Der Weltärztebund will die Rechte von Kindern stärken
Der Weltärztebund, ein Zusammenschluß von 72 nationalen
Ärzteorganisationen, will die Rechte von Kindern und Jugendlichen in der medizinischen
Versorgung stärken. Auf der 50. Generalversammlung der Organisation im kanadischen Ottawa
(14. bis 18. Oktober 1998) wandten sich die Ärzte dagegen, den Umfang medizinischer
Versorgung von Alter, Geschlecht, Religion, Abstammung oder sozialer Herkunft abhängig zu
machen. Ärzte und andere Einrichtungen des Gesundheitssystems müßten das
"naturgegebene Recht" des Kindes auf Zugang zu medizinischer Versorgung,
Prävention und Rehabilitation sichern.
In der »Deklaration von Ottawa zu den Rechten des Kindes auf gesundheitliche Versorgung«
wird festgestellt, daß Kinder nicht Objekte medizinischen Handelns sind, sondern daß
ihre Wünsche und ihr Willen entsprechend dem Alter und Reifegrad berücksichtigt werden
sollten: "Das nach ärztlichem Urteil entscheidungsfähige Kind hat das Recht, die
Entscheidungen über seine gesundheitliche Versorgung selbst zu treffen", heißt es
in der Deklaration. Auch das Recht des Kindes auf Schutz seiner Privatsphäre müsse
gewahrt bleiben. Die während einer Konsultation oder Beratung erhaltenen Informationen
sollten Ärzte nicht ohne Zustimmung des Kindes an die Eltern oder gesetzlichen Vertreter
weitergeben. "Ein krankes Kind sollte immer mit Feingefühl und Verständnis
behandelt und seine Würde und Privatsphäre sollte jederzeit respektiert werden",
forderte der Weltärztebund.
Nachfolgend der Text der Deklaration (Quelle: Bundesärztekammer):
Deklaration des Weltärztebundes von Ottawa zu den Rechten des
Kindes auf gesundheitliche Versorgung,
verabschiedet von der 50. Generalversammlung des Weltärztebundes Ottawa, Kanada, Oktober
1998
PRÄAMBEL
§ 1
Die gesundheitliche Versorgung eines Kindes, ob im Krankenhaus oder zu Hause, beinhaltet
medizinische, emotionale, soziale und finanzielle Besonderheiten, die den Heilungsprozeß
beeinflussen und die es erforderlich machen, den Rechten des Kindes als Patient besondere
Beachtung zu schenken.
§ 2
In Artikel 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom
20. November 1989 erkennen die Vertragsstaaten das Recht des Kindes auf das erreichbare
Höchstmaß an Gesundheit an sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung
von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Die Vertragsstaaten bemühen
sich sicherzustellen, daß keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen
Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.
§ 3
Die vorliegende Deklaration definiert den Terminus "Kind" zeitlich von der
Geburt des Kindes bis zur Vollendung des siebzehnten Lebensjahres, es sei denn, daß nach
geltendem Recht des betreffenden Landes für die Mündigkeit von Kindern ein anderes Alter
festgelegt ist.
ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE
§ 4
Jedes Kind hat ein naturgegebenes Recht auf Leben sowie das Recht auf Zugang zu den
geeigneten Einrichtungen zur Gesundheitsförderung, Prävention und Behandlung von
Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Ärzte und andere Leistungserbringer
des Gesundheitswesens haben eine Verpflichtung, diese Rechte anzuerkennen und zu
unterstützen und sich mit Nachdruck für die Bereitstellung der medizinischen Ausrüstung
und der Humanressourcen zur Verteidigung und Durchsetzung dieser Rechte einzusetzen.
Insbesondere sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um:
1) das Überleben und die Entwicklung des Kindes bestmöglich zu schützen
und anzuerkennen, daß die Eltern (oder die gesetzlichen Vertreter) die Hauptverantwortung
für die Entwicklung des Kindes tragen und beide Elternteile in dieser Hinsicht eine
gemeinsame Verantwortung haben;
2) zu gewährleisten, daß die bestmögliche Wahrnehmung der Interessen des Kindes die
wichtigste Aufgabe in der Gesundheitsversorgung sein muß;
3) bei der ärztlichen Behandlung und medizinischen Versorgung eines Kindes jegliche Art
von Diskriminierung in bezug auf Alter, Geschlecht, Behinderung, Konfession, ethnische
Herkunft, Nationalität, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Neigung oder soziale
Stellung des Kindes oder seiner Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter auszuschließen;
4) für eine angemessene prä- und postnatale medizinische Versorgung der Mutter und ihres
Kindes zu sorgen;
5) dafür Sorge zu tragen, daß jedes Kind eine adäquate ärztliche Betreuung und
medizinische Versorgung erhält, einschließlich geeigneter Mittel zur Schmerzlinderung,
das gilt vor allem für die Primärversorgung und für die psychiatrische Behandlung von
Kindern mit psychischen Erkrankungen sowie für die spezielle Betreuung von behinderten
Kindern;
6) das Kind vor unnötigen Diagnoseverfahren, Behandlungen und Untersuchungen zu
schützen;
7) Krankheit und Fehlernährung zu bekämpfen;
8) Gesundheitsvorsorgemaßnahmen zu entwickeln;
9) gegen Kindesmißhandlung in all ihren verschiedenen Formen rigoros vorzugehen;
10) auf für die Gesundheit des Kindes schädliche traditionelle Behandlungsverfahren zu
verzichten.
KONKRETE GRUNDSÄTZE
Qualität der Versorgung
§ 5
Das für die medizinische Betreuung eines Kindes zuständige Team hat die Kontinuität und
die Qualität der gesundheitlichen Versorgung sicherzustellen.
§ 6
Ärzte und andere mit der medizinischen Betreuung von Kindern betraute Personen müssen
über eine spezielle Ausbildung und besondere Fähigkeiten verfügen, um in geeigneter
Weise den medizinischen, physischen, emotionalen und psychologischen Bedürfnissen der
Kinder und ihrer Familien gerecht werden zu können.
§ 7
In den Fällen, wo für eine spezielle Behandlung, die nur in begrenztem Maße zur
Verfügung steht, unter mehreren Kindern eine Auswahl getroffen werden muß, haben all
diese Patienten das Recht auf ein faires Auswahlverfahren für diese Behandlung, das
allein auf medizinischen Kriterien beruhen muß und niemanden diskriminieren darf.
Freie Arztwahl
§ 8
Die Eltern bzw. die gesetzlichen Vertreter oder, wenn das Kind die erforderliche geistige
Reife besitzt, das Kind selbst, haben das Recht, den Arzt des Kindes frei zu wählen bzw.
zu wechseln; sich zu vergewissern, daß der Arzt, für den sie sich entschieden haben,
seine medizinischen und ethischen Entscheidungen frei und ohne Einmischung von außen
treffen kann; und sie haben das Recht, jederzeit die Meinung eines anderen Arztes
einzuholen.
Zustimmung und Selbstbestimmung
§ 9
Das Kind und seine Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter haben das Recht, über alle
Entscheidungen in bezug auf die gesundheitliche Versorgung des Kindes informiert und aktiv
daran beteiligt zu werden. In diesen Entscheidungsprozessen sollten die Wünsche des
Kindes berücksichtigt werden und in Abhängigkeit von der geistigen Reife des Kindes
zunehmende Bedeutung erhalten. Das nach ärztlichem Urteil entscheidungsfähige Kind hat
das Recht, die Entscheidungen über seine gesundheitliche Versorgung selbst zu treffen.
§ 10
Von einer Notsituation abgesehen (siehe § 12) muß vor Beginn jeder Diagnose oder
Therapie eines Kindes die Zustimmung nach erfolgter Aufklärung erteilt werden,
insbesondere wenn es sich um einen operativen Eingriff handelt. In der Regel wird die
Einwilligung von den Eltern oder gesetzlichen Vertretern des Kindes erteilt, jedoch
sollten zuvor auch die vom Kind geäußerten Wünsche Berücksichtigung finden. Besitzt
das Kind jedoch die erforderliche geistige Reife, so muß das Kind nach entsprechender
Aufklärung um Zustimmung gebeten werden.
§ 11
Im allgemeinen hat ein zurechnungsfähiges Kind als Patient und seine Eltern bzw.
gesetzlichen Vertreter das Recht, jedes diagnostische Verfahren oder jede Therapie
abzulehnen. Obwohl anzunehmen ist, daß die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter im
besten Interesse des Kindes handeln werden, ist dies manchmal nicht der Fall. Falls ein
Elternteil oder der gesetzliche Vertreter die Einwilligung zu einem Verfahren und/oder
einer Behandlung verweigert, ohne die die Gesundheit des Kindes ernsthaft gefährdet wäre
oder irreversiblen Schaden nehmen würde und zu denen es in der allgemein anerkannten
medizinischen Behandlung keine Alternative gibt, dann sollte der Arzt die Entscheidung
eines zuständigen Gerichtes oder einer anderen Institution herbeiführen, um dieses
Verfahren bzw. diese Behandlung durchführen zu können.
§ 12
Falls das Kind bewußtlos oder aus anderen Gründen nicht in der Lage ist, seine
Einwilligung zu geben und die Eltern oder gesetzlichen Vertreter nicht erreichbar sind,
ein medizinischer Eingriff aber dringend erforderlich ist, dann kann die Einwilligung zu
diesem Eingriff unterstellt werden, es sei denn, daß es aufgrund vorheriger, eindeutiger
Erklärung oder Überzeugung offensichtlich und ohne Zweifel ist, daß die Einwilligung zu
einem Eingriff in dieser Situation verweigert würde (vorbehaltlich der in § 7 genannten
Bedingung).
§ 13
Ein krankes Kind und seine Eltern bzw. gesetzlichen Vertreter haben das Recht, die
Mitwirkung an der Forschung oder der medizinischen Lehre abzulehnen. Diese Ablehnung darf
niemals das Arzt-Patienten-Verhältnis beeinträchtigen noch die gesundheitliche
Versorgung des Kindes gefährden oder ihm sonstige medizinische Vorteile vorenthalten, auf
die das Kind ein Anrecht hat.
Zugang zu Informationen
§ 14
Mit Ausnahme der in § 18 dargestellten Fälle haben das kranke Kind und seine Eltern oder
gesetzlichen Vertreter das Recht auf umfassende Informationen über den Gesundheitszustand
und die medizinischen Befunde des Kindes, vorausgesetzt, daß die Interessen des Kindes
dadurch nicht verletzt werden. Vertrauliche Informationen in den Krankenakten des Kindes
über eine dritte Person dürfen jedoch nicht ohne Zustimmung dieser dritten Person an das
Kind, die Eltern oder die gesetzlichen Vertreter weitergegeben werden.
§ 15
Alle Informationen müssen dem Empfänger in einer seinem kulturellen Niveau und seiner
Verständnisfähigkeit entsprechenden Weise so mitgeteilt werden, daß sie für ihn
verständlich sind. Das ist besonders wichtig bei der Information eines Kindes, das ein
Recht auf Zugang zu allgemeinen Informationen über seinen Gesundheitszustand haben
sollte.
§ 16
In Ausnahmefällen können bestimmte Informationen dem Kind, seinen Eltern oder
gesetzlichen Vertretern vorenthalten werden, wenn es triftige Gründe zu der Annahme gibt,
daß diese Informationen zu einer ernsthaften Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit
des Kindes oder der physischen oder geistigen Gesundheit einer anderen Person führen
würden.
Vertraulichkeit
§ 17
Im allgemeinen gilt die Verpflichtung von Ärzten und anderen im Gesundheitssektor
Tätigen zur vertraulichen Behandlung von identifizierbaren persönlichen und
medizinischen Informationen von Patienten (einschließlich der Informationen über den
Gesundheits- bzw. Krankheitszustand, Diagnose, Prognose und Behandlung) gleichermaßen
für Kinder wie für erwachsene Patienten.
§ 18
Jedes Kind, das aufgrund seines Reifegrades ohne seine Eltern oder gesetzlichen Vertreter
ärztlich beraten werden kann, hat das Recht auf Schutz seiner Privatsphäre und kann die
vertrauliche Behandlung seiner Aussagen verlangen. Dieses Verlangen sollte respektiert
werden und die während einer Konsultation oder Beratung erhaltenen Informationen sollten
nicht ohne Zustimmung des Kindes an die Eltern oder gesetzlichen Vertreter weitergegeben
werden, es sei denn, es liegen Umstände vor, die eine Verletzung der ärztlichen
Schweigepflicht auch bei Erwachsenen rechtfertigen. Wenn der behandelnde Arzt allen Grund
zu der Annahme hat, daß das Kind bei einer ärztlichen Beratung ohne Teilnahme seiner
Eltern nicht in der Lage ist, nach fachgerechter Aufklärung eine Entscheidung in bezug
auf die Behandlung zu treffen oder daß ohne die Anwesenheit oder Einbeziehung der Eltern
die Gesundheit des Kindes ernsthaften, eventuell sogar irreversiblen Schaden nehmen
könnte, dann kann er in Ausnahmefällen die während der Konsultation mit dem Kind allein
erhaltenen vertraulichen Informationen an die Eltern oder gesetzlichen Vertreter
weitergeben; zuvor sollte er jedoch dem Kind die Gründe für sein Handeln darlegen und
versuchen, es von der Notwendigkeit seines Handelns zu überzeugen.
Einweisung ins Krankenhaus
§ 19
Ein Kind sollte nur in ein Krankenhaus eingewiesen werden, wenn die erforderliche
medizinische Versorgung nicht zu Hause oder ambulant erfolgen kann.
§ 20
Die Umgebung eines stationär behandelten Kindes sollte seinem Alter und seinem
Gesundheitszustand entsprechend gestaltet, eingerichtet und ausgestattet sein. Ein Kind
sollte nicht zusammen mit erwachsenen Patienten in einem Zimmer untergebracht sein, mit
Ausnahme von durch den gesundheitlichen Zustand des Kindes bedingten Sonderfällen,
beispielsweise eine Entbindung oder ein Schwangerschaftsabbruch.
§ 21
Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, damit die Eltern bzw. die gesetzlichen
Vertreter bei ihrem stationär behandelten Kind sein können; falls erforderlich, sollte
ihnen im oder ganz in der Nähe des Krankenhauses kostenlos bzw. zu sehr geringen Kosten
eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus sollten
sie auch Arbeitsbefreiung in Anspruch nehmen können, ohne dabei Nachteile für ihren
Arbeitsplatz in Kauf nehmen zu müssen.
§ 22
Jedes Kind sollte soviel Besuch wie in Übereinstimmung mit den Behandlungsnotwendigkeiten
möglich empfangen und Kontakt nach außen halten dürfen, wobei das Alter der Besucher
keine Rolle spielt, ausgenommen Situationen, in denen der Arzt allen Grund zu der Annahme
hat, daß der Besuch nicht dem Wohl des Kindes dient.
§ 23
Bei der stationären Aufnahme eines Kleinkindes muß die Mutter die Möglichkeit haben,
ihr Kind zu stillen, es sei denn, eine positive medizinische Kontraindikation steht dem
entgegen.
§ 24
Ein Kind im Krankenhaus sollte immer eine seinem Alter adäquate Möglichkeit und
Gelegenheit zum Spielen und zur Erholung haben; des weiteren sollte der Schulunterricht
fortgesetzt werden, indem entweder eigens dafür geschulte Lehrer das Kind im Krankenhaus
unterrichten oder dem Kind die Möglichkeit geboten wird, an geeigneten
Fernunterrichtsprogrammen teilzunehmen.
Kindesmißhandlung
§ 25
Es müssen alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um Kinder vor allen Formen der
Vernachlässigung oder vernachlässigenden Behandlung, physischer und mentaler Gewalt,
Mißhandlung, Verletzung oder Mißbrauch einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu
schützen. In diesem Zusammenhang sei auf die Leitlinien in der Erklärung des
Weltärztebundes zur Mißhandlung und Vernachlässigung von Kindern hingewiesen.
Gesundheitserziehung
§ 26
Eltern und Kinder, letztere unter Berücksichtigung ihres Alters und Entwicklungsstandes,
sollten umfassend über die Gesundheit und die Ernährung des Kindes (insbesondere die
Vorteile des Stillens), über Hygiene, Umwelthygiene, Unfallverhütung und sexuelle und
reproduktive Gesundheitserziehung informiert und dabei unterstützt werden, diese
Kenntnisse in der Praxis anzuwenden.
Würde des Patienten
§ 27
Ein krankes Kind sollte immer mit Feingefühl und Verständnis behandelt und seine Würde
und Privatsphäre sollte jederzeit respektiert werden.
§ 28
Es sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um dem Kind Schmerzen und/oder Leiden zu
ersparen und wenn dies nicht möglich ist, diese auf ein Minimum zu reduzieren und den
physischen und emotionalen Streß des kranken Kindes zu lindern.
§ 29
Das todkranke Kind sollte die geeignete palliative Versorgung und alle zur Verfügung
stehende Hilfe erhalten, damit der Sterbevorgang so angemessen und so würdevoll wie
möglich erfolgen kann.
Religiöser Beistand
§ 30
Es sollte alles getan werden, damit das kranke Kind geistigen und moralischen Beistand
erhält; dies schließt den Beistand eines Geistlichen der Konfession seiner Wahl
ein.
Werner Schell (5/99)
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