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Koch, Klaus Placebo: Ein Mythos wird entzaubert
Scheinmedikamente haben nach einer dänischen Studie doch nicht die Kräfte, die ihnen zugeschrieben werden. Die Erwartungen an eine Therapie werden
vermutlich durch die Atmosphäre bestimmt, die ein Arzt im Gespräch erzeugt.
Mediziner sprechen nicht gerne darüber. Doch vermutlich spielt jeder Arzt täglich
einigen seiner Patienten eine kleine „Theaterszene“ vor. Wenn Patienten
nur leichtere Beschwerden haben oder der Arzt keine richtige Idee hat, was er
tun soll, versucht es mancher erst einmal mit einem „Placebo“: Er
verschreibt eine Therapie, oft ein
Medikament, mit dem er „gute Erfahrungen“ gemacht hat, und verschweigt,
dass es in Wahrheit keine Belege für eine besondere Wirksamkeit gibt. Allein
der suggerierte Glaube an die Wirkungen ist es, der dem Patienten helfen soll.
Und die Berechtigung für den kleinen Betrug leiten Ärzte aus der angeblich
wissenschaftlich belegten Kraft der Placebos ab: Im Durchschnitt reagiert
einer von drei Patienten positiv auf Placebos, lautet einer der Glaubenssätze
der Medizin; oder besser: lautete.
Denn nun sorgen zwei Dänen dafür, dass die Placebogabe vielen Ärzten nicht
mehr ganz so überzeugend gelingen dürfte. Asbjörn Hrobjartsson und Peter Götzsche
vom Nordic Cochrane Center in Kopenhagen schildern im New England Journal of
Medicine, dass die Kraft der Placebos seit Jahrzehnten offenbar massiv überschätzt
wird (2001; 344: 1594). Die Arbeit der Dänen
ist ein Beispiel, wie man durch säuberliche
Detektivarbeit eine gerne geglaubte These der Medizin als Mythos
entlarvt.
Begonnen hat das Projekt mit einer simplen Frage: Wo kommt der Glaube an die
Kraft der Placebos eigentlich her? Die verblüffende Antwort: Quelle ist ein
1955 erschienener Artikel eines US-Arztes, der schlicht schätzte, dass „35
Prozent“ der Patienten auf Placebos reagieren. Obwohl diese Schlussfolgerung
von vornherein fragwürdig war, haben Mediziner fast fünf Jahrzehnte lang
diese Zahl in einer Art „stillen Post“ voneinander abgeschrieben, aber
bislang hatte niemand wirklich systematisch die Effekte von Placebos
untersucht. Die Dänen haben sich daraufhin auf die Suche nach Studien
gemacht, in denen Placebos verwendet wurden.
Auf den ersten Blick fällt das nicht schwer, da Placebos in den letzten 50
Jahren zu einem wichtigen Werkzeug der medizinischen Forschung geworden sind
und in Tausenden von „placebo-kontrollierten“ Studien eingesetzt wurden: Während
eine Patientengruppe beispielsweise ein
neues Medikament bekommt, erhält die andere identisch aussehende Pillen, die
aber keinen Wirkstoff enthalten. Gleichzeitig erfahren weder Ärzte noch
Patienten, wer was bekommt. Auf diese Weise lässt sich durch Placebos
sicherstellen, dass sich beide Gruppen im Laufe der Studie möglichst gleich
verhalten.
Hrobjartsson und Götzsche haben unter diesen Studien 114 gefunden, an denen
noch eine dritte Gruppe von Patienten teilgenommen hat: Die hat gar keine oder
lediglich eine „übliche“ Therapie erhalten. Aus diesen Studien haben sie
dann extrahiert, wie es den mit Placebo behandelten Patienten im Vergleich zu
denen ergangen ist, die gar keine zusätzliche Therapie erhalten haben.
Das Ergebnis: Placebos hatten bei einer Reihe von Krankheiten keine messbaren
Effekte auf den Verlauf. Lediglich bei subjektiven Beschwerden wie Schmerz
ergab die Auswertung einen Hinweis, dass die Gabe einer „Zuckerpille“ die
Symptome besser linderte als gar keine Pille. Die Schlussfolgerung fällt
krass aus: „Als Forschungsinstrument in Studien seien Placebos zwar
weiterhin notwendig“, schreiben Hrobjartsson und Götzsche, „aber außerhalb
gibt es keine Rechtfertigung für den Einsatz von Placebos.“
Doch diese Konsequenz geht anderen Forschern, die sich mit der Wirkung der
Psyche auf Gesundheit auseinander setzen, zu weit. Klaus Linde, der an der TU
München komplementärmedizinische Verfahren wie Homöopathie erforscht, hat
das negative Ergebnis der Analyse überrascht. „Ich war bislang überzeugt,
dass Placebos messbare Wirkungen haben“, räumt er ein.
Dass Placebos gar keinen Effekt haben, ließe sich aus der Studie nicht
ableiten. „Wir müssen offenbar akzeptieren, dass der Effekt wesentlich schwächer
ist als bisher vermutet“, sagt Linde: „Ich halte die Arbeit für wichtig
und gut.“
Hrobjartsson und Götzsche bieten eine Erklärung an, warum Kollegen bislang
zur Überschätzung von Placebos neigen. Ärzte machen nämlich in Studien
immer wieder die Beobachtung, dass es auch den Patienten, die Placebos
erhalten, im Laufe der Studie besser geht als zu Beginn. Hrobjartsson und Götzsche
vermuten aber, dass diese Besserung schlicht durch natürliche Schwankungen im
Verlauf vieler Krankheiten bedingt ist, also nichts mit der Wirkung einer
Therapie zu tun hat.
Selbst bei unheilbaren und chronischen Krankheiten wechseln immer wieder
bessere mit schlechteren Phasen: Allergiker, Herz- und Krebskranke kennen das.
An Studien nehmen aber vor allem Patienten teil, die sich gerade schlecht fühlen.
Da ist mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass eine Reihe von selbst
in eine Phase kommt, in denen es ihnen wieder etwas besser geht.
Auch Jos Kleijnen von der Universität York geht davon aus, dass dieser
Pendel-Effekt oft unterschätzt wird. Auch
Kleijnen, der seit neun Jahren dem Placebo-Effekt nachspürt, warnt vor einer
Überinterpretation der dänischen Analyse. „Man kann daraus nicht folgern,
dass die Psyche ohne Wirkung auf den Effekt von Therapien ist“, sagt er. Die
Gefahr besteht, denn gerade die angebliche starke Wirkung von Placebos ist in
den letzten Jahren für viele zum Kronzeugen dafür geworden, dass Medizin
mehr ist als Chemie, Messwerte und Maschinen.
Tatsächlich haben die Dänen aber nur einen kleinen Teil der psychischen
Einflüsse untersucht, die die Wirkung einer Therapie verstärken oder abschwächen
können. Üblicherweise summieren Ärzte unter Placebo-Effekt alles, was nicht
durch die „spezifische Wirkung“ einer Therapie erklärt werden kann –
wenn also beispielsweise ein Inhaltsstoff
wie Acetylsalicylsäure gezielt in einen Stoffwechselvorgang eingreift.
Kleijnen plädiert jedoch dafür, vom alleine auf eine konkrete Therapie
bezogenen Placebo-Effekt ein weiteres Phänomen
abzugrenzen, das er „Kontext-Effekt“ nennt. „Damit meine ich die
Situation und die Atmosphäre, die ein
Arzt durch die Art und Weise schafft, wie er mit seinem Patienten umgeht:
Nimmt er sich Zeit? Geht er auf ihn ein?
Wie gut erklärt er die Krankheit?“, schildert Kleijnen. Diese Atmosphäre,
die ein Arzt erzeugt, bestimme Erwartungen
und Umgang des Patienten mit seiner Krankheit vermutlich stärker, als es die
Hoffnung auf die Wirkung einer Therapie tue.
Informierte Krebspatienten verspüren Schmerzlinderung
Französische Forscher haben bereits 1994 belegt, dass alleine die Beteiligung
an einer Studie die Wirkung einer Therapie verstärken kann. Sie hatten etwa
100 Krebspatienten, die unter mäßigen Schmerzen litten, in zwei Gruppen
aufgeteilt: Der einen Hälfte teilten sie mit, dass sie an einer Studie
teilnehmen sollten, in der ein
Schmerzmittel mit Placebo verglichen werden sollte, die andere Hälfte erhielt
Schmerzmittel oder Placebo ohne jeden Hinweis, dass sie Teil einer Studie
sind. Das Ergebnis war, dass die informierten Patienten die beste
Schmerzlinderung verspürten. „Bei diesen Patienten wirkte sogar ein
Placebo stärker, als es das echte Schmerzmittel bei den uninformierten
Patienten getan hatte“, schildert Linde. Für ihn ist das ein
Hinweis, welch starken Einfluss der Kontext auf die Wirkung von Therapien
haben kann – und auch auf die Wirkung von Placebos.
Eine Analyse von Kleijnen bestätigt das. Er hat im März dieses Jahres
zusammen mit Kollegen eine Sammlung von Studien veröffentlicht, die erprobt
haben, wie sich das Auftreten des Arztes auf seine Therapieerfolge auswirkt (Lancet
2001; 357: 757). ein Ergebnis war, dass
vor allem Ärzte, die emotionales Einfühlungsvermögen mit verständlicher
Information verbanden, die besseren Therapieergebnisse hatten im Vergleich zu
eher unbeteiligt und verschlossen auftretenden Kollegen. „Man muss mit
Schlussfolgerungen noch etwas vorsichtig sein, weil
Arzt-Patienten-Interaktionen erstaunlich schlecht erforscht sind“, sagt
Kleijnen, „aber es spielt sicher eine Rolle, ob ein
Arzt bei einem Patienten ein positives Gefühl
schaffen kann.“
Wenn man diese Differenzierung akzeptiere zwischen einem Placebo-Effekt, der
sich alleine auf eine bestimmte Therapie beziehe, und dem Kontext-Effekt, der
die gesamte Situation beschreibe, in der diese Therapie gegeben werde, dann
falle es auch nicht schwer, sich von der mythischen Kraft der Placebos zu
verabschieden, glaubt Kleijnen.
Klaus Koch
Quelle: Deutsches Ärzteblatt 98, Heft 34-35 vom 27.08.01, Seite A-2156 [POLITIK: Medizinreport]
Den vollständigen Bericht finden Sie hier PDF
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