www.wernerschell.de
Pflege - Patientenrecht
& Gesundheitswesen

www.wernerschell.de

Aktuelles

Forum (Beiträge ab 2021)
Archiviertes Forum

Rechtsalmanach

Pflege

Patientenrecht
Sozialmedizin - Telemedizin
Publikationen
Links
Datenschutz
Impressum

Pro Pflege-Selbsthilfenetzwerk

>> Aktivitäten im Überblick! <<

Besuchen Sie uns auf Facebook

National Academy of Sciences, Institute of Medicine:
Mindestens 44.000 Tote wegen medizinischer Fehlbehandlungen pro Jahr in den USA - wieviele in Deutschland?

Ende November 1999 erschienen der über 200 Seiten starke Bericht einer 19-köpfigen Kommission des amerikanischen Institute of Medicine an der National Academy of Sciences unter Vorsitz von William C. Robinson, Präsident der W K Kellogg Foundation. Quintessenz: Pro Jahr fallen zwischen 44.000 und 98.000 Amerikaner medizinischen (Fehl-)Behandlungen zum Opfer - mehr Tote als bei AIDS oder durch Unfälle. "Diese erschreckend hohe Rate medizinischer Behandlungsfehler", so Robinson, "die Tod, dauerhafte Behinderung und unnötiges Leiden verursacht, ist schlicht inakzeptabel für ein System, das allem voran verspricht, zumindest nicht zu schaden."
Dr. Thomas Ruprecht, Mitglied des erweiterten VDÄÄ-Vorstands, dazu: "Leider gibt es hierzulande keine vergleichbare Untersuchung. Wir haben jedoch keinen Grund anzunehmen, dass die Situation in Europa bzw. bei uns deutlich besser sei. Auf Deutschland hochgerechnet bedeutete dies zwischen 17.600 und 39.200 Tote pro Jahr, davon ca. 1700 aufgrund unerwünschter Arzneimittel(neben)wirkungen."

Das Institute of Medicine schlägt interessanterweise vor, ein "Federal Center for Patient Safety" mit einem Jahresetat von 100 Mio. Dollar einzurichten - gerade mal 1% der geschätzten 8,8 Milliarden Dollar, die vermeidbare Medizinschäden in den USA pro Jahr an Kosten verursachen. Präsident Clinton hat seine Unterstützung zugsagt und prüft derzeit, welche Möglichkeiten es für eine Realisierung gibt.
Von derlei Initiativen kann man in Deutschland bisher nur träumen. Immerhin gibt es jedoch auch bei uns ernstzunehmende Ansätze, sich des Themas anzunehmen. So hat der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) als erster ärztlicher Berufsverband auf seiner diesjährigen Jahreshauptversammlung gemeinsam mit Patientenvertreterinnen und -vertretern getagt. Eingeladen war neben den Notgemeinschaften Medizingeschädigter auch die Bundesarbeitsgemeinschaft PatientInnenstellen, ein bundesweiter Zusammenschluß unabhängiger Patientenberatungsstellen. Die Arbeitsgruppe zum Thema "Patientenrechte, Patientenschutz" stellte fest, dass seit dem Regierungswechsel in Bonn erfreulicherweise einiges in Sachen Stärkung des Patienten in Bewegung geraten ist. Dazu gehört die im Juni einstimmig verabschiedete Patientencharta der Gesundheitsministerkonferenz zum Thema "Patientenrechte in Deutschland" und das ihr zugrundeliegende umfassende rechtswissenschaftliche Gutachten der Universität Bremen (Francke/Hart) ebenso wie die inzwischen beim Bundesgesundheitsministerium eingesetzte Arbeitsgruppe zur Vorbereitung eines Patientenschutzgesetzes.

In der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in der Politik wurde allerdings bisher nicht auf den Zusammenhang von Patientenschutz, der Sicherheit der medizinischen Qualität mit Maßnahmen der Qualitätssicherung und der Strukturen im Gesundheitswesen hingewiesen. Mit Zunahme des Arbeitsdrucks, mit Dominanz ökonomischer Gesichtspunkte in den Krankenhäusern und den Arztpraxen, mit Intensivierung der Arbeit, Überschreitung von Arbeitszeiten, mit Einstellung weniger qualifizierten Personals und durch Fehlen von Qualitätssicherungsmaßnnahmen sind Risiken einer Fehlbehandlung erhöht! Sowohl den Patientenschutzverbänden als auch dem VDÄÄ ist der Hinweis auf den Zusammenhang von Arbeitsbedingungen, Inhalten der Medizin und Patientensicherheit wichtig. Dieser Aspekt ist in dem Gesetzentwurf leider nicht angesprochen.

Der weitaus schwierigste Teil der Arbeit liegt jedoch noch vor allen Beteiligten. VDÄÄ und Patientenvertreter stellen dazu fest:

1. Stichwort: Erfassung von Behandlungsfehlern, "Institut für Patientensicherheit" in Deutschland
Momentan verfügen nur die Haftpflichtversicherer über genaue Daten zur Schadenshäufigkeit, Schwere des Schadens und der Schadensentwicklung. Auch diese Bestände geben - da unternehmensbezogen - kein umfassendes Bild über die Gesamtsituation in der Bundesrepublik. Weder eine Nutzung zur Fehlerprävention im Rahmen des Qualitätsmanagements noch eine (annähernde) Abschätzung oder Berechnung der Fehlerkosten sind derzeit möglich.
Darüber hinaus fehlt eine unabhängige Anlaufstelle für die Meldung von Schadensfällen bzw. explizite Regelungen zum Quellenschutz; die vorhandenen Stellen bei den Ärztekammern wollen/können meist nur handeln, wenn der Meldende auch dem Beklagten gegenüber seine Identität preisgibt, damit jedoch Gefahr läuft, massive Nachteile für seine berufliche und persönliche Situation in Kauf nehmen zu müssen. Das u.a. aus den großen Serienschadensfällen in Hamburg bekannte Schweigekartell im Umfeld der Schädiger kann so nicht durchbrochen werden.
Analog dem Vorschlag des Institute of Medicine wäre auch in Deutschland die Schaffung eines zentralen, unabhängigen "Instituts für Patientensicherheit" dringend geboten, ebenso wie gesetzliche Regelungen zur Verpflichtung der Versicherer, ihre Schadensdaten in anonymisierter Form weiterzugeben, z.B. an ein solches Institut und/oder an das Statistische Bundesamt.

2. Stichwort: Paradigmenwechsel in der Medizin
In den letzten Jahren hat ein Paradigmenwechsel in der Medizin stattgefunden. Liegedauerverkürzung, Dominanz von Ansprüchen auf Einhaltung von Budgets mit Möglichkeit zur Sanktionierung innerhalb der Krankenhäuser, aber auch der niedergelassenen Praxen bestimmen zunehmend die Arbeit. Einsparung beim Personal, Stellenplanprobleme, Zunahme der invasiven Diagnostik und sozialer Probleme der Patientinnen und Patienten führen zu einer Arbeitsintensivierung und Erhöhung des Drucks, die das Entstehen von Fehlbehandlungen fördern. Dabei drohen Aspekte der Humanität in der ärztlichen Behandlung verloren zu gehen. Zusätzlich fehlt es nach wie vor an strukturellen Voraussetzungen zur Kontinuität von Aspekten der Qualitätssicherung von der ärztlichen Ausbildung, der Weiterbildung, aber auch der kontinuierlichen Fortbildung. Hierzu sind erst erste Schritte durch die Ärztekammern eingeleitet worden.

3. Stichwort Gutachten
Gutachten sind leider oft von geringer Qualität, zahlreiche Sachverständigengutachten einfach falsch (vgl. dazu u.a. den SPIEGEL 23/1999). Für Medizingeschädigte ganz besonders problematisch sind folgende Punkte:

  • Fehlen allgemeingültiger Richt- oder Leitlinien für die Gutachtenerstellung,
  • Fehlen jeglicher Qualitätssicherung für Gutachten,
  • mangelnde Unabhängigkeit vieler Gutachter,
  • Voreingenommenheit der Gutachter bzw. ihr Festhalten an einem gegen den Patienten gerichteten, ständischen Verständnis von "Kollegialität",
  • überteuerte Gefälligkeitsgutachten zugunsten von Patienten, die jedoch vor Gericht nicht standhalten,
  • Gutachtenerstellung nach Aktenlage ohne Anhörung und Untersuchung des Patienten,
  • mangelnde Hilfsangebote für geschädigte Patienten, unabhängige Gutachter/innen zu finden,
  • mangelnde Bereitschaft der Justiz, Gutachten wenigstens auf Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen.

Die Arbeitsgruppe schlug vor,

  • finanziell unabhängige, öffentlich-rechtlich verfasste und niemandem weisungsgebundene Gutachterstellen für die Vergabe und/oder Erstellung von Gutachten zu schaffen, vergleichbar den Technischen Überwachungsvereinen in der Industrie. Die bestehenden Angebote der Landesärztekammern bzw. deren Schlichtungsstellen sind weder unabhängig noch transparent und werden für nicht ausreichend gehalten.
  • Um Voreingenommenheiten weitestgehend zu vermeiden, sollte umgehend gewährleistet werden, dass Akten und Unterlagen, mit denen Gutachter arbeiten, anonymisiert sind, so dass der Gutachter nicht wissen kann, welcher Arzt oder welche Klinik behandelt hat.
  • Gutachter sollten schriftlich eine eidesstattliche Versicherung abgeben müssen, ob sie im jeweiligen Fall befangen sind.
  • Für Gutachter sollte eine Zertifizierungspflicht eingeführt werden, die nicht nur regelmäßige Fortbildung und Nachschulung, sondern auch die turnusmäßige Re-Zertifizierung einschliesst, eine in der Wirtschaft längst selbstverständliche Praxis.

4. Stichwort: Verjährungsfrist für Schmerzensgeldansprüche
Problematisch ist die derzeit nur 3-jährige Verjährungsfrist für Schmerzensgeld bei medizinischen Schadensfällen. Oft werden Schäden erst relativ spät bemerkt, ebenso der ursächliche Zusammenhang zu einem medizinischen Eingriff. Zudem brauchen Geschädigte oft längere Zeit, um sich als Geschädigte zu verstehen bzw. den Entschluß zu fassen, etwas zu unternehmen. Ein Patientenschutzgesetz sollte daher die Schmerzensgeld-Verjährungsfrist deutlich verlängern. Ideal wäre eine Angleichung an die bereits bestehende Frist von 30 Jahren für zivilrechtliche Ansprüche allgemein. Zu forden sind darüber hinaus die Einführung einer verschuldensunabhängigen Schadenregulierung durch die Haftpflichtversicherer der Leistungserbringer nach (erfolgreichem) skandinavischem Vorbild, ebenso wie Beweislasterleichterungen und in bestimmten Fällen auch eine vollständige Beweislastumkehr (z.B. bei Dokumentationsmängeln, nachträglich geänderten oder gefälschten Behandlungsdokumentationen oder unzumutbaren Verzögerungen der Einsichtnahme in die Krankenakten).
VDÄÄ und die Patientenvertreter beschlossen, künftig enger zusammenzuarbeiten. Dr. Ruprecht: "Der Kommission des NIH ist vorbehaltlos zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass eines der größten Probleme im Zusammenhang mit Medizinschäden das gängige "blaming of individuals", also die Personalisierung des Problems nach dem Sündenbockprinzip ist. Leider wird dies durch das Haftungs-recht und die Abwesenheit verschuldensunabhängiger Entschädigungsregelungen bei Medizinschäden noch erheblich befördert. Ärztinnen und Ärzte sind jedoch auch nur Menschen und machen Fehler. Darüber muß offen gesprochen werden können, ganz besonders vor dem Hintergrund organisationswissenschaftlicher Erkenntnisse, dass 60-80% aller Fehlleistungen nicht "menschliches Versagen" darstellen, sondern systembedingt sind.
"Don't change the people - change the system" lautet daher eine Aufforderung von Donald Berwick, Leiter des renommierten Institute for Health Care Improvement in Boston.
"Nicht schaden" - "nil nocere" ist die Quintessenz des hippokratischen Eides - von Wirtschaftlichkeit ganz zu schweigen. Um dies zu gewährleisten, unnötiges Leid zu verhindern und Kosten zu sparen, ist ein Kulturwandel fällig. Im Gegensatz zur Bundesärztekammer und anderen berufsständischen Organisationen, die in paternalistischen Verhaltensmustern verharren, sich bei dieser Thematik schnell angegriffen fühlen und erhebliche Berührungsängste zeigen, ist es nach Auffassung des VDÄÄ gerade Aufgabe der Ärzte, hier Tabus zu brechen, um wirksame Fehlerprävention systematisch in die Versorgung einbauen und leisten zu können.

Gemeinsame Presseerklärung vom 8. Feburar 2000

Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, Kurfürstenstraße 18, 60486 Frankfurt. Tel. 069/77966; Fax: 069/7073967

Winfried Beck Vorsitzender, Thomas Ruprecht Mitglied des erweiterten Vorstandes Tel. 040-22759570

Notgemeinschaft Medizingeschädigter Baden-Württemberg e.V.
Schillerstraße 23, 88239 Wangen/Allgäu, Tel. 07522-4255, Fax 07522-3139
Josef Roth (1. Vorsitzender)

Notgemeinschaft Medizingeschädigter Bayern e.V.
Am Vogelherd 2, 91058 Erlangen, Tel. 06131-602426, Fax 09131-602484
Ursula Grille

Notgemeinschaft Medizingeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V.
Bürgerhause Zons, Schloßstraße 37, 41541 Dormagen, Tel. 02133-46753, Fax 02133-4675
Gisela Bartz

Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAG)
c/o Gesundheitsladen München e.V., Auenstr. 31, 80469 München, Tel.: 089/772565, Fax: 089/7250474
Peter Friemelt

Quellenangabe: http://bob.nap.edu/html/to_err_is_human/ auch: BMJ: VOL 319, 11.12.1999, S. 1519 (http://www.bmj.com/cgi/content/full/319/7224/1519)

Werner Schell (9.6.2000)