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Prof. Dr. med. Hans Hermann Marx
Behandlungsfehler: Worauf Ärzte achten müssen
Der folgende Beitrag befaßt sich mit den Grundlagen der Behandlung und stellt mögliche Konsequenzen ärztlicher Fehlleistungen aus neuerer Sicht dar.
Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach zwei
Gynäkologen eines Behandlungsfehlers für schuldig befunden wurden, weil in einem Fall eine unerwünschte Schwangerschaft trotz Samenleiterunterbrechung, im anderen Fall ein
behindertes Kind zur Welt gekommen war, sind die rechtlichen Aspekte des ärztlichen Handelns wieder stärker in die Diskussion geraten. Die Verfassungsrichter sahen in den
beiden beschriebenen Fällen einen Sachschaden. Fernsehmagazine berichten von angeblichem "Ärztepfusch".
Rechtliche Grundlagen
Jede ärztliche Handlung und Behandlung unterliegt einem für beide Seiten verbindlichen privatrechtlichen Behandlungsvertrag, auch wenn dieser nicht als solcher formuliert oder
schriftlich fixiert wird. Dieser Vertrag tritt mit dem erstmaligen ärztlichen Gespräch und dem Austausch persönlicher Informationen und Daten in Kraft, er ist von beiden Seiten
jederzeit kündbar. Im Gegensatz zu der Vereinbarung mit einem Handwerker oder Lieferanten beruht die Vereinbarung jedoch nicht auf einer Erfolgsgarantie. Während jeder Bürger zum
Beispiel sein Rundfunkgerät mit garantiert einwandfreier Funktion von einer Reparatur zurücknimmt, im Zweifelsfall aber bei berechtigter Reklamation eine Bezahlung verweigert,
kann der Patient nicht von einer Erfolgsgarantie für die gewünschte Behandlung seiner Erkrankung oder Befindlichkeitsstörung ausgehen.
In welcher Form, mit welchem Ziel und in welchen Zeiträumen eine Behandlung verlaufen soll, welche diagnostischen Voraussetzungen zuvor erfüllt werden müssen, bedarf der
Vereinbarung im Einzelfall. Hier sind manche Patienten nicht genügend darüber informiert, daß sie durchaus ein Mitspracherecht haben, insbesondere im Hinblick auf eine
Begrenzung wünschenswerter diagnostischer Maßnahmen, die manchmal nicht nur belastend, sondern nicht selten auch mit Risiko behaftet sind. Andererseits steht dem Patienten bis
heute noch nicht das Recht zu, im Einzelfall darüber zu entscheiden, was alles an diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ausgeführt wird. Hier sind nicht nur
technische und ethische, sondern auch materielle Grenzen gesetzt, auch wenn die Krankenkassen heute aufgrund der derzeitigen Gesetzgebung sogar für Behandlungsmethoden
aufkommen, die in den Bereich paramedizinischer Verfahren einzuordnen sind, zum Beispiel Homöopathie und anthroposophische Medizin.
Jeder körperliche Eingriff, also auch eine Venenpunktion oder ein
operativer Eingriff, bedeutet im rechtlichen Sinn eine Körperverletzung. Rechtmäßig und damit straffrei ist ein solcher Eingriff, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
- begründete Indikation;
- Sachgerechte, sorgfältige, schonende Ausführung des Eingriffs;
- umfassende, sachgemäße Aufklärung des Patienten;
- Einwilligung des Patienten.
Hervorzuheben ist, daß die Aufklärung des Patienten nur dann fachgerecht
und umfassend ist, wenn in diesem Gespräch, das nicht unter Zeitdruck und zum Beispiel
auch nicht erst unmittelbar vor einem operativen Eingriff erfolgen kann, auch auf
anderweitige diagnostische oder therapeutische Verfahren hingewiesen wird, die noch in
Frage kommen, sei es, daß sie weniger oder mehr für den Patienten an Belastung nach sich
ziehen würden. Dabei ist selbstverständliche Voraussetzung für die fachgerechte
Aufklärung, daß der Therapeut die hierfür notwendige Qualifikation, umfangreiche
Erfahrung mit den geplanten Eingriffen und wissenschaftliche Kenntnisse über Grundlagen
und Folgen der Maßnahmen besitzt.
In besonderen Fällen, vor allem bei einem Unfallgeschehen, bei Bewußtlosigkeit und
Abwesenheit von Angehörigen, kann eine "Geschäftsführung ohne Auftrag" in
Kraft treten, wenn Gefahr im Verzug und eine entsprechende vertragliche Vereinbarung nicht
möglich ist.
Strafrechtliche Bewertung
Verläuft eine diagnostische oder therapeutische Maßnahme nicht nach der Regel, führt
sie zu einer sofortigen oder späteren Schädigung des Patienten, so muß ein
Behandlungsfehler festgestellt werden. Dabei handelt es sich stets um ein
"Antragsdelikt". Falls tatsächlich ein schuldhaftes Verhalten des Therapeuten
vorliegt, wird es sich in der Regel um eine Fahrlässigkeit handeln, die nach § 230 StGB
strafrechtlich verfolgt werden kann. Dabei unterliegen einer strafrechtlichen Würdigung
allerdings nicht nur operative oder diagnostische Eingriffe, sondern auch ein
Fehlverhalten durch Unterlassung geeigneter und notwendiger Maßnahmen. Hat der Therapeut
also beispielsweise eine Krebserkrankung wegen mangelhafter Diagnostik nicht erkannt oder
nicht nach den Erfahrungsgrundsätzen der Schulmedizin fachgerecht, rechtzeitig und
ausreichend behandelt, so kann ein Therapeut, der sich auf eine nicht anerkannte,
unwirksame, manchmal sogar besonders aufwendige und kostspielige Behandlung stützte,
strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Dies ist vor allem dann realistisch, wenn
der Therapeut es bewußt unterlassen hat, den Patienten über die Möglichkeiten von
Behandlungen aufzuklären, die er selbst nicht praktiziert.
Einer speziellen Wertung obliegt die Frage, ob und inwieweit sich auch Mitarbeiter des
behandelnden Arztes schuldig machen können, die mit der Ausführung diagnostischer oder
therapeutischer Maßnahmen beauftragt wurden. Im Rahmen des Krankenhauses wird für solche
Behandlungsfehler im allgemeinen der Krankenhausträger, in der Praxis eines
niedergelassenen Arztes dieser haftbar zu machen sein. Daß jeder Arzt deshalb in bezug
auf seine Haftpflicht ausreichend versichert sein muß, ist heute eine
Selbstverständlichkeit.
Wird vom Patienten oder seiner lnteressenvertretung ein Behandlungsfehler vermutet und
angezeigt, so ist es zweckmäßig, zunächst die bei den Landesärztekammern gebildeten
Gutachterkommissionen einzuschalten, die Wesentliches zur Aufklärung von Zweifelsfällen
beitragen und unter Umständen ein Gerichtsverfahren überflüssig machen können. Diese
Kommissionen haben sich bewährt, sie treten allerdings nur dann in die Verhandlungen ein,
wenn es noch nicht zu einem Gerichtsverfahren gekommen ist. Die Kommission kann auch einen
Gutachter benennen, dessen Tätigkeit zur beidseitigen Kostenersparnis beiträgt. Zur
Beantwortung der Frage, ob im speziellen Fall tatsächlich ein ärztlicher
Behandlungsfehler vorliegt, ist folgendes zu klären:
Ist die Behandlung nach allgemeinen Erfahrungen, also fachgerecht,
ausgeführt worden, war der eingetretene Verlauf voraussehbar, war die angewandte Methodik
der Regel entsprechend?
Wer war an den Maßnahmen beteiligt, war die Überwachung des Patienten
gewährleistet, wurden die unmittelbaren Folgen des Eingriffs fachkundig gewertet?
Wurde der Ablauf der Maßnahmen lückenlos dokumentiert, liegen alle
notwendigen Befunde und Aufzeichnungen vor?
War der Patient adäquat aufgeklärt, wußte er auch von anderweitig
möglichen Maßnahmen oder von Spezialisten und Einrichtungen, die dem gegebenen Ziel
anders hätten gerecht werden können?
Kann ein kausaler Zusammenhang zwischen ärztlichem Eingriff und
nachfolgendem Behandlungsschaden "mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit" nachgewiesen werden?
Die Kausalitätsfrage ist schwierig und oft nicht ganz eindeutig zu
beantworten, wenn ein größeres Zeitintervall zwischen angeschuldigtem Ereignis und
nachfolgendem körperlichen Schaden besteht, manchmal Jahre. Diese Schwierigkeit besteht
auch bei Gesundheitsschädigungen, die durch sehr unterschiedliche Einflüsse ausgelöst
werden können.
Kommt es nicht zu einer gütlichen Verständigung zwischen Patient und Therapeut, wird
meist ein Fachgutachten zu erstellen sein. Diese Aufgabe stellt eine besondere
Verantwortung für den als Gutachter beauftragten Arzt dar, der fachgerecht, unabhängig,
wissenschaftlich begründet, gegenstandsbezogen und zeitgerecht sein Urteil schriftlich
niederlegen muß. Dabei ist die Auswahl des Gutachters, die im allgemeinen vom Gericht
getroffen wird, vom Patienten aber beeinflußt werden kann, von erheblicher Bedeutung.
Für das Gericht gilt als allgemeine Regel, daß der Kläger beweispflichtig ist. Heute
sind die Gerichte allerdings bemüht, für beide Parteien eine Art
"Waffengleichheit" herbeizuführen, woraus in Einzelfällen eine Umkehr der
Beweislast folgt. In solchen Fällen muß nicht mehr der Patient den Behandlungsfehler
seines Arztes, sondern der Arzt nachweisen, daß er nicht fahrlässig und entgegen der
Sorgfaltspflicht gehandelt hat.
Zivilrechtliche Bewertung
Hierbei handelt es sich nicht um eine Bestrafung, sondern um einen Schadensersatz, der
fällig wird, wenn über die Kausalitätsfrage eindeutig entschieden wurde. Dauer, Verlauf
und Ergebnis eines solchen Verfahrens hängen unter anderem davon ab, ob der Therapeut
sich gesprächsbereit und verständnisvoll gezeigt hat, auch das Verhalten der
Haftpflichtversicherung ist hier von wesentlicher Bedeutung. Immer wieder wird darüber
geklagt, daß manche Haftpflichtversicherungen die Verfahren bewußt lange hinauszögern
und den Beschädigten damit materielle und zeitliche Verluste zufügen. Ob
"Patientenschutzverbände" oder "Patientenanwälte" grundsätzlich
geeignet sind, diese Schwierigkeiten zu mindern, oder ob hier sogar ein erheblich
größerer Aufwand an Zeit und Geld resultiert, bleibt Ansichts- und Erfahrungssache.
Wenn der Therapeut zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt wird, so hat dies eine
Art "Genugtuungsfunktion", womit Schmerzen, auch seelischer Art, und allgemeine
Beeinträchtigungen der Lebensqualität ausgeglichen werden sollen. Hingewiesen sei noch
darauf, daß der Anspruch auf Schmerzensgeld seit 1990 vererbbar, also auch für die
Angehörigen verfügbar geworden ist.
Sollten Haftpflichtprozesse nach Zahl und Umfang zunehmen, so besteht die Gefahr, daß
manche Ärzte zu einer "Defensivmedizin" übergehen. Aber wenn es zutrifft, daß
bei uns die moderne Medizin heute reglementiert, stranguliert, budgetiert, einseitig
juristifiziert und immer öfter durch obskure Methoden mißbraucht wird, um bestimmten
Dogmen und Ideologien zum Durchbruch zu verhelfen, so entfernt sich die Ärzteschaft immer
weiter von einem Berufsbild, das als "ärztliche Kunst" mit wissenschaftlicher
Verantwortung und Redlichkeit definiert war, und dies muß geschützt werden.
Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1999; 96: A-1825-1826 [Heft 27]
Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Hans Hermann
Marx, Florentiner Straße 20/6050, 70619 Stuttgart
Der Artikel von Prof. Dr. med. Hans Hermann Marx - Behandlungsfehler: Worauf Ärzte
achten müssen - wird mit freundlicher Genehmigung des Verfassers (vom 12.7.1999) und
des Deutschen Ärzteblattes (vom 9.7.1999) vorgestellt.
Werner Schell (07/99)
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