulturellen
Traditionen z.B. Volkslieder, obwohl sie deswegen verfolgt wurden. Diese Verfolgung
motiviert Aussiedler in ihr Heimatland zurückzukehren, weil sie als Deutsche leben
wollen. In den Herkunftsländern leben die Aussiedler als Minderheit, und deshalb sehen
sie kaum Möglichkeiten ihre kirchlichen Traditionen und eigene Kultur zu bewahren.
Freiheit ist eine wichtige Überlegung, insbesondere angesichts der Verfolgung, unter der
sie während der Schreckensherrschaft Stalins litten.
2) Die Aussiedler ziehen die Zukunft ihrer Kinder in Erwägung: sie sehen
für ihre Kinder bessere Bildungsmöglichkeiten im Westen. Trotz der Schwierigkeiten, die
das neue Leben bringt, ziehen viele Aussiedler um ihrer Kinder willen. Erna und Alexander
Zimbalist sagten, daß sie nach Deutschland zurückgekehrt seien, weil es ihre Kinder
Elena, Oxana, Irina und Tatjana einmal besser haben sollten.
3) Wegen der ungewissen Wirtschaftslage in den Herkunftsländern und der
relativ sicheren Wirtschaft Deutschlands wollen sie nach Deutschland kommen. Sie sehen
bloß keine wirtschaftlichen Perspektiven mehr in ihren Herkunftsländern.
4) Sprache ist auch ein Motiv für die Aussiedler, die nach dem Kollaps
der ehemaligen Sowjetunion zurückkehrten. Seit diesem Zusammenbruch lebt die
Nationalismus in mittelasischen Staaten wie Kasachstan und Krygyzstan wieder auf. Jürgen
Likkai, einer der Aussiedler aus Kasachstan, der jetzt in einem Übergangsheim wohnt,
sagte, in Kasachstan sei es die Regel: Kasachstan für Kasachen. Warum die Aussiedler nach
Deutschland kommen wollen, läßt sich leicht verstehen.
Was für Schwierigkeiten erfahren die Aussiedler?
Paradoxerweise ist die Sprache eines der größten Probleme, die die Aussiedler erfahren,
wenn sie nach Deutschland zurückkehren. Viele können kein Deutsch und diejenigen die
immer noch Deutsch können, stellen bald fest, daß entweder ihre Beherrschung der
deutschen Sprache unzulänglich ist, oder ihre Deutsch antiquiert ist.
Daraus ergibt sich, daß es ihnen schwer fällt, eine Arbeitsstelle zu finden.
Arbeitslosigkeit kommt auch aus der Tatsache, daß viele Aussiedler Landwirtschaftler
gewesen sind. Deutschland ist im wesentlichen eine Industrienation, und deshalb besteht
wenig Nachfrage nach Landwirtschaftlern. Viele Aussiedler müssen sich umschulen lassen,
und nicht nur wenn sie Landwirtschaftler gewesen sind, sondern auch wenn sie ihre
Ausbildung in der Sowjetunion gemacht haben und ihren Beruf in Deutschland ausüben
wollen. Diese wird nämlich in Deutschland nicht anerkannt.
Im Gegensatz zu ihren jungeren Geschwistern geraten Jugendliche in Schwierigkeiten, weil
sie oft ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland kommen. In Gebieten, in denen viele
Aussiedler wohnen, gibt es besondere Schulklassen, um die Aussiedler zu integrieren. Trotz
dieser Klassen gibt es viele Jugendliche, die erhebliche Schwierigkeiten haben. Sie
geraten in Konflikt mit anderen Minderheiten (vor allem Türken), mit denen sie
Schlägereien haben. Alkohol und Kriminalität sind auch Probleme für Jugendliche.
Jugendliche werden zum Opfer von der russischen Mafia, die Arbeit und Geld als Lockmittel
benutzt.
Viele Aussiedler sind von Deutschland enttäuscht, weil sie feststellen, daß ihre Heimat
verwestlicht ist und die deutsche Kultur verändert ist.
Die Heimkehr ist für manche Aussiedler schmerzhaft, weil die Einheimischen oft sehr
reserviert sind und die Aussiedler nicht akzeptieren. Die Aussiedler leiden unter
Feindlichkeit, die im wesentlichen eine Art Ausländerfeindlichkeit ist, weil viele
Deutsche sie für Russen und sowieso nicht Deutsche halten. Das Problem liegt darin: sie
werden nicht als Russen oder Kasachen akzeptiert und fühlen sich sowieso nicht als
Russen, obwohl, wenn sie nach Deutschland umzögen, sie als Russen gälten. Es scheint,
daß die Aussiedler bloß keine Heimat haben. Die Aussiedler bekommen sechs Monate
Überbrückungshilfe, was zur Folge hat, daß manche Deutschen ein Ressentiment gegen die
Aussiedler haben. Es wird oft behauptet, daß Aussiedler soviel Geld bei ihrer
Eingliederung bekämen, daß sie sofort ein Haus bauen und einen Mercedes kaufen könnten.
Arbeitsplätze sind auch ein Grund für Sorge, weil viele glauben, daß die Aussiedler ihr
ihre Arbeitsplätze wegnehmen.
Wenn die Aussiedler nach Deutschland kommen, müssen sie im Übergangsheim wohnen bis sie
es leisten können (normalerweise ungefähr nach einem Jahr), umzuziehen. Im
Übergangsheim wohnen sie bei anderen Aussiedlerfamilien und müssen wenig Platz und die
Kochgelegenheit mit den anderen teilen.
Ein Teil der einheimischen Bevölkerung hat Vorbehalte gegenüber Aussiedlern, denn manche
Bundesbürger haben Schwierigkeiten, um die Aussiedler als "Deutsche" zu
akzeptieren, vor allem wegen ihrer Sprachprobleme. Sie werden also als "Russen"
oder "Polen" bezeichnet oder beschimpft, das heißt, daß die Vorurteile gegen
Flüchtlinge und andere Ausländer auch Aussiedler betreffen. Meinungen wie:
"Aussiedler nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg", und "unser Land kann die
vielen Menschen nicht verkraften", stammen aus Nichtwissen und wirtschaftlichen
Problemen wie der hohen Zahl der Arbeitslosen.
Der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine hat auch solche unwissenden Ansichten gegenüber
Aussiedlern geäußert. Lafontaine behauptet, daß der jährliche Zuzug der Einwanderung
deutsch-stämmiger Immigranten aus Osteuropa verantwortungslos sei "angesichts der
hohen Arbeitslosigkeit und des Wohnungsmangels". Er meint, daß die Aussiedler direkt
in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung einwandern. Diese Einstellung zu Aussiedlern
mutet für einen sozialistischen Politiker ziemlich erstaunlich an.
Eine andere Folge der Ausländerfeindlichkeit ist der Glaube, daß die aus Rußland
stämmigen Aussiedler verantwortlich sind für die Gründung der russischen Mafia und
einen organisierten Straßenstrich. Leider sind die Aussiedler in Deutschland, wie in
ihren Herkunftsländern, zu Opfern der Fremdenfeindlichkeit geworden.
Textübernahme aus dem Internet im April 2000
|